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Den Strom hinunter

Das Haus war ganz voll von den Zurüstungen zur morgigen Hochzeit. Besucher, Lieferanten, Lohndiener gingen aus und ein, Geschenke wurden gebracht, Sendungen abgegeben. Auf zusammengerückten Stühlen und Tischen ragte ein Montblanc von Ausstattungswäsche, mit breiten Feldern von weißen Tisch- und Bettlinnen, worauf ein Flockengekräusel von fein gefalteten Hemden und Leibchen, von duftigen Spitzenröcken und blütenweißen, gestickten Taschentüchlein wie frisch gefallener Schnee glänzte. Nirgends war mehr Raum zum Sitzen. Auf dem steifen Kanapee lag vorsichtig ausgebreitet das weiße Hochzeitskleid mit seinen schweren Atlasfalten, und drüber flockte hingehaucht der Brautschleier, ein lichtes, luftiges Gespinst aus Illusionstüll, leicht wie ein Hauch, zerreißlich wie das Glück.

Nur sie selbst, die liebliche Thora, der Mittelpunkt des ganzen Getriebes, fehlte. Sie hatte der Konvenienz ein Schnippchen geschlagen und war, indessen die Geschwister bei geschlossenen Türen ein für die morgige Feier gedichtetes Stück probierten, zum Hause hinausgeschlüpft, um sich heimlich von ihrem Axel zu einer Nachenfahrt entführen zu lassen. Die beiden wollten noch einmal die Poesie ihrer jungen Liebe auskosten. Das morgige Fest war das Fest der Tanten und der Schwiegermütter, nicht das ihrige. Und dann wurden die zwei Füllen ins Joch gespannt, damit er dem Staat diene und sie dem Hauswesen. Morgen mußten sie unterducken, mußten ins Herkömmliche, Fadengerade hinein. Aber heute waren sie jung und frei, heute führte er sie noch einmal zurück zu dem grünen Ursprung ihres Glücks.

Ihr Ziel war ein stiller, einsamer Werder, flußaufwärts gelegen, mit mächtigen uralten Baumbeständen, verwilderten Parkanlagen und einem ehemaligen herrschaftlichen Landhaus, das jetzt als Sommerwirtschaft diente. Der Fluß hält das schmale langgezogene Inselchen mit zwei Armen von ungleicher Breite und Stromgeschwindigkeit umspannt; eine Fähre, die über den Hauptstrom führt, verbindet es mit dem Lande und ist an schönen Sommersonntagen in unausgesetzter Bewegung, denn alsdann pilgern die geputzten Städter scharenweise die anmutigen Flußauen entlang, um den Werder mit Tanzmusik und dem Gelärme der Kegelbahn zu erfüllen. Heute aber, als am Werktag, lag das Flußufer mit seinen hohen Erlen und Platanen in tiefer, grüner Einsamkeit, und Thora hätte den Weg lieber zu Fuße an Axels Arm gemacht; aber dieser konnte sich nun einmal die Freude nicht anders als zu Wasser vorstellen.

Thora saß am Steuer, wie der Frühling in Person, im blumigen, kurzärmeligen Musselinkleide, das im Schnitt gar putzig an die Zeit erinnerte, wo der Großvater die Großmutter nahm, das feine Köpfchen mit den blaßgoldenen, vom Lockengeringel umgebenen Flechten durch einen großen Hut im Stil des Directoire geschützt, der das durchsichtige, blasse Rosenrot ihrer Wangen mit einem schwarzen Samtband verführerisch einrahmte. Wie ein hingehauchtes Pastellbild im schön stilisierten Rahmen war die Liebliche anzuschauen, und über ihrem ganzen Wesen lag jener unbeschreiblich zarte vergängliche Duft der Eglantine, der zu sagen scheint: »Heute, nur heute bin ich so schön.« Axel hatte seinen Rock abgestreift und ruderte im weitmaschigen Trikot, den kräftigen männlichen Hals und die muskulösen Arme der Sonne preisgegeben, die sie in häufigen und langen Liebkosungen schon mit einem schönen goldbronzenen Hauch gefärbt hatte. Zuweilen beugte sie sich vor, um ihm liebevoll mit ihrem Tüchlein die vordringenden Schweißperlen von der Stirn zu wischen, wofür er ihr durch ein Nicken und Lächeln dankte. Beide schwiegen; in der atemlosen Schwüle des Sommernachmittags hörte man keinen Laut als das Rinnen des Wassers, das taktmäßige Eintauchen der Ruder und von Zeit zu Zeit jenseits der Auen den melodischen Ruf der Goldammer über den gemähten Wiesen.

