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In dem ehemals kurfürstlichen, jetzt königlichen Lustschloß Monrepos, in einem mit der kalten und öden Pracht des Empire ausgestatteten Saale befindet sich eine Stickerei aus bunter Seide, die den Besuchern als Kuriosität gezeigt wird. Sie ist in einen kunstreichen bronzenen Kaminschirm eingesetzt und stellt nichts Geringeres dar als den Sieger von Austerlitz in seiner weltgeschichtlichen Pose. In der bekannten grünen Uniform mit goldenem Stern, die Arme gekreuzt, steht er in halber Lebensgröße auf dem blauen, mit goldenen Bienen besäten Seidengrund, sein Haupt von einer Gloriole aus Goldfäden, der traditionellen »Sonne von Austerlitz«, bestrahlt; zu seinen Füßen ein Bündel Trophäen, auf denen ein Adler thront. Die ans Unsichtbare streifende Feinheit der tausend und tausend Stiche und die in diesem Material fast unbegreifliche Kunst der Farbentönung geben die Illusion eines Gemäldes, und man weiß nicht, ob man sich mehr über die Geschicklichkeit oder über den Ungeschmack verwundern muß, der an Stelle bloßer ornamentaler Wirkung eine möglichste Lebensähnlichkeit angestrebt hat. Die Farben der Stickerei sind jetzt ebenso verschossen wie der seidene Grund; nur die Augen des Imperators haben den ersten Glanz behalten und starren unheimlich aus dem vergilbten Gesicht hervor, weil ihnen geschliffene Stahlperlen als Pupillen eingesetzt sind. Grell und beängstigend ist der Blick aus diesen Perlenaugen, wie aus den Augen jenes tödlichen indischen Götzen, der, im Triumph einherfahrend, freiwillige Menschenopfer vor die Räder seines Wagens zwang. – Oder erschien es so nur mir, weil ich die Geschichte kannte, die sich an dieses seltsame Kunstwerk knüpft?
Das Gedächtnis seiner Urheberin reichte durch mündliche Überlieferung bis in meine Kinderjahre herauf. Es wurde mir sogar einmal in einer Silhouettensammlung das mit dem Storchschnabel verkleinerte Profil der Stickerin gezeigt, das von der außerordentlichen Schönheit dieses Kopfes, an die sich die ganz alten Leute noch wohl erinnerten, immerhin eine Ahnung gab.
Aber dieser herrliche Kopf hatte sich wie das Fragment einer Antike in die Welt verirrt; es fehlte der schlanke, hohe Hals, auf dem er thronen sollte, und der königliche Leib, der zu einem solchen Gesicht gehört. Nicht minder fehlte ihm der Kultus, den sonst die Schönheit fordert; denn seine Trägerin war eine arme Bucklige, die sich durch ihrer Hände Arbeit ernährte.
Ihr Vater war Lehrer an der Lateinschule gewesen, ein ernster, schöner Mann, der aus einer vor Zeiten eingewanderten französischen Hugenottenfamilie stammte. Von ihm hatte sie die vornehme Profillinie, die tiefschwarzen Haare, den matten Teint und die merkwürdigen Augen mit den breiten, langbefranzten Lidern geerbt, dunkle, unergründliche Augen voll Schwermut und Leidenschaft, wie sie sonst nur im Süden heimisch sind. Von ihm hatte sie auch den hochfliegenden Sinn, den er unter anderem dadurch äußerte, daß er ihr den Namen Zenobia gab. »Denn,« sagte er dem erstaunten Pfarrer, »ein schöner Name ist die einzige Mitgift, die ich meiner Tochter geben kann.« Der Pfarrer ließ sich nach einigem Widerstand bereden, weil die Familie ohnehin etwas Ausländisches an sich hatte, dem man gewisse Schrullen nachsah, aber die guten Bekannten des Schullehrers stellten sich fast auf die Köpfe. – »Zenobia!« hieß es, »das ist ja der Name einer heidnischen Königin oder Kaiserin.« Worauf der Vater gelassen antwortete: »Der Name einer Königin und Kaiserin soll mir nicht zu gut sein für, meine Tochter.«
Mit diesem hochtrabenden Namen hatte er den ersten Grund zu ihrem Verhängnis gelegt. Sie nahm ihn für ein Zeichen, daß sie etwas Besseres sei als ihre Umgebung, und hielt sich schon als Kind von anderen Kindern fern. Ohnehin wurde sie wegen ihrer schwarzen Haare und Augen wie ein fremder Wundervogel angestaunt. Dann hatte ein tückischer Dämon ihren Wuchs gehemmt und ihre Schultern hinaufgezogen, und im Verein mit einer solchen Gestalt schien ein solcher Name die Bosheit geradezu herauszufordern. Sie aber trug ihn stolz wie eine Königskrone, in die ein Dornenkranz verflochten ist.
Der Vater hatte ihr einige Kenntnisse in der Geschichte und Literatur beigebracht, und es war sein größtes Vergnügen, wenn sie Abends zusammen bei Öllampe saßen, aus den gespreizten Voltaireschen Tragödien, die den Hauptbestandteil seiner Bibliothek bildeten, vorzulesen. Er tat es mit falschem Pathos und ebenso falscher Aussprache, denn er kannte das Französische, das er als seine eigentliche Muttersprache betrachtete, fast nur aus Büchern. Die Tochter lernte es wiederum von ihm, und die beiden unterhielten sich zusammen stets in ihrem selbstgebrauten Französisch, durch das sie sich von ihrer beschränkten, Dialekt sprechenden Umgebung absonderten und wie in einen Zauberkreis einschlossen.
Der Alte war heimlicher Voltairianer und schwärmte für die französische Republik und ihre Helden. Immer hoffte er darauf, daß eine der französischen Armeen, die während der Revolutionskriege den Rhein überschritten, die Standarte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch auf dem Boden seiner Heimat aufpflanzen würde. Aber er durfte unter dem despotischen Regiment, das auf dem Lande lag, diese Gesinnungen gegen niemand als gegen seine Tochter laut werden lassen, weil sie ihm sonst seine Stelle gekostet hätten. Die Tochter hatte zwar für seine politischen Ideale keinen Sinn, aber sie teilte seine Heldenbegeisterung und die Verachtung des sie umgebenden Spießbürgertums. Aus seinen Gesprächen und aus ihrer gemeinsamen Lektüre hatte sie sich eine Welt erschaffen, die ganz von heroischen Leidenschaften durchbraust war. In dem Vater, der jeden Morgen, sein Stöckchen in der Hand, zur Schule wanderte, sah sie trotz seiner republikanischen Gesinnungen eine Art verbannten Monarchen, der eines Tages in vollem Glanze in sein Königreich zurückkehren werde. Als er durch eine Typhusepidemie ihr ganz rasch entrissen wurde, beweinte sie ihn heiß, aber ihre großen Gedanken gingen nicht mit ihm zu Grabe. Sie wollte kein fremdes Brot essen, sondern setzte es durch, ganz allein in der verödeten Wohnung zurückzubleiben und sich durch feine Näh- und Stickarbeiten, in denen sie weit und breit ihresgleichen suchte, ihren Unterhalt zu erwerben. Ihr Ruf drang bis in die nahe kurfürstliche Sommerresidenz und trug ihr sogar Bestellungen vom Hofe ein, denn die höchsten Herrschaften ließen gern so viel wie möglich im Lande arbeiten, und ihre Umgebung ahmte ihnen darin nach.
Aber nur ihre Finger gaben sich mit solcher Fronarbeit ab, ihr Geist verkehrte währenddessen mit den großen Gestalten vergangener Zeiten. Könige und Helden beherrschten ihre Gedanken, und all die zärtliche Grausamkeit der tragischen Poesie bedrängte ihr junges Herz. Sie fühlte auch sich zu einem solchen Schicksal geboren, sie forderte es vom Himmel als ihr Recht. In der Enge ihres kleinbürgerlichen Daseins hatte sie kein Mittel, sich seiner würdig zu machen, als indem sie sich von jeder gemeinen Berührung rein erhielt. Sie ließ gerne durchfühlen, daß ihre Familie ursprünglich von Adel gewesen sei, wofür ihr jedoch außer ihrer inneren Überzeugung jeder Anhalt fehlte. Nie kam ein triviales Wort in ihren Mund. Schweigend nahm sie die Aufträge in Empfang, schweigend lieferte sie die Arbeit ab, empfing Geld und Lobsprüche höflich, aber ohne ein Wort der Erwiderung, und verabschiedete sich von den Kunden mit dem Anstand einer Prinzessin.
Sie wußte, daß sie schön war; denn einmal, noch zu Lebzeiten ihres Vaters, war ein fremder Maler in die Stadt gekommen, hatte sie am Fenster gesehen und ihren Kopf als Modell für ein großes Historienbild verlangt. Hartnäckig hatte sie's verweigert, obgleich der Fremde immer wieder kam, und vergeblich hatte ihr der Vater selber zugeredet. Aber seit der Zeit stand es in ihr fest, was sie vorher nur dunkel geahnt hatte: daß sie eine Schönheit war, und eine Schönheit, die würdig erachtet wurde, ein gekröntes Haupt aus der Geschichte vorzustellen. In der ganzen Realität ihres Daseins war dieser Kopf das einzige, was den Forderungen ihrer Seele entsprach. Aber wo war der Leib, der seiner würdig war, geblieben? Hatte ihn der Zufall in den Besitz einer anderen gebracht? Wandelte er in knisternder Seide drüben in den Lustgärten der Residenz unter den fürstlichen Gästen? Weil sie sich schämte, ohne ihn gesehen zu werden, ging sie so wenig wie möglich unter die Leute; die Arbeit mußte ihr ins Haus gebracht und ebenso bei ihr abgeholt werden. Die grünen Wiesen und die Baumblüte genoß sie jahrelang nur vom Fenster aus. Dagegen stellte sie sich gern auf ihren hölzernen Auftritt, der ihr die mangelnde Höhe ersetzte, und blickte über die Blumentöpfe nach der Straße hinaus. Freilich gähnte ihr da jahraus jahrein dasselbe schläfrige Bild entgegen: eine krumme Gasse mit holprigem Pflaster, in dem die Regenpfützen stehen blieben, der Grobschmied im Schurzfell, der nebenan seine Werkstatt hatte, die Mägde, die ihre hölzernen Eimer zum Brunnen trugen, und die zerschlampten Nachbarinnen, die unter der Haustür schwatzten. Und doch konnte sie es nicht lassen, am Fenster zu stehen und auf etwas Außerordentliches zu warten. – Einmal zog ein in den Ferien befindlicher Seminaristenschwarm durch die Straße. Die jungen Leute mußten irgendwie von Zenobia gehört haben, denn einer rief: »Das ist die Königin von Palmyra!« Und die anderen schwenkten die Mützen und stimmten ein: »Es lebe die Königin von Palmyra!« worauf Zenobia, die oben am Fenster stand, sich ernsthaft dankend verneigte.
Hatte sie sich wie eine unerkannte dienende Prinzessin durch die Woche hindurchgearbeitet, so warf sie am Sonntag die Verkleidung ab und lebte ihrer angeborenen Hoheit. Sie ließ alsdann keine Kundschaft vor sich und blieb den ganzen Tag in ihrem Zimmer eingeschlossen, wo sie den ausschweifendsten Phantasien fröhnte. Vor einem kleinen, halb blinden Spiegel flocht sie ihre langen, wunderbaren Haare auf und wand sie zu einem mit Bändern umschlungenen reichen griechischen Knoten auf dem Hinterkopf empor. In einer messingbeschlagenen Lade barg sie eine ganze Garderobe von teils geschenkten, teils aus dritter Hand erstandenen seltsamen Prunkstücken, abgelegten Fähnchen aus Brokat und Seide, die einer Theaterprinzessin würdig gewesen wären. Mit diesen behängt ging sie im Zimmer auf und nieder, daß die Falten um sie rauschten, deklamierte und sprach zu sich selber. Sie bediente sich dabei gerne der französischen Sprache, die ihr für den Ausdruck erhabener Gefühle geeigneter dünkte, besonders wenn sie eine Person aus den Voltaireschen Tragödien vorstellte. Über der Straße drüben lag dann meist der dicke Kronenwirt am Fenster, mit der Zipfelmütze auf dem Kopf und der Pfeife im Mund, und lachte sich den Buckel voll über die »scheckige Französin«, die wieder einmal ganz allein auf ihrem Zimmer »krakehlte«. Weltvergessen stand sie mitten in ihrem Stübchen, bewegte die Arme, neigte sich, beugte sich, lächelte in die Luft. Zuweilen warf sie auch einen Blick begeisterter Andacht in ihren Spiegel, der ihr das Schönste zeigte, was ihr leibliches Auge je gesehen hatte. In die hohen Schatten, die sie besuchten, ging ihre eigene Seele über. Sie wurde zur Kleopatra und fuhr im Gewande der Liebesgöttin, von Grazien und Nereiden begleitet, beim Schall der Zymbeln und Flöten den Cydnus hinauf, einem Welteroberer in die Arme. Sie ergab sich als Roxane dem glühenden Werben Alexanders und trank als Sophonisbe den Giftbecher. Nur von der Herrscherin von Palmyra, die ihr die Krone des Orients und die Ketten des römischen Triumphators brachte, wandte Zenobia sich hinweg; denn daß sie nicht als Kaiserin geendet hatte, das konnte die arme Bucklige ihrer berühmten Namensschwester nicht vergeben.
In diesen Stunden wurde ihr der schreiende Irrtum des Schicksals, der ihre Seele in ein niedriges Dasein verbannt hatte, vergütet. Sie besaß die Paläste und Gärten der Semiramis, gebot über Tausende von Sklaven, sah Könige um ihre Liebe kämpfen und hielt nur einen Weltbezwinger ihrer wert. Süß, aber wild zugleich und grausam waren ihre Träume, Blut mußte darin fließen, und von der Höhe ihres Glücks stürzte sie sich in jubelnde Selbstvernichtung, um strahlend in den Kreis der Unsterblichen einzugehen. – Freilich konnte es dann vorkommen, daß mitten in ihrer tragischen Erhebung ein grober Finger an ihre Türe pochte, und eine Stimme im breitesten Dialekt hineinrief: »Sie, Jungfer Zenobia, mach' Sie doch auf – ich soll die neuen Hemden für die Frau Revierförsterin abholen.« Oder: »Der Herr Amtmann läßt fragen, ob seine gestickte Weste noch nicht fertig sei.«
Wenn solches geschah, so machte Zenobia eine Gebärde gegen die Tür, als ob sie einen Blitz zu schleudern hätte, und hieß den Störer mit bösen Worten sich entfernen. Aber die herrlichen Gesichte waren zerronnen, und sie lag wie eine aus Wolkenhöhe Abgestürzte zerschmettert, vernichtet. Der nächste Morgen jedoch sah sie unfehlbar wieder im schlechten Kittel über ihre Arbeit gebückt, wie sie geduldig Faden um Faden zog und ihre unsichtbar feinen Stiche aneinanderreihte.
Das sonderbare Treiben der armen Person, ihre Putzsucht und ihr gewähltes Reden waren weit und breit bekannt; man nannte sie nur, »die bucklige Königin«. Biedere Bürgerseelen, die das einsame, junge Wesen erbarmte, nahmen wohl auch ab und zu einen Anlauf, ihr den Kopf zurecht zu setzen, aber Zenobia verstand es, jeder Einmischung gegenüber eine Miene anzunehmen, die niemanden zu nahe an sie heran ließ.
Ein einziger sah sie so, wie sie sich selbst erschien, das war der blasse, brustkranke Schreiber Wentzel, der unter ihr im ersten Stockwerk wohnte. Auch er war eine hochfliegende Seele im dürftigen Gehäuse; während Zenobia von Königen und Helden träumte, standen ihm die Gedanken nicht niedriger, denn er träumte von ihr.
Was sie sein wollte und was ein widriges Geschick ihr zu sein verwehrte, in seinen Augen war sie es ganz. Wenn er ihr im Flur des Hauses begegnete, so blieb er wie beim Vorüberschreiten eines gekrönten Hauptes in harrender Ehrerbietung stehen, ob sie ihn vielleicht anrede, und wenn sie sagte: »Herr Wentzel, ich möchte Sie bitten, mir etwas zu besorgen –« so verbeugte er sich wie ein Minister, der einen Kabinettsbefehl erhalten hat.
Er liebte sie seit Jahren, seit ihm in ihren Augen zum ersten Mal ein Strahl von jener höheren Welt, nach der auch er sich sehnte, aufgegangen war. Als bescheidener, aufmerksamer Hausgenosse hatte er sich dem Vater Zenobias nützlich zu machen gewußt und durch seine treue Ergebenheit sich allmählich in ein freundschaftliches Verhältnis zu den beiden sonderbaren Menschen hineingedient. Als der Alte auf den Tod daniederlag, mußte Wentzel ihm in einem lichten Augenblick versprechen, seine Tochter niemals zu verlassen, und treulich hielt er dieses Gelübde, dessen es gar nicht bedurft hätte, denn Wentzel tat nur, was sein eigenes Herz ihm vorschrieb. Er wurde Zenobias Helfer und Berater, er vermittelte den Verkehr zwischen ihr und der Außenwelt, indem er ihr Bestellungen überbrachte, die Zahlung säumiger Kunden für sie eintrieb und sie vor allen Berührungen, die sie verletzen konnten, bewahrte. Seine glücklichsten Stunden waren die, wo er ihr die Zinsen ihres kleinen Vermögens bringen konnte, das er nach ihres Vaters Tode bei einem Grossisten in Kolonialwaren, der in der Hauptstadt wohnte und sein entfernter Verwandter war, angelegt hatte. Es war ihm ein inniger Genuß, daß sie sich mit dem Gelde jene Putzstücke anschaffen konnte, die ihrem Prunksinn ein Bedürfnis waren, und er hielt darauf, ihr die Summe stets in blanken, neuen Guldenstücken zu überreichen, denn ihre Finger sollten kein schmutziges, gemeines Metall berühren.