»Warum wir nur so stille sind?« begann sie plötzlich. »Früher hatten wir uns immer so viel zu sagen. Weißt du noch? Von allem sprachen wir. Und ereiferten uns und stritten und konnten kein Ende finden und waren entzückt, wenn wir uns doch verstanden hatten. Jetzt sind wir stumm wie die Fische; warum doch nur?«

Er sah ihr, auf den Rudern ruhend, mit einem langen abwesenden Blick ins Gesicht und gab keine Antwort.

»Ja, so ist es immer, wenn ich ein Gespräch anfangen will,« begann sie mit verstelltem Unwillen von neuem. »Du siehst mich an, lächelst und antwortest nicht, und es ist, als ob du mich gar nicht hörtest.«

»Ob ich dich höre!« entgegnete er, ohne Stellung und Miene zu wechseln. »Ich höre dich mit den Ohren, mit den Augen, mit allen Sinnen, mit meinem ganzen Sein. Deine Stimme ist ja das, was ich zuerst an dir geliebt habe. Sie kommt zu mir wie aus einer anderen Welt, sie ist um mich wie ein tiefes reines Spiel der Glocken, ich sauge sie in mich, und mein Ohr möchte noch ihre letzte Schwingung festhalten. Aber was du sagst, du Geliebtes, das spricht nur einen Teil meines eigenen Wesens aus; mir selber brauch' ich doch nicht zu antworten.«

»Da können wir ja eine Taubstummenehe zusammen führen, Axel. Früher war es doch anders.«

»Früher, ja. Da waren wir sehr redselig. Aber jetzt – jetzt ist das alles in uns, wir haben unsere Seelen zusammengegossen, darum gibt es keinen Austausch mehr.«

»So ist es jetzt mit allen gemeinsamen Interessen vorüber, weil wir uns besitzen?«

»Ganz vorüber. Wir wissen nur, daß wir sind, und daß wir beisammen sind. Du und ich. Ich und du. Und weiter nichts.«

»Ist das auch recht, Axel?«

»Es ist recht, weil es ist und nicht anders sein kann. Es ist das flammende Scharlachrot der Liebe, das keine andere Farbe neben sich duldet. Es ist der Mittsommer der Seelen, die große glühende Stille, wo jeder Laut und Gedanke untergeht. Nur ein eintöniges elementares Summen geht über die Erde, worin alle Töne der Schöpfung zusammenfließen: Ich und Du, Du und Ich. Weiter gibt es nichts, weiter wollen wir nichts. Es ist das Meer, worein alle Quellen münden. Jetzt können wir nur noch zusammen schweigen. Weißt du nicht, du Süßes, daß dies das Höchste und Tiefste ist, was zwei Menschen erreichen können: zusammen schweigen?«

»Ja, ich weiß. Aber zuweilen erschreckt es mich, dieses Ungeheure, Uferlose, was uns jetzt hat. Es wird mir bang in dieser gespannten Stille.«

»Kinder singen, wenn ihnen bange wird. Sing ein Lied, Thora, süße kleine Törin.«

»Was soll ich singen, Axel?«

»Unser Glück, Thora, unser großes einziges Glück. Sing mir ein Lied vom Glück.«

Sie schmetterte ein paar jubilierende Läufer über das Wasser, um ihre Stimme zu probieren, verstummte dann plötzlich und ward nachdenklich.

»Ich weiß kein Lied,« sagte sie wie mit Verwunderung.

»Du wußtest doch sonst so viele. All unsere lieben Volkslieder – die weißt du nicht mehr?«

»Die weiß ich noch alle. Aber ich weiß kein Lied vom Glück. Sie handeln alle vom Leid und von der Sehnsucht. Axel, sag du mir ein Lied vom Glück, aber ein schönes, tiefes, großes.«

Axel besann sich, dann mußte er zugeben, daß auch er kein solches kenne.

»Aber wie geht das zu?« rief sie. »Sind denn noch nie zuvor Menschen glücklich gewesen? Oder singen sie nur nicht mehr, wenn sie glücklich geworden sind, wie die Vögel, die ihr Nest gebaut haben?«

Axel schwieg; die Lösung der Frage ging auch über sein Vermögen.

»Es ist sonderbar,« sagte er nach einer Pause. »Ich habe mein ganzes Gedächtnis durchsucht, aber es ist wirklich so. Die Lieder vom Glück sind alle banal und ohne Herzenslaut. Hier ist eine Lücke in unserer Kultur, wir haben kein Lied vom Glück! Wie schade, jammerschade, daß ich kein Dichter bin. Ich weiß genau die Tonart, aus der es gehen müßte; wenn ich nur die Worte dazu hätte. So was Tiefes, Starkes, Ursprüngliches – o wer es aussprechen könnte, dieses Ich und Du – vielleicht kann es niemand.«

Aufs neue wurde es stille zwischen den beiden, und man vernahm nur das Klatschen der Ruder, bis Thora, die mehr und mehr ins Träumen versank, mit ihrer eigentümlich ergreifenden Altstimme vor sich hin zu summen begann, aber kein Lied vom Glück, sondern eine wehmütig-graziöse Melodie voll tändelnder Klage.

»Es ist ein altes französisches Liedchen,« sagte sie wie abbittend auf seinen verwunderten Blick. »Es paßt ja gar nicht her, aber wunderlicherweise geht es mir gerade heute durch den Kopf, nachdem ich es seit Jahren vergessen hatte. Als ich ein Kind war, hörte ich's zuweilen meine Großmutter singen. Die hatte es von ihrer Mutter und wußte es selber nicht mehr recht. Mir ist nur der Refrain hängen geblieben, so ein verschollenes Stückchen Rokoko, eine rechte Meißener Porzellanmelodie, in der Schäferinnen tanzen und aus der es hervorflattert wie von vergilbten himmelblauen Bändern.«

Auf seine Bitte sang sie mit lauterer Stimme:

»Le temps que je regrette,
C'est le temps des amours.«

Aber nun wurde er böse, denn er hatte keinen Sinn für ihre großmütterlichen Reminiszenzen; er wollte aus ihrem Mund nur hören, was sich auf ihn selbst bezog.

»Ein solches Lied am heutigen Tage!« rief er vorwurfsvoll.

»Ich wollte es ja nicht singen, du batest mich darum.«

»Aber du hattest es doch im Sinn.«

Nun zankten sich die zwei zur Abwechslung ein Weilchen, dann wurden sie still und lehnten sich zurück, indem er nur auf seine Ruder, sie auf die grüne Welle, die sich vor ihnen teilte und breit vorüberrollte, zu achten schien. Aber lange konnten sie nicht so verharren.

Plötzlich neigte Axel sich über seine Ruder vor und suchte mit den Augen ihre Augen, bis auch sie sich ihm entgegenneigte und ihre Lippen sich von selbst begegneten.

Unterhalb der Fähre befestigte Axel sein Flachboot im Weidengestrüpp, und sie sprangen flink die Uferböschung hinan. Der Park empfing sie mit dem warmen Dunst seiner immerwährenden Feuchtigkeit, in den sich der Geruch des blühenden Holunders mischte. Ganz so hatte es vor einem Jahr geduftet und geblüht, als sie sich hier beim Sommerfeste zum ersten Mal fanden, nur daß die einsamen Alleen und stillen Wiesen damals durch all die weißen, blauen und rosaroten Kleider in ein buntes Blumenbeet verwandelt waren. Aus dem Pavillon, der jetzt mit seinen geschlossenen Jalousien still und verschlafen in sonniger Schwüle träumte, drang jenes Tages die Tanzmusik, außen in der Laube hinter Steinkrügen und Kaffeekannen saß die beiderseitige Verwandtschaft, abseits aber unter hohen Bäumen gingen mit klopfenden Herzen zwei junge Menschenkinder, die Tanz und Kaffeekanne vergaßen, weil ihnen zum ersten Male der Sinn des Lebens aufgegangen war.