Zenobia nahm es als selbstverständlich an, daß sie diesen einen Diener gefunden hatte an Stelle der Hunderte, auf die sie ein Recht besaß. Sie dankte ihm dadurch, daß sie sich seine Dienste gefallen ließ, und hielt ihn durch ihr Vertrauen hinlänglich belohnt. Wenn sie besonders gnädig gestimmt war, so hob sie ihn auch gelegentlich um eine Stufe höher zu sich heran, indem sie ihn auf Französisch anredete. Aber sein stilles Werben verstand sie nicht und würde es für eine ungeheuerliche Anmaßung gehalten haben. Des Abends gönnte sie ihm zuweilen auf dem Treppenabsatz die Ehre eines Plauderstündchens. Dann redeten sie zusammen von Cäsar und Antonius, oder Zenobia ließ sich durch Wentzel über die gewaltigen Weltereignisse berichten, die damals Europa erschütterten, von denen aber die Kunde nur verspätet und legendenhaft aus der Residenz herüberdrang. Ein junger General, Sohn der Viktorie, war nach märchenhaften Siegen zur höchsten Staffel des Glücks emporgestiegen und hatte sich in Paris als Kaiser krönen lassen. Diesem Manne, in dem die Herrlichkeit antiker Größe wieder auflebte, flog Zenobias ganze Seele entgegen. Sein Ruhm, seine Taten, sein unbegreifliches Glück, das alles, was die Geschichte berichtet, hinter sich ließ, berauschten ihre Einbildungskraft; Worte, die er gesprochen hatte, drangen auf Flügeln bis zu ihr und machten ihr Herz schneller schlagen. Auf der Kommode ihres Schlafzimmers stand eine Gipsstatuette Napoleons, die sie von einem hausierenden Italiener erhandelt hatte und täglich frisch bekränzte. Es konnte vorkommen, daß sie mit erhobenem Kopf und verschränkten Armen in der Pose der kleinen Statuette, ganz allein mitten im Zimmer unter den wackligen Schränken stand, die ihr in diesem Augenblick als die Pyramiden erschienen, und mit starker Stimme sagte: » Soldats, pensez, que du haut de ces monuments quarante siècles vous regardent.«
Wenn die Nachbarn zufällig am Fenster waren und die Geste sahen, deren Sinn sie nicht verstanden, so krümmten sie sich vor Lachen.
Doch ach, die räumliche Entfernung, die sie von solcher Größe trennte, war nicht geringer als die zeitliche, die zwischen ihr und ihren anderen Helden stand. Der Kaiser der Franzosen war ihr genau so fern wie Alexander oder die Triumvirn, und oft verzweifelte sie fast, daß es keine Brücke zwischen Traum und Wirklichkeit gab.
Ihre reizbare Stimmung ließ sie gern an ihrem Getreuen aus, indem sie ihm oft hart und höhnisch sagte: »Herr Wentzel, wenn ich ein Mann wäre wie Sie, so wüßte ich mir etwas Besseres, als in der Schreibstube zu sitzen.«
Und mitunter war er nahe daran, die Feder wegzuwerfen, um auf irgend einem der großen europäischen Schlachtfelder den Ruhm zu suchen, für den sie glühte, und entweder nie oder mit dem Marschallsstab zu ihr zurückzukehren. Aber dann fiel ihm Zenobias Hilflosigkeit ein und das Versprechen, das er ihrem Vater gegeben hatte, und schnell verdampfte seine Tatenlust. Er blieb und beugte sein Haupt unter den Demütigungen, die sie ihm zufügte.
Unterdessen ging die Weltgeschichte ihren dröhnenden Gang weiter: Throne wankten, und die Grenzen der Länder verschoben sich, Kleine wurden groß, und Große sanken in den Staub, – nur Zenobia saß noch immer und nähte. Ihre ungeduldige Seele sprengte fast das enge Gehäuse. Wann, wann würde es kommen, das Große, Unbeschreibliche, das auf einen Schlag ihr inneres und äußeres Leben in Einklang setzte? Wann, wann würde sie endlich sie selber werden?
Indessen waren die Fäden schon angesponnen, die auch ihr Vaterland und das kleine Städtchen, in dem sie wohnte, mit den großen Weltgeschicken verknüpfen sollten. Napoleon hatte an Österreich den Krieg erklärt und setzte mit sieben Kolonnen über den Rhein. Unerwartet brachen die Marschälle Ney und Lannes über die Grenzen und überschwemmten das neutrale Land mit ihren Truppen. Ein großer Schrecken lief ihnen voran; man hörte nur noch von Einquartierungen und gewalttätigen Requisitionen.
Zenobia saß gerade an ihrem Arbeitstisch, als Wentzel mit bleichem, verstörtem Gesicht die Treppe heraufstürmte und, ohne anzuklopfen, zur Tür hineinrief: »Sie kommen!«
Sie stieg eilig auf den Dachboden, wo sie die weite, von einem Flüßchen durchschnittene Hochebene übersah. Ein ungeheurer Anblick bot sich ihr dar! So weit das Auge reichte, war das flache Land von Kriegsvolk wie von wimmelnden Ameisenhaufen bedeckt; Tausende von Flintenläufen blitzten in der Herbstsonne. Die Waldung, die den Blick nach Westen abschloß, schien diese Massen zu gebären. Auf den beiden Heerstraßen, die unweit der Brücke zusammentrafen, wälzten sich Reiterei und Bagagewagen unter Wolken Staubes heran, während das Fußvolk in lauter einzelnen Haufen, scheinbar ohne Ordnung, doch alle einem mächtigen Zuge gehorchend, sich quer durch Wiesen und Felder ergoß. Es war das ganze Korps des Marschalls Ney, das wie eine breite Überschwemmungswoge dem unbefestigten Städtchen entgegenflutete.
Während das Gros der Truppen durchmarschierte, saßen die Väter der Stadt in permanenter Sitzung auf dem Rathaus beisammen, um für die Nachhut, die Fouragierens halber zurückblieb, Quartier zu schaffen und die Rationen für Pferde und Mannschaft aufzutreiben. Wentzel, der etwas Französisch radebrechte, mußte zwischen seinen Landsleuten und den französischen Quartiermeistern den Dolmetsch machen. Diese plötzlich erlangte Wichtigkeit benutzte er dazu, seine Freundin, ganz gegen ihren Wunsch, von der Einquartierung zu befreien, die keinem Hause in der ganzen Stadt erspart blieb. Er selber mußte jeden Winkel seiner kleinen Junggesellenwohnung den französischen Chasseurs überlassen und verbrachte die Nacht kauernd auf den Treppenstufen, um den Zugang zu Zenobias Zimmer zu bewachen. Denn auch in der Nacht dauerte die Unruhe fort; Nachzügler kamen noch in später Stunde und wollten gleichfalls verpflegt und untergebracht sein. Sie drangen mit Gewalt in die Häuser ein, bemächtigten sich der Schuppen und Ställe, und es hieß sich ducken und vorübergehen lassen, denn die Disziplin in der Großen Armee war nicht die beste, und die Herren der Welt, vom goldstrotzenden Offizier bis herab zum Gemeinen, ließen fühlen, daß sie es waren. Sie behandelten die Stadt mit ihren alten Häusern, den dürftigen Einrichtungen und den schwerfälligen Bürgern, mit denen sie sich nicht verständigen konnten, wie erobertes Barbarenland. Der Schreiber Wentzel mußte den ganzen Tag rennen, schlichten, vermitteln, und seinen Bemühungen hatte man es zu danken, daß es nicht von seiten der übermütigen, ungeduldigen Eindringlinge zu Tätlichkeiten kam. Doch zum Glück traf des andern Tages Marschorder ein, und die tumultuarischen Gäste verschwanden in der Richtung auf die Landeshauptstadt, wie sie gekommen waren.
Die einzige Seele, die beim Einzug der Franzosen gejubelt hatte, war die bucklige Stickerin. Es half dem armen Wentzel nichts, daß er sie der Einquartierung enthoben hatte, sie sah in jedem Franzosen einen Bruder und empfing die Chasseurs, die in des Schreibers Wohnung gelegt wurden, schon unter der Haustür, um sie mit stockendem Atem nach ihrem Kaiser zu fragen.
Die Franzosen waren, wenn man sich mit ihnen verständigen konnte, artige Leute. Sie betrachteten mitleidig den wunderschönen Kopf auf dem mißgestalteten Körper und freuten sich, in diesem barbarischen Lande französisch angeredet zu werden, wenn man es auch diesem Französisch anhörte, daß es nicht an den Ufern der Seine gewachsen war.
Zwar die Illusion, daß der Kaiser selber in ihrer Mitte sei, mußten sie der seltsamen Schwärmerin zerstören, aber sie gaben ihr die Gewißheit, daß er jedenfalls nicht ferne war, daß er vielleicht zur Stunde schon die Luft ihres Landes atmete.
Zenobia schloß die ganze Nacht kein Auge. Am frühen Morgen war sie schon wieder auf den Beinen. Sie, die sonst nie das Haus verließ, trieb sich auf den von Soldaten wimmelnden Gassen umher. Zur Verzweiflung Wentzels, der sie am liebsten in ihr Stübchen eingeschlossen hätte – denn er war voller Angst, daß sie verspottet und insultiert werden könnte –, hielt sie die begegnenden Franzosen auf, stellte sich ihnen als Landsmännin vor und fragte jeden, ob er Ihn gesehen habe, ob er Ihn kenne. Mit dem Namen Napoleons auf den Lippen wurde sie überall gut empfangen, ein jeder behauptete, ihn persönlich zu kennen, bis zum Trainsoldaten hinab wollte jeder schon mit ihm gesprochen haben, und jeder hatte teil an seinem Ruhm.
Unter den im Hause einquartierten Chasseurs war ein Veteran von Lodi und Marengo, der sich mit seinem Feldherrn noch fester verwachsen fühlte als die andern und der nicht müde wurde, Zenobias Feuer neuen Brennstoff zuzuführen. Ihm war er der Kamerad der Soldaten, der petit caporal, der ihre Gefahren mit ihnen teilte und aus ihrer Marmite mit ihnen aß. Er ließ die Brücke von Arcole vor ihren Augen aufsteigen, Napoleon mitten im Pulverdampf, die Fahne im Arm; und als er, entzückt von ihrem Enthusiasmus, ausrief: » Oh Mademoiselle, vous seriez digne de le voir« – da mußte sie sich am Treppengeländer halten, denn ihr wurde schwindlig vom Übermaß der Bewegung.
Nach dem Abzug der Franzosen schien es ihr, als sei die Sonne untergegangen und sie aufs neue verdammt, ihr Leben so hinzudämmern. Um sie zu trösten, brachte ihr Wentzel eines der neugeprägten französischen Goldstücke mit dem Bildnis des Kaisers, die durch die Einquartierung in die Stadt gekommen waren. Zenobia ließ es durchstechen und trug es fortan als Talisman auf der Brust.
Doch die Stille war von kurzer Dauer. Neue Truppenkörper zogen durch; man sah den » beau sabreur« – den abenteuerlich aufgeputzten Prinzen Murat – sowie den Marschall Lannes in seiner roten Husarenuniform und andere siegesberühmte Häupter von Angesicht. Immer lauter, immer näher rauschte der Strudel, der Königreiche und Republiken verschlungen hatte und dem auch Zenobias kleines Schifflein zutrieb. Und eines Morgens wurde das friedliche Land durch eine ungeheure Nachricht aus dem Schlummer geweckt: der Kaiser der Franzosen war urplötzlich in der kurfürstlichen Sommerresidenz erschienen, hatte den Landesherrn durch die Worte: »Wer nicht für mich ist, ist wider mich!« zur Allianz gezwungen und ihn in den Krieg gegen Österreich hineingerissen. Die Böllerschüsse von der Residenz, die weithin über das flache Gelände rollten, bestätigten dem Volke den aufgezwungenen Bund. Die öffentlichen Gebäude wurden beflaggt, die Schulen geschlossen, und die Leute starrten sich ins Gesicht, ob sie wachten oder träumten. Die Kühnsten murrten, die Mehrzahl stand in stumpfsinnigem Staunen, einige wenige, die der Geist der Neuerung berührt hatte, gaben Zeichen der Befriedigung von sich.
Zenobia allein befand sich in einem Taumel des Entzückens. Ihr erschien das französische Bündnis wie eine persönliche Erhöhung; die Wände, die sie eingeengt hatten, brachen zusammen, sie fühlte sich von dem Adler mit emporgehoben, der die Geschicke der Welt auf seinen Schwingen trug. Sogleich stellte sie aus ein paar bunten Lappen die französische Trikolore her und behängte damit zum Verdruß der Nachbarn ihr Fenster. Eine Viertelstunde später erschien sie in ihrem schönsten Putze völlig reisefertig vor Wentzels Tür: » Monsieur Wentzel, voulez-vous me procurer une voiture?« – » Mademoiselle sera servie,« antwortete der Schreiber gemessen, aber mit innerlichem Beben.
Er brauchte nicht zu fragen, wohin die Reise ging, denn er hatte diesen Auftrag erwartet. Seit er wußte, daß der Kaiser der Franzosen in der Nähe verweilte, wußte er auch, daß keine Macht der Erde Zenobia abhalten konnte, ihn zu sehen. Er selbst hatte keine Wahl, als ihren Willen zu tun, und mußte sich's zur Ehre anrechnen, wenn er sie begleiten durfte.
Zenobia schnitt schnell noch einige Rosen von ihren Stöcken, duftende, glühend rote Rosen, wie sie die milde Herbstsonne noch fortfuhr zu spenden. Die wollte sie auf das Grab ihres Vaters legen, damit auch er von dem großen Ereignis wisse, das alle seine Hoffnungen krönen sollte. Daß die Freiheitsideale des Toten unterdessen von dem großen Schlachtengott auf den Kehricht geworfen waren, das kam für ihre Empfindungen nicht in Betracht.
Da vernahm sie von draußen her ein ungewohntes Rennen, Schreien und Fensteraufreißen, zusammen mit dem Hufschlag vieler Pferde, und die jähe Ahnung, daß das Ungeheure, daß das Schicksal selber nahe, ließ ihr den Herzschlag stocken.
Ein Trupp Reiter in glänzenden Uniformen, gefolgt von einem Schwarm staunender, gaffender Menschen, bog in die krumme Gasse ein. Unter den Vordersten ritt einer der Prinzen des kurfürstlichen Hauses, den die Stickerin von Ansehen kannte. Aber heute hatte sie keinen Blick für ihn, der andere, der zur Rechten, nahm alle ihre Sinne in Anspruch. Sie zweifelte keinen Augenblick, wer es sei. Sein Antlitz mit dem blaßgelben Schein hatte die wohlbekannten römischen Imperatorenzüge; er trug den weltgeschichtlichen grauen Mantel und den dreieckigen Hut und saß mehr nachlässig als stolz auf dem edlen Braunen, der mit einer Haltung einherging, als ob er wüßte, daß er den Herrn der Erde trug.
Zenobia hob sich, so hoch sie konnte, auf den Zehenspitzen und drängte sich zitternd zwischen den hohen Blumentöpfen auf dem Fenstergesimse vor, um die eben gepflückten Blumen hinabzuwerfen. Zu gleicher Zeit begegnete sein Blick dem ihrigen.
Sei es, daß er ihre plötzliche Bewegung bemerkt oder daß schon vorher die französischen Farben an dem Fenster des alten, spitzgiebeligen Hauses seine Aufmerksamkeit erregt hatten, im Augenblick, wo Zenobia den Arm erhob, um die Rosen zu werfen, hatte er sich ein wenig im Sattel gedreht, und ein kalter blauer Blitz schlug aus seinen Augen in die ihrigen. Es war etwas Stählernes darin, wie wenn ein Schwert aus der Scheide fährt. Dann aber ging ein milder Schein, fast wie ein Lächeln, über sein Marmorgesicht; noch eine Sekunde blickte er den prachtvollen Mädchenkopf an, der oben zwischen den Blumen zum Vorschein gekommen war und der ihn an den Frauentypus seiner Heimat erinnern mochte, dann sah er wieder ruhig geradeaus, während der Huf seines Braunen über die Rosen hinging, die von den Pferden der nachfolgenden Adjutanten vollends in den Kot gestampft wurden. Gleich darauf war die ganze Erscheinung wie ein Traum vorbeigezogen, und das Rossegetrappel verhallte in der Ferne.
Zenobia blieb am Fenster zurück, unbeweglich, wie erstarrt und festgewachsen in derselben Stellung. Unten standen Männer und Weiber in aufgeregten Gruppen. »Das war Er – das war der Bonaparte!« ging es unter den Gaffern von Mund zu Munde. Ein fremder Geist schien mit einem Mal in die Leute gefahren: die Männer perorierten, die Kinder lärmten und schwangen Zeugfetzen, ein zugereister Handwerksgeselle vom Rhein sang ungehindert: » Aux armes, citoyens!« Daß sie das Antlitz des gewaltigsten Mannes gesehen hatten, das hob diese Pfahlbürger für eine Stunde über die Armseligkeit ihres Daseins weg und gab ihnen teil am Leben der Ewigkeit.
Man wußte, daß der Kaiser mit seinen Begleitern die Gegend besichtigte und hoffte, ihn auf demselben Wege zurückkehren zu sehen. Bis zum späten Abend wartete die Menge in den Straßen. Zenobia, an ihr Fensterbrett angeklammert, wartete die ganze Nacht. Aber die Hoffnung war vergeblich. Der Kaiser war auf einem anderen Wege ins Schloß zurückgekehrt und befand sich am Morgen bereits auf der Fahrt nach der österreichischen Grenze. Die Zügel seiner Rosse hielt das Glück und führte ihn geradeswegs dem Tage von Austerlitz entgegen.