Thoras Augen fragten: »Weißt du noch?« und Axel nickte.

O die schöne, schöne Welt! Und jetzt wurde sie immer noch schöner. Wer soll es nur tragen, all das Glück. Er und Sie! Sie und Er! Und so fortan immer zu zweien. Keine Störung mehr, keine Mutter, die sie rief, wenn sie zu lang im Nebenzimmer flüsterten, kein »es schickt sich nicht«. Das Leben ein seliger Traum und doch so sicher, so fest gegründet. Denn die beiden zweifelten nicht, daß ihr Bund schon im Schöpfungsplan gelegen habe. Damit sie sich finden konnten und so jung und schön und zeitlos selig nebeneinander hinschreiten, war vor Hunderten, vielleicht Tausenden von Jahren dieses Inselchen aus den Wassern gestiegen, ja und die Millionen von Fäden, die seit Urbeginn durcheinander liefen, um das Menschenschicksal zu weben, sie waren nur geschlungen, um dieses eine große Glück zu ermöglichen. Sie drückten sich gegenseitig den Arm, ein wortloser Hymnus, ein stummes Freudelallen stieg gemeinsam aus ihrem Busen auf.

Doch sobald sie aus dem Umkreis des Gebäudes waren, wurden sie ausgelassen wie Schulkinder, die ihre Ferien auskosten wollen. Er hatte ihr die langen Filethandschuhe ausgezogen, auch den geschmückten Strohhut, den sie im Buchenschatten nicht brauchte, ließ sie sich von ihm abnehmen und hing ihn an seinen langen Bändern um Axels Arm. Dann faßte er sie unter und fing mit ihr unter dem grünen Buchendom auf dem grasdurchwachsenen Kiesweg zu laufen an. »Eins, zwei – eins zwei! Brust heraus, Kopf hoch! Heute schickt sich das noch, heut sind wir junge Leute. Morgen heißt mein Mädchen ›Gnädige Frau‹ und muß würdig tun.«

Wie im Schrecken über diese Aussicht riß sie sich von ihm los und setzte mit zusammengefaßten Röcken in breitem Sprung über den Graben. Drüben auf der noch ungemähten Waldwiese wuchsen in Menge die abenteuerlichen Orchideen, die in ihren launenhaften Verkleidungen als Turban, als Pantöffelchen, als Biene, die an einer Blume saugt, einen übermütigen florealen Mummenschanz aufführten. Alle mußten sie dran glauben und wurden von Thoras kunstfertigen Händen mit großen lila Glockenblumen, zarten Lichtnelken, duftigem Labkraut und blühendem Liguster zu einem phantastischen Riesenstrauß gebunden, dessen Farbenübergänge große, lichte Farnwedel schön vermittelten. Immer tiefer lockten die Blumen ins versponnene Gehölz, und so oft er ihr die hemmenden Zweige aufhob, mußte sie mit einem Kusse Torgeld bezahlen. Nur die Sonne sah durch die grüngoldene Blätterwand, wie die zwei verliebten Schmetterlinge umeinander jagten, gaukelten und kosten. Die Sonnenstrahlen blinzelten einander zu und sagten: »Wo die beiden sind, da ist das Paradies. Daß sie doch nie heraus müßten!« – Aber die Sonne ist alt, sie glaubt nicht mehr an so schöne Dinge. Und weiter sagt sie: »Alle müssen heraus. Aber die meisten verlieren sich so langsam, schrittweise aus dem schönen Garten, daß sie es kaum bemerken; und wenn sie ihn hinter sich haben, so haben sie zugleich schon vergessen, wie es drinnen aussah. Und leben ganz zufrieden so weiter. Aber sie, die Unglückseligen, die herausgewirbelt werden auf einen Schlag, die allein mit ausgestreckten Armen am Ufer stehen bleiben, während ihr verlorenes Glück den Strom hinuntertreibt! Wer soll sie trösten? Das kann auch ich, die Sonne, nicht. Nur die kühle Erde, die kann's.«

Doch die zwei hörten nicht, was die Sonne sagte, und hätten auch nur dazu gelacht. Mit ihnen fing ja die Welt von vorne an, auf sie brauchten die tausendjährigen Erfahrungen nicht zu passen.