Das Städtchen trug schon wieder sein Werktagsgesicht, und das Leben ging seinen alten Gang weiter, als ob nichts geschehen wäre: der Grobschmied hämmerte, die Kinder liefen mit ihren Ranzen zur Schule, der dicke Kronenwirt rauchte sein Pfeifchen am Fenster, und die Weiber schwatzten unter der Haustür. Nur Zenobia kehrte nicht in den Alltag zurück.
Sie war feierlich-ruhig und gelassen gegen jedermann, sie erzürnte sich nicht mehr über die Nachbarn, die ihr ins Fenster sahen, sie gab dem armen Wentzel keine harten Worte mehr, aber tief innen glühte ein fixer Punkt, der alle Kräfte ihrer Seele an sich zog.
Raum und Zeit waren verschwunden. Der Moment, wo Sein Blick sie getroffen hatte, wurde für sie zu einer unvergänglichen, allbeherrschenden Gegenwart. In Ewigkeit stand sie Aug' in Auge mit dem Weltbezwinger. Die dumpfe Straße, die sie bisher gehaßt hatte, das holprige Pflaster, über das der Huf seines Pferdes hingegangen war, bedeuteten fortan den Mittelpunkt der Erde. Sie selbst fühlte sich mit Majestät umgeben und ging wie unter einem Glorienschein umher, denn ihr hatte der Herr der Welt gelächelt mit jenem Lächeln, dem keiner, der davon bestrahlt wurde, jemals widerstand. Es war also kein Wahn gewesen, daß sie zu ihm gehörte. Über Berge und Ströme hatte das Schicksal ihn auf ihren Weg geführt, und sein Blick hatte sie erkannt, hatte sie ausgefunden, mit unfehlbarer Sicherheit sie unter den Hunderten, deren Augen alle auf den einen gerichtet waren.
Nach der Schlacht von Austerlitz mußte der gute Wentzel ihr gratulieren, als ob es ihr eigener Sieg wäre, und die gleich darauf folgende Erhöhung ihres Landesherrn zum König empfand sie als eine ihr persönlich widerfahrene Huld.
Ihren Nähtisch hatte sie geschlossen und in den hintersten Winkel gestellt. So niedrige Beschäftigung war fortan unter ihrer Würde. Aber mit Jubel empfing Zenobia sie den Auftrag, der ihr durch Wentzels Vermittlung zuteil wurde, für eines der neugeschaffenen Regimenter, die zu Napoleons Scharen stoßen sollten, die Fahne zu sticken. Sie glaubte damit etwas für ihn Hochwichtiges zu tun; ja, es schien ihr, als könnte und müßte sie mit ihren Stichen den Sieg an diesen gelben Seidefetzen heften. Sie sah ihn schon im Geist von eroberten Positionen wehen und bei seinem Anblick jenen milden Schein, der wie ein Sonnenblick auch auf ihr geweilt hatte, über das Marmorantlitz des Imperators ziehen. Sie träumte sich selbst zum Fahnenträger, der, aus einem Haufen von Leichen sich noch einmal aufrichtend, die gerettete Fahne dem kaiserlichen Feldherrn darreichte. Selig die Tausende, die für ihn sterben durften, mit seinem Namen auf den Lippen! – In begeisterter Geschäftigkeit saß sie die einsamen Winterabende über ihrer Stickerei und wob entzückende Traumgespinste hinein.
Als aber die Fahne abgeliefert war, da kam eine unbeschreibliche Unruhe über sie. Was nun weiter tun, was für ihn beginnen? Ihre Ohnmacht setzte sie in Verzweiflung. Sie hatte ja nichts ihm darzubringen, keinen Bruder, keinen Bräutigam, den sie mit ihrem Feuer entflammen konnte, sich dem Schlachtengott zu weihen. Das einzige Herz, das ihr gehörte, wollte den hohen Schlag des ihrigen nicht mehr verstehen.
»Pfui, was sind das für Männer!« sagte sie sich, wenn sie ihren Getreuen so Tag für Tag mit peinlicher Regelmäßigkeit den Kreis enger Pflichten durchlaufen sah, während in ihrem Herzen der Donner der Kanonen von Eylau und Friedland widerhallte. Auf ihrem alten, verstimmten Klavier spielte sie stürmisch die Marseillaise. Zuweilen ging es ihr durch den Kopf, sich in Männerkleidung zu werfen und selber in den Kampf zu ziehen. Aber trotz ihrer Begeisterung fühlte sie doch, daß keine Amazone in ihr steckte; und der Kaiser liebte ja die kriegerischen Weiber nicht. So blieb ihr denn gar nichts zu tun übrig? Waren die Zeiten vorbei, wo auch ein Weib sich für eine große Sache opfern konnte? Gab es keinen Scheiterhaufen für ihn zu besteigen? Wollte kein Seher aufstehen und das Blut einer Jungfrau für den glücklichen Ausgang eines Feldzugs fordern? Sie hätte das ihrige mit Freuden dargebracht. – Endlich ersann sie sich eine Betätigung, die ihrer Natur entsprach und die sie wenigstens im Geist mit ihm verknüpfte. Sie legte jenes merkwürdige Kunstwerk an, das jetzt in dem Kaminschirm von Monrepos prangt. Die Zeichnung hatte sie einem bekannten Kupferstich entnommen, dessen Konturen sie geschickt auf die ausgespannte Seide übertrug, und nun fühlte sie sich wieder ganz in ihrem Elemente. Sie glaubte, die Geschicke der Welt und ihre eigenen zu weben, wenn sie die Fäden für das Bildnis des Kaisers zog.
Der arme Wentzel sah wohl, was sie bei dieser Arbeit bewegte, denn alle Vorgänge ihrer Seele spiegelten sich ohne ihr Zutun in der seinigen. Er hatte ja selbst an der Schwärmerei für Napoleon teilgenommen, so lange dieser nur ein Begriff, ein abstraktes Symbol des Heldentums für ihn war. Jetzt aber haßte er ihn als den Zerstörer seines Glücks und den Vergewaltiger seines Landes. Doch diesen Haß mußte er vor Zenobia schweigend hinunterwürgen, er mußte ihrer Exaltation zustimmen; ja, er war selbst genötigt, die Rede immer wieder auf ihren Abgott zu bringen, wenn er ihr schönes Auge aufleuchten und ihren Mund lächeln sehen wollte.
Und als ob alles Unglück ihm aus ein und derselben Quelle fließen sollte, traf ihn von seiten dieses Mannes ein neuer Schlag: Napoleon hatte die berüchtigte Kontinentalsperre verhängt und damit auch dem deutschen Handel einen schweren Streich versetzt. Unter den Firmen des Landes ging der Bankerott wie eine Seuche um; die Großen rissen die Kleinen im Sturze nach. Wentzel war ein genauer und sorgfältiger Rechner, aber von Handelsgeschäften und ihrem Zusammenhang mit der Weltpolitik verstand er nichts. Als es ihm dämmerte, daß auch Zenobias kleines Vermögen in Gefahr schweben könnte, und er nach der Hauptstadt eilte, um zu retten, was zu retten wäre, hatte der Blitz schon eingeschlagen.
Vor der Tür des reichen Verwandten fand er eine ganze Schar von Gläubigern, die zum gleichen Zwecke gekommen waren. Aber die Tür war geschlossen, und das Falliment bereits erklärt. Von dem eingelegten Kapital war kein Heller mehr zurückzuerlangen. Wentzel griff sich schwindelnd an den Kopf; es schien ihm, als ob er in einen Abgrund versinke. Er, der sich die Haut hätte vom Leibe ziehen lassen, um der Freundin, die er anbetete, einen Vorteil zu verschaffen, hatte sie nun durch Unverstand und unverzeihlichen Leichtsinn um das Ihrige gebracht. Mit welchem Gesicht sollte er jetzt vor sie treten? Er wußte, daß er kein Wort des Vorwurfs aus ihrem Munde zu erwarten hatte, ja, daß ihr das verlorene Geld nur ein freudiges Opfer auf dem Altar ihres Fetischs bedeuten würde. Aber jede Faser in ihm sträubte sich gegen die Aussicht, mit leeren Händen zu ihr zurückzukehren. Er hielt sich für moralisch verpflichtet, ihr den Schaden zu ersetzen, und wenn er darüber Hungers sterben sollte. Doch wie das Kapital zusammenbringen? Verglichen mit ihm war Zenobia beinahe wohlhabend gewesen, denn er besaß buchstäblich nichts, mit Ausnahme seiner magern Besoldung, die ihm noch ausreichen mußte, eine verwitwete Schwester und deren Kinder zu unterstützen. Zuerst wollte er das Geld bei Bekannten gegen Zins aufnehmen, entweder die ganze Summe auf einmal oder in einzelnen kleinen Posten. Aber überall fand er Entschuldigungen und Ausflüchte, und er mußte erfahren, daß dem, der nichts hat, auch nichts gegeben wird. Mit Mühe brachte er nur den Betrag der halbjährigen Zinsen auf, der es ihm möglich machte, Zenobia das Geschehene vor der Hand – und vielleicht, wie er hoffte, auf immer – zu verheimlichen. Auf der Heimfahrt stellte er ein Programm für alle künftigen Jahre seines Lebens fest. Er rechnete seinen bisherigen täglichen Verbrauch ins Taschenbuch und strich gleich von jedem Posten ein Drittel weg; der Rest mußte ihm für die Zukunft genügen. Dann galt es, seine Freistunden durch einen Nebenerwerb nutzbar zu machen. Und wenn er jeden entbehrlichen Groschen auf die Seite legte und jede Stunde zu Rate zog, so konnte er hoffen, ihr nicht nur die halbjährigen Zinsen ununterbrochen wie bisher auszuzahlen, sondern im Lauf der Jahre, wenn sein Lebensfaden sich so weit hinausspann, das Kapital selber zu erstatten. Aber die Angst, daß sie unterdessen von dem Falliment erfahren oder gar auf den Gedanken kommen könnte, das Angelegte zurückzufordern!