Auf einer trockenen, mit dürrem Laub und Fichtennadeln bestreuten Lichtung warf Thora sich atemlos und erhitzt zum Rasten nieder; aber kaum hatte Axel sein Gesicht in ihren Schoß gebettet, als sie durch ein Rascheln aufgeschreckt wurde und schnell in die Höhe sprang.

»Es war eine Eidechse,« sagte Axel und wollte sie wieder zum Sitzen niederziehen; aber sie wehrte ab und horchte, denn ihr war, als hätte sie einen Schritt gehört.

Alles war wieder still, doch die Lust zum Sitzen war ihr vergangen. Sie schlugen sich weiter durchs Gestrüpp und kamen zu einer einzelstehenden hohen Tanne, um die sich eine ganze Familie kleiner und allerkleinster Bäumchen, ihre Schößlinge und Sämlinge, angesiedelt hatte.

»Hier können wir unterkriechen und rasten, diese wackere Familienmutter nimmt uns in ihren Schutz,« meinte er, einen der großen niederhängenden Zweige aufhebend, unter dem sich eine stille, grüne Klause, von lichter Dämmerung umflossen, auftat.

»Ich mag nicht sitzen,« war ihre Antwort, – »hörst du nicht, da raschelt es schon wieder.«

»Aber ich höre gar nichts,« sagte er ungeduldig, »sei doch nicht so furchtsam!«

Jetzt raschelte es noch näher. – »Es sind doch Schritte,« sagte sie.

»Torheit! Zu Schritten gehört auch einer, der sie macht. Es sind Eidechsen, da – da siehst du sie ja!«

Gleich wollte er seinen etwas brummigen Ton wieder gutmachen, indem er das kleine braune Mal auf ihrer Wange, das ihm besonders gefiel, mit den Lippen suchte, aber sie scheuchte ihn mit kindischem Trotz hinweg und hieß ihn die wilde Iris pflücken, die sie zwischen den Erlen entdeckt hatte. – Er brachte die Blume und glaubte sich nun auch seine Belohnung dafür holen zu dürfen, doch sie wehrte abermals ab.

»Dort steht noch eine, tiefer im Gestrüpp, die muß ich auch noch haben!«

Mit einem Laut des Unmuts sprang er ins Gebüsch und verschwand zwischen den Erlen.

»Axel, Axel!« rief sie, schon bereuend, ihn verscheucht zu haben.