Heimlich zitternd wie ein Dieb händigte er ihr die Silberstücke ein, an denen sein Angstschweiß klebte und die sie achtlos wie immer in die Tasche gleiten ließ. Was sonst sein Glück gewesen war, die regelmäßige Überreichung der Zinsen am Verfalltag, wurde jetzt zu einer Marter für ihn. Aber seine Sorge, daß sie ihm das Vorgefallene im Gesicht ablesen oder ihn gar durch eine Frage nach dem Kapital überraschen könnte, war völlig unbegründet; für solche Dinge gab es in ihrer Vorstellung keinen Raum. Auch für das abgezehrte, verhärmte Gesicht ihres Getreuen hatte sie kein Auge, und daß er seine gewohnten Spaziergänge aufgab, um halbe Nächte über Abschreibereien gebückt zu sitzen, bemerkte sie ebensowenig, obgleich sie zuweilen des Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, den Lichtschein aus seinem Zimmer sich in den Pfützen der Straße spiegeln sah.
Ein dichter Schleier war zwischen sie und ihre Umgebung geschoben. Sie saß die langen Tage am Stickrahmen und stickte sich immer tiefer in ihren Wahn hinein. Die Nächte lag sie halb wach und fiebernd, in ungeheuerliche Traumgespinste verstrickt: zuweilen war es ihr, als stiege sie an der Seite des Kaisers die Stufen zum Thron hinan, vom Kaisermantel umwallt und von ihrer Verkrüppelung, den Kopf auf einem königlichen Nacken wiegend. Andere Male stand er vor ihr, formlos, ohne menschliche Bildung, nur als ein übergewaltiges Etwas, das ihr den Atem nahm und in dem sie zu vergehen wünschte. Das waren ihre glücklichsten Stunden, denn nichts Sichtbares störte sie da in ihren Phantasien, denen die Dunkelheit unbeschränkten Spielraum gab. Aus der Ferne sang der Nachtwächter dazu die Stunden, und von unten scholl das hektische Husten Wentzels herauf, das aber nur in ihre Ohren, nicht in ihre geistige Wahrnehmung drang. – Wer durfte ihr sagen, daß sie seiner nicht würdig sei? War er es doch selbst, der Sohn der Revolution, der die Ungleichheit der Geburt zwischen den Menschen aufgehoben und allen die nämlichen Rechte erteilt hatte. Immer lebte sie den Moment wieder durch, wo der kalte Blitz seines Auges sie getroffen hatte wie gezückter blauer Stahl, und unwiderstehlich riß es sie hin, jenem gezogenen Schwert sich entgegenzustürzen, von jenem kalten blauen Blitz sich verzehren zu lassen. Sie träumte den Rosen nach, die der Tritt seines Pferdes zerstampft hatte. Als ihre Fahne bei Glogau die Bluttaufe erhielt, da weinte sie die hellen Freudentränen, und bei jeder Siegesbotschaft beflaggte sie ihr Fenster zum Ärgernis der Nachbarn, die ihre Söhne nur mit verhaltenem Grimm unter die Fahne des »Bonaparte«, wie ihn das Volk noch immer unehrerbietig nannte, gestellt hatten.
Der Ruf der wunderbaren Stickerei, an der sie arbeitete, drang unter die Leute und zog viele Neugierige auf ihr Zimmer, denen sie gefällig den Rahmen aufdeckte. Doch wenn man sie nach dem Besteller fragte, blieb sie die Antwort schuldig. Sie wollte nicht länger für eine Lohnarbeiterin angesehen sein, sie fühlte sich wie eine jener Königinnen aus alter Zeit, die, während ihr Herr auf Kriegszügen ferne war, mit fleißiger Hand seine Taten in ein Prachtgewebe wirkten. Aus ihrem Schweigen zogen die Besucher den Schluß, daß die Stickerei für eine hohe oder allerhöchste Persönlichkeit bestimmt sein müsse, und betrachteten sie mit vermehrtem Interesse.
Diese Annahme wurde ihren Mitbürgern zur Gewißheit, als man eines Tages Zenobia mit ihrem Stickrahmen auf dem Schoß im Hofwagen nach der Residenzstadt fahren sah. Denn auch die Prinzessinnen hatten von der Arbeit gehört und begehrten sie zu sehen. Man war neuerdings stark französisch gesinnt bei Hofe, da die Dynastie sich auch durch Familienbande mit dem Kaiserhaus verknüpft hatte. Eine der Prinzessinnen, die vom Kaiser während seines Besuches vielfach ausgezeichnet worden war, äußerte den Wunsch, die Stickerei, sobald sie fertig wäre, zu besitzen, worauf Zenobia, die nicht daran dachte, sich von ihrem Werk zu trennen, und doch nicht zu widersprechen wagte, nur durch stumme Verneigungen antwortete.
Es war das allermerkwürdigste Schauspiel von der Welt, wie die Phantasieprinzessin vor den wirklichen stand, denn niemand hatte der armen buckligen Schönheit gesagt, wie sie sich zu betragen habe, und ihr Bestreben, der Etikette gerecht zu werden, dabei aber doch der eigenen eingebildeten Würde nichts zu vergeben, äußerte sich in wunderlich prätiösen Verbeugungen und geschraubten Redewendungen, die von den Prinzessinnen mit gütigem Lächeln hingenommen, von den Hofdamen aber heimlich bekichert wurden. Bei der Frage, ob sie denn den Kaiser selbst gesehen habe, flammten ihre Augen auf, als wollte sie sagen: Er hat Mich gesehen! und ihr Mund lächelte geheimnisvoll. –
Aufs neue war der Krieg gegen Osterreich entbrannt. Was das Land mit Schmerz und stummem Groll erfüllte, das schwellte Zenobias Brust mit neuer Hoffnung: Napoleon stand wieder auf deutschem Boden. Bei Abensberg führte er die Truppen, die ihm der König gestellt hatte, persönlich ins Feuer. Ein Armeebefehl, den er dort erließ, war dazu angetan, ihm auch die widerstrebendsten Herzen zu erobern, und riß die wackere junge Mannschaft zur Bravour erprobter Kerntruppen hin. »Ich befinde mich allein in eurer Mitte,« hieß es darin, »und habe nicht Einen Franzosen um mich, das ist für euch eine Ehre ohne Beispiel.« Wenn schon Wentzels Stimme zitterte, als er ihr aus der Zeitung diesen Erlaß des Kaisers vorlas, so geriet Zenobia völlig außer sich. Die den Söhnen ihres Landes erwiesene Auszeichnung erschien ihr wie ein an sie gerichteter Gruß, wie ein Zeichen, daß er ihrer gedachte. Als Gegengruß schickte sie den Erlös ihrer paar Schmucksachen an die Truppen ins Feld und zupfte Charpie für die Verwundeten. Ihr armer, überspannter Kopf sah allenthalben geheime Beziehungen. Das Gerücht, daß der Kaiser Napoleon sich von seiner Gemahlin Josephine zu scheiden gedenke, gab ihrer Vernunft den Rest. So oft dieses Gerücht in ihrer Nähe erwähnt wurde, ging ein irres Leuchten aus den Augen der Stickerin, als ob unausdenkbare Möglichkeiten vor ihrer Seele schwebten. Und immer, wenn ein Hufschlag erscholl, flog sie ans Fenster, denn nichts schien ihr bei dem unmöglich, der das Wort » impossible« aus dem Wörterbuch verbannt wissen wollte. Der gute Wentzel sah mit namenlosem Schmerz den stummen Wahnsinn, der in ihr glühte und der sie immer weiter von ihm entfernte. – Ihr zu grollen war er nicht im stande. Für ihn war sie doch die Königin, die Kaiserin der Erde, wenn sie für alle anderen nur eine Närrin war. Er hätte sie mit einer Krone schmücken mögen, aber indem er sein Herzblut tropfenweise für sie hergab, konnte er sie nicht einmal mehr vor Mangel schützen. Der Krieg hatte die Teurung ins Land gebracht, man sammelte für die Familien, die ihrer Stütze beraubt worden waren. Zenobia teilte aus, was sie hatte, ohne nach dem Morgen zu fragen. Zugleich beharrte sie eigensinnig darauf, ihre Nadel nicht mehr für gemeine Zwecke zu gebrauchen; die Stickerei aber, die so gut wie vollendet war, wollte sie nicht hergeben. Sie hatte absichtlich einige der goldenen Bienen unausgefüllt gelassen, um vor der Prinzessin, die ab und zu nach der Arbeit fragen ließ, den Vorwand zu haben, daß sie noch nicht fertig sei. Unterdessen hatte sie die stahlblauen Perlen eingesetzt, die ihr den Blitz seines Auges wieder gegenwärtig machten, jenen Blitz, in dem sie sich zu sterben sehnte. Denn diese stählernen Augen blickten – sie blicken ja in der Tat noch heute –, sie zogen die ihrigen mit der Gewalt eines Abgrundes an und schienen immer neue und größere Opfer von ihr zu heischen. Welche Opfer? Was verlangst du? schrie es aus ihrer Seele. Willst du mein Leben? Ich geb' es dir mit Wonne. Gebiete über mich! – Während in Schönbrunn die Länder Europas wie Stücke Tuchs zurechtgeschnitten wurden, gab die arme Stickerin das Kleid vom Leibe und verkaufte nach und nach ihren besten Hausrat, um die Wunden zu heilen, die ihr blutiger Gott geschlagen hatte. Sie nahm nur noch so viel Nahrung zu sich, wie ein kleiner Vogel braucht, und besaß am Ende wenig mehr als das Bett, in dem sie schlief, und den alten Klimperkasten, auf dem sie täglich die Marseiller Hymne spielte.