Er blieb verschwunden. Nach kurzem hörte sie ein Knicken und Knacken in den Ästen, ein Rauschen und einen leisen Fall, dann ein eiliges Huschen und Rascheln, und gleich darauf war wieder alles stille wie zuvor. Sie schlüpfte ihm mit gebücktem Kopf durch das von Schwüle dampfende Dickicht nach, wo sie bei jedem Schritt mit ihrem leichten Kleidchen hängen blieb, und fand sich nach einigem Herumtasten überrascht vor einem mit Stacheldraht umsponnenen Zaun, der den Park gegen den seichteren Flußarm schützte; durch seine morschen Latten schimmerte das stille Wasser herauf. Hier war die Welt buchstäblich mit Brettern vernagelt; sie mußte den Rückzug durch das Erlengesträuche antreten, suchte den Weg, auf dem sie gekommen waren, verlor ihn bald wieder und wand sich planlos durch das wuchernde Laub- und Nadelgehölz, wo giftig-rote gelbgesprenkelte Pilze sie frech angrinsten und der kriechende Wacholder mit hundert Armen nach ihren luftigen Geweben, die sie eng um sich zusammenzog, häkelte. Nichts war zu hören als der entfernte Strom, der das leise nahe Rinnen seines Nebenarmes laut übertönte. Auf ihr immer ungeduldigeres Rufen gab nur eine Lachtaube unsichtbar Antwort, wie um sie zu verspotten. Endlich hielt sie inne und stand ratlos. Als sie in der Entfernung wieder ein Geräusch zu hören glaubte, lief sie der Richtung nach über eine sonnige Waldblöße, wo die Nadelstreu vor Dürre knisterte und der weißliche Bofist mit leisem Knall zu ihren Füßen zersprang, erreichte am Ende die Platanenallee, die das verwilderte Gehölze schräg durchschneidet und sah sich auch dort allein. Anfangs war sie nur ärgerlich gewesen, weil der Scherz ihr zu lange dauerte, dann hatte das Suchen und Irregehen ihre Einbildungskraft aufgeregt und ihr Herz zu schnelleren Schlägen getrieben; jetzt aber, als sie die lange, leere Allee hinauf und hinunter blickte, befiel sie eine jähe Bangigkeit, eine ganz unvernünftige Furcht, er sei von geheimnisvollen Mächten erfaßt und entrückt worden. Der weite, öde, rings von Wasser umfaßte Park mit seinen Alleen, die nebeneinander herliefen, sich kreuzten, verschlangen, mit seinem undurchdringlichen Dickicht, wo man von allen Seiten das Branden des Stromes vernahm, schien ihr ohne ihn ein schauriges, von Unterweltsströmen umschlossenes Labyrinth. Sie zürnte mit den Blumen in ihrer Hand und wollte sie wegwerfen, aber hielt sie nur desto fester. Aus einer dunklen, unbekannten Tiefe kam etwas über sie gekrochen, eine Ahnung vom Weh der Welt, von dem vorherbestimmten unvermeidlichen Ende alles Glücks. Sie wehrte sich gegen die törichten Gedanken, sie stampfte mit dem Fuß, um der Beängstigung Herr zu werden, und suchte sich selber zu überzeugen, daß er in der Nähe sei und sie necke; aber es klang ganz erzwungen und krampfhaft, wie sie rief: »So komm doch hervor, ich sehe dich ja!« – und dann wieder laut und schrillend: »Axel, Axel!«

Plötzlich versagte ihr die Stimme, und ihre Augen starrten weit offen nach einer Erscheinung. Einer der Bäume hatte sich in eine weibliche Gestalt von unnatürlicher Größe verwandelt mit langem, hagerem Hals, barfüßig, in schlotterndem dunkelgrünem Rock und graubraunem grobgestricktem Kamisol, das an rissige Baumrinde erinnerte. Aus einem noch jungen, aber ganz verwitterten Gesicht, das halblang geschnittene schwarze Haare schlaff umhingen, blickten zwei dunkel umränderte Augen mit toter Traurigkeit, und eine bläulich kalte Hand bewegte sich wie mitleidig oder entschuldigend gegen das junge Mädchen, ehe die seltsame Gestalt ins Gehölze zurückglitt. Im nächsten Augenblick stand an ihrer Stelle wieder der Baum, und nur ein leichtes Knicken im Gebüsch bezeugte, daß es wirklich ein menschliches Wesen war, das sich entfernte.

Unter Thora waren die Kniee eingesunken, sie glitt auf die am Wege stehende Bank und saß wie in plötzlicher Erschöpfung, die Hände schlaff im Schoße. Sie wußte nicht, hatte sie wachend oder träumend dieses Phantom gesehen, aber sie fühlte, daß das Unglück sie gestreift hatte und daß sie in seinem Banne war. Sie rief auch nicht mehr; es war ihr, als würde er sie doch nicht hören, als wäre er schon lange, lange gestorben und sie mutterseelenallein in einer fremden und gespenstischen Welt.

Da kam es geduckt in unhörbaren Sprüngen heran, das Gezweig rauschte in ihrem Rücken; zwei warme, wohlbekannte Hände, die eine mit ihrem Ring, legten sich von hinten über ihr Gesicht.