»Der Kaiser kommt, der Kaiser!«
Vom Residenzschloß, wo seine Ankunft erwartet wurde, flog die Nachricht wie ein Blitz herüber. Diesmal kam er nicht als gewalttätiger Eindringling mit gezogenem Schwert, sondern als Bringer des Friedens in ein verbündetes Land, zu einem verschwägerten Herrscherhaus. Ein feierlicher Empfang mit Kanonendonner und Glockengeläute und dem ganzen Apparat des höfischen Zeremoniells, ein Aufenthalt von wenigen Stunden bei Festmahl, Parade und Galavorstellung, dann ging es weiter, Frankreich zu – das kleine Städtchen lag gerade auf seinem Wege. Und wo er durchfuhr, da läuteten die Glocken und wehten die Fahnen, rauschende Ovationen begleiteten ihn von Station zu Station, jedes Städtchen, jedes Dorf, das er passierte, fühlte sich mit Stolz als eine Etappe auf dem Weg der Weltgeschichte.
Auch das unsrige tauchte für einen Augenblick aus seinem Nichts empor, denn hier mußte er sein meteorartiges Vorübersausen auf ein paar Minuten unterbrechen, um die Pferde zu wechseln. Den ganzen Tag war alt und jung auf den Beinen, man hängte Fahnen aus und flocht Kränze, vom Rathaus wehte die große Flagge, und das Postgebäude nebenan, wo der Relais bereitstand, wurde mit den französischen Farben geschmückt.
Die fieberhafte Bewegung, die immerwährend von dem Gewaltigen ausging, brauste ihm wie ein Sturmwind voran. Seit dem frühen Morgen sprengten die Stafetten durch, die des Kaisers Depeschen nach Frankreich trugen. Das Gepäck, die Reitpferde, die Mamelucken in ihrer bunten morgenländischen Tracht, von einem Detachement der Gardegrenadiere begleitet, kamen vorüber. In schwer bepackten Reisewagen fuhr ein Teil des Gefolges und die Dienerschaft voran. Würdenträger des königlichen Hofes reisten durch, um im Namen des Landesherrn den kaiserlichen Gast an der Grenze noch einmal zu bekomplimentieren. Und jedesmal, wenn ein Hufschlag erklang und ein Rad rollte, gab es ein allgemeines Schreien und Zusammenrennen.
Zenobia stand festlich aufgeputzt an ihrem Fenster zwischen Guirlanden und Trikoloren. Sie war die einzige Person, die an diesem großen Tag zu Hause blieb. Wentzel hatte an einem Fenster der Post gegenüber einen bequemen Platz für sie erlangt, wo sie die Einfahrt des Kaisers abwarten konnte. Aber als er sie holen wollte, schüttelte sie den Kopf und weigerte sich, zu kommen. Sie wollte den Posten nicht verlassen, auf den Er sie gestellt hatte, ihren Posten hier an diesem Fenster, wo sie seit Jahr und Tag seine Wiederkehr erharrte. In dem Gedränge vor der Post konnte sein Auge sie übersehen. Hier, gerade hier, in dieser engen Gasse, durch die er geritten war, unter dem spitzgiebeligen Dach, an dem Fenster, das er noch kennen mußte, sollte er sie wiederfinden. Nicht umsonst hatte sie ihr Haus so schön geschmückt. Massenhaft hatte sie Tannen- und Eichenreisig heranschaffen lassen und daraus die künstlichsten Guirlanden gewunden, mit denen sie das Haus nicht nur von außen, sondern auch von innen bekränzte. Ihr ausgeplündertes Stübchen glich heute einem Tempel: wo ein Bild von den Wänden verschwunden war, wo ein Möbel fehlte, da waren grüne Zweige und Fähnchen aufgesteckt; auf die Schwelle des Hauses hatte sie noch eine Handvoll Blumen, die letzten des Jahres, gestreut. Die Nachbarinnen lachten zusammen, als sie das sahen, und sagten: »Die Närrin, sie denkt wohl, der Kaiser Napoleon werde sie besuchen.«
Indes, zu so realen Bildern verstieg sich Zenobias Erwartung nicht. Sie wußte bloß, daß dieser Tag ihr gehörte. Für sie wehten diese Fahnen, für sie staute sich die Menge in den Straßen, denn ihr führte die Woge des Glücks den Helden zu. Huldvoll und dankbar nickte sie hinunter, doch die Leute drängten sich achtlos vorbei; heute hatte niemand Zeit, sich über sie lustig zu machen. Ein einziger Gedanke lebte in allen diesen Köpfen: den Kaiser sehen! Denn wenn man auch keinen Grund hatte, ihn zu lieben, eine Ahnung von seiner Größe war bis in das dumpfste Hirn gedrungen, und seine Durchfahrt war ein weltgeschichtliches Ereignis, das man stolz war mitzuerleben, dessen Gedächtnis sich von Kind zu Kindeskind vererben sollte.
Zum ersten Male fühlte sich Zenobia im Einklang mit der Allgemeinheit und wie von ihrer Welle getragen. Eine Weltsymphonie zog durch ihr Inneres, in der jede Faser ihres Wesens jauchzend mitschwang. – Beim ersten Gerücht von dem bevorstehenden Besuch des Kaisers war sie mit ihrer Stickerei nach der Residenz geeilt und hatte sie eigenhändig im Schlosse abgegeben als Geschenk an die Prinzessin, für das sie sich zum Entgelt nur die Gnade ausbedang, daß das Werk vor den Augen des Kaisers aufgestellt werde. Zwar ihre Gönnerin hatte keine Zeit gehabt, sie zu empfangen, doch ein Hofbediensteter, der sie kannte, hatte versprochen, für schickliche Aufstellung des Kunstwerks Sorge zu tragen. Zenobia ahnte nicht, daß sie dem Pöbel des Hofs zur billigen Unterhaltung diente und daß die Stickerei zunächst in den Händen der Zofen verblieb. Getröstet war sie abgezogen, der sicheren Hoffnung, daß des Kaisers erster Blick auf das Werk ihrer Nadel fallen werde. Mit dem Rest ihres Geldes hatte sie das Haus dekoriert, dann hatte sie alles verschenkt, was sie noch an Kleidern besaß, bis auf den Putz, den sie am Leibe trug, denn es gab kein Hinausdenken über diesen Tag. Ihre übervolle Seele hielt nicht mehr zusammen. Heute mußte sich ihr Geschick vollenden; wie, das war ihr selber ein Mysterium.
Der kurze Tag fing an zu sinken, und der Himmel rötete sich wie Blut. Eine Purpurbahn flammte vor ihren Blicken, drüber hin wallte es wie kaiserliche Schleppen. Dort oben begann schon die Apotheose. Hinauf mit ihm! Die Erde war nur ein Schemel, um hinan zu steigen. Wo blieb er nur so lange? Komme, komme, mein Held!
Aber er zauderte noch immer. Die Dämmerung kam und verwischte die Grenzen der Dinge. Draußen flammten die Fackeln auf, die den Weg des Kaisers erhellen sollten. Immer glühender, immer schmelzender rief es aus dem Busen der Stickerin: Komme, mein Held, komme!
Endlich zerriß ein Böllerschuß die Luft, und fast gleichzeitig klangen die Glocken zusammen. In ihr lautes Freudengeläut mischte sich ein Schwirren und Brausen, in dem man bald den Trab der Pferde, das Gerassel der Räder, das Vivatrufen des Volkes unterscheiden konnte. Jetzt rollte es auf der Hauptstraße heran, die nach dem Rathausplatz führte. Dort unten an der Straßenecke war alles schwarz von Menschen, die bis zum Postgebäude Spalier bildeten. Im Fackelschein, dessen Qualm bis zum Himmel stieg, kamen Reitergestalten zum Vorschein; der Blitz ihrer Waffen fiel bis herüber. Ihnen folgte, von lautem Geschrei begrüßt, die kaiserliche Berline, von der nur der obere Teil als ein dunkles, schattenhaftes Etwas über den Köpfen der Menge zum Vorschein kam, und ein neuer Reitertrupp bildete den Beschluß. Auf dem erhellten Hintergrund der Häuser hob das Bild sich ab und zog wie ein Schattenspiel vorüber, Reiter und Wagen verschwanden hinter der Ecke, die Menge wälzte sich brausend nach, und im Nu war der Platz von Menschen reingefegt.
Die Stickerin lag wie vernichtet in ihrem Stuhle. Er war vorbeigefahren, ohne Halt zu machen, ohne nach ihr aus dem Wagen zu blicken. Kannte er die Gasse nicht mehr, das Haus, das Fenster, wo sie gestanden hatte? War sie nicht wert, sein Angesicht noch einmal zu sehen? Hatte er ihr Werk verworfen? Was hatte sie verschuldet, was versäumt? – Von der Post herüber tönten in langen, weithin hallenden Salven die Vivatrufe des von plötzlicher Trunkenheit ergriffenen Volkes. Das alles sonnte sich jetzt in seinem Anblick. Und sie – und sie? –
Da scholl ein eiliger Fußtritt die verödete Straße herauf, der sie zu suchen schien. Eine wahnsinnige Hoffnung stieg in ihr auf. Nein, es war nicht möglich, daß er sie vergessen hatte, dieser Tag konnte nicht enden wie jeder andere Tag. – Vor der Haustür machte es halt, es tastete sich durch den engen Flur, es knarrte auf der Treppe. Die Stickerin stand auf und hielt sich mit stockendem Atem an der Stuhllehne. Kein Zweifel, man kam zu ihr, sie wurde gerufen!
Bittere Enttäuschung! Es war Wentzels treue Gestalt, die sich durch die Türe schob. Er kam von dort, er hatte Ihn gesehen. Sein hageres Angesicht strahlte von der Auszeichnung, die ihm widerfahren war. Denn ihn hatte sein Vorgesetzter als Sprecher für die Stadt vor den Wagen geschoben, er hatte das gnädige Neigen des Hauptes aufgefangen, womit der Kaiser für die dargebrachten Huldigungen dankte. Dann, als das Gespann umgeschirrt wurde, hatte er sich weggedrückt, um, warm vom Sonnenglanz, der ihn bestrahlt hatte, zu Zenobia zu eilen. Er wollte erzählen, aber sie ließ ihm keine Zeit. Bei seinen ersten Worten war die Lähmung von ihr abgefallen, sie schnellte auf wie ein gespannter Bogen, und mit bloßem Kopfe, wie sie ging und stand, flog sie an ihm vorüber die Treppe hinab. Dorthin! Zu Ihm! Es war noch Zeit. Und dann? – Vor Seinem Auge vergehen, die Seele aushauchen!
Aber als sie die Straße erreichte, verkündete eben ein brausender Ruf der Menge, durch den das Rollen der Räder klang, die Abfahrt des Kaisers. Zenobia wandte sich, von einer plötzlichen Erleuchtung geleitet, und schoß pfeilschnell durch ein paar winklige Gassen auf einen dunklen Torweg zu, der sie ins Freie führte. Ein schmaler Fußpfad wand sich an der hinteren Friedhofmauer gegen das Flüßchen hin. Diesen Weg, den sie oft als Kind gegangen war, legte sie in so fliegender Eile zurück, daß Wentzel, der ihr laut keuchend, den Tod im Herzen, folgte, sie nicht mehr einzuholen vermochte. Auf dem schmalen Holzsteg bei der Mühle rastete sie ein paar Herzschläge lang, denn ihre verwachsene Brust bedrängte das rasche Laufen. Jenseits setzte sich der Feldweg zwischen Wiesen und Ackerland bis zur Fahrstraße fort und schnitt mit einer schnurgeraden Linie Den Bogen ab, den diese nach der Brücke hin beschrieb. Zenobia warf einen raschen Blick auf die von flammenden Lichtern erhellte Chaussee, die wie eine gekrümmte, glühende Schlange erst nach der Brücke und von da ü zurückkehrend in langer Linie gegen die dunkle Waldung im Westen hinkroch. Ihr Auge suchte den kaiserlichen Reisezug, der sich eben der Brücke näherte. Wenn sie sich eilte, gewann sie ihm den Vorsprung ab, denn die Brücke, die den Verkehr nach mehreren Seiten vermittelte, lag wohl eine Viertelstunde flußabwärts. Bevor er die starke Krümmung überwunden hatte, mußte sie auf der Fahrstraße sein. Wie von einer Gottheit geführt, rannte sie ohne Straucheln auf dem dunklen Feldweg hin und erklomm im Fluge die Böschung der Chaussee.
Oben bei qualmenden Pechkränzen und Fackeln drängten sich Haufen von Menschen, die gleichfalls, um bequemer zu sehen, aus dem überfüllten Städtchen herbeigeeilt waren. Auch die benachbarten Dörfer und die umliegenden Gehöfte hatten ihre Bewohner ausgespieen, und das alles lagerte, groß und klein, am Straßenrand.
Eben tauchten an der Biegung die Lichter des kaiserlichen Wagens auf. Noch ein paar Sekunden, dann donnerte die Eskorte vorüber; der ungewisse Fackelschein ließ die hohen Bärenmützen und die weiß ausgelegten Frackschöße der gendarmes d'élite erkennen. Schwankend, sich in den tiefen Federn wiegend, folgte der von vier Pferden gezogene Reisewagen. Alle Augen suchten den Kaiser, der, von den Wagenlichtern scharf beleuchtet, aufrecht im grauen Überrock hinter den breiten Fenstern saß.
Sein Antlitz war nicht so hell wie vor vier Jahren. Er hatte jetzt den Gipfel seiner Macht erstiegen. Europa lag wehrlos, scheinbar für immer gebändigt, zu seinen Füßen; seine Hände hielten die Wage der Weltgeschicke. Aber er stand im Begriff, sich von der Frau zu scheiden, die er geliebt hatte und in der er den guten Stern seines Lebens sah. Die Wende seines Glückes war nahe, und wie ein Schatten der Vorahnung lag es auf des Kaisers Stirn.
Schallender Vivatruf begrüßte sein Erscheinen. Haß und Liebe, dumpfer Groll und feurige Begeisterung drängten sich an seinem Weg. Hart neben dem brennenden Pechkranz murmelte eine Stimme: »Will's Gott, so kommt noch ein Tag, wo wir dir anders heimleuchten!« Ein mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückter Invalide hatte sein Stelzbein abgerissen und schwang es jubelnd in der Luft, während zwei Schritte davon ein alter, bärtiger Jude sein Enkelkind in den Armen hochhob und mit feierlicher Stimme sagte: »Schau hin, Baruch, der ist es, für den du sollst beten, der Gesalbte, der Erlöser deines Volks.« –
» Vive l'empereur!« schrie eine durchdringende Frauenstimme, und etwas Dunkles, Formloses rollte vor die Hufe der Pferde. Die Tiere bäumten entsetzt zurück und stießen die schwere Berline gegen den Straßenrand. Wagen und Rosse waren im Nu zu einem Knäuel verwickelt, die Diener sprangen den Postillons zu Hilfe, die Kaisergarde kehrte zurück, die Menge stob schreiend auseinander, – man glaubte für einen Augenblick an ein Attentat.
»Was ist geschehen?« hörte man aus dem Innern des Wagens eine ruhige, befehlgewohnte Stimme auf Französisch fragen, während von der anderen Seite der Herzog von Friaul sich bestürzt über den geöffneten Wagenschlag beugte.
»Eine Person ist überfahren,« riefen mehrere Stimmen zu gleicher Zeit.
Schon waren die Pferde zum Stehen gebracht, die Eskorte ordnete sich wieder, ein dunkler Körper wurde zur Seite getragen.
» Ce n'est rien, Sire, c'est une femme bossue,« rapportierte der Offizier vom Dienst, an den Wagenschlag tretend.
Tiefer legte sich der Schatten über des fatalistischen Imperators Stirn. Ein Wink, die Pferde zogen an, die Garde setzte sich in Trab, und der Kaiser fuhr weiter zwischen lodernden Holzstößen, Fackeln und Pechringen in die Nacht hinaus, immer weiter mit sausender Schnelle gegen Westen, Frankreich zu – seinen Schicksalsweg, an dessen fernstem Ende ein einsamer Fels im Weltmeer wartete.
Am Straßenrand unter dem neugierigen Zudrang des Volkes kniete ein Mann, der das blutige, im Tode lächelnde Haupt der Stickerin im Arme hielt und beim Schein der Fackeln in dem zertrümmerten Gehäuse angstvoll nach einer Spur des entflohenen Lebens suchte.