»Axel! Axel!«

Es war ein Schrei, der ihn erschreckte.

»Thora! Süße, kleine Törin, da bin ich ja.«

Sie war aufgesprungen, das Leben hatte sie wieder. Aber sie flog nicht in seine Arme, ihre ausgestandene Angst wandelte sich in Zorn, ihre Augen sprühten.

»Abscheulicher, ich hasse dich!«

Sie schlug nach ihm, und da er ihr die Hände festhalten wollte, kratzte sie ihn mit den Nägeln.

»Süße Wilde, ich liebe dich.«

Entzückt hob er sie in den Armen auf und lief mit der leichten Last die Allee abwärts. Sie hielt ganz still und ließ sich tragen. Ihr Herzschlag wurde wieder ruhig, sie drückte den Kopf in unsäglichem Wohlgefühl an seine Schulter, ihr Hut schaukelte noch an seinem Arm. Alle Not war vergessen, das war wieder die heimatliche Erde, die alte Sonne wob in dem grünen Kreuzgewölb über ihren Häuptern, und es gab keine Gespenster noch tragischen Schicksalsmächte mehr.

»Kanntest du denn deinen verliebten Täuberich nicht, der dir Antwort gab?« fragte er.

»Warst du die Taube, du Schlimmer?« fragte sie zurück.

»Nun freilich. Was dachtest du denn, du Närrchen, daß du so schriest? Ich sei dir gestohlen worden, die Nixen hätten mich hinabgezogen?«

»Nichts dachte ich, gar nichts,« gestand sie beschämt. »Es ist das Glück, das in mir mitunter zur Angst, zur Qual wird, ich sagte dir's ja. Und dann ist mir ein Gespenst erschienen.«

Sie beschrieb ihm das grüne Riesenweib, das sich vor ihren Augen aus einem Baum entwickelt hatte.

Axel hatte sie auch gesehen, aber ihm war die Erscheinung nichts Neues.

»Als du mich wegtriebst,« sagte er, »kam sie plötzlich von einem Stamm herabgeglitten und schlich mir nach durch das Gehölz, indem sie mir Küßchen zuwarf. Doch als ich mich nach ihr umdrehte, entfloh sie. Übrigens brauchst du nicht eifersüchtig zu werden, ich bin nicht der einzige, der ihr gefällt. Einem Freund von mir, der hier malte, hat sie sich einmal an die Fersen geheftet und ihn den ganzen Tag nicht verlassen.«

»Aber wer ist denn diese Unholdin?«

»Eine arme Irre, die sie hier bei der Wirtsfrau untergebracht haben. So unhold ist sie gerade nicht. Der Wahnsinn hat ihr Gesicht zerrüttet, aber wenn man sie genauer betrachtet, sieht man, daß sie einmal hübsch war.«

»Die Ärmste,« sagte Thora; jedoch ihre Gedanken waren schon ferne von der Unglücklichen und ganz versunken in ihr eigenes Glück.

Von der Allee zweigte links ein schmaler Seitenweg ab, der sich nach wenig Schritten in die hochstämmige, aber seit lange mit dem Beil des Holzfällers unbekannte Buchenwaldung verlor. Wo er aufhörte, stand ein gewaltiger Baumriese, der eine mächtige, hochgeschwungene Wurzel wie einen vorgestreckten Fuß herausschob. Auf diesem knorrigen Sitz ließ Axel seine Last nieder, warf sich vor ihr zu Boden und umschlang ihre Kniee mit beiden Armen: »Mein Götterkind!« – Und immer auf den Knieen liegend, erzählte er ihr zum hundertsten Mal von all dem unvergleichlich Herrlichen, das er in ihr entdeckt hatte, das nirgends sonst auf Erden zu finden war.

Thora leuchtete wie unter einem Strahlenkranz. Sie empfand sich selber ganz so, wie ihr Geliebter sie schilderte, denn Axels Augen konnten ja nicht falsch sehen, und sie war entzückt von ihrer eigenen Herrlichkeit, aber nur um seinetwillen, weil sie ihm so viel zu geben hatte. Wäre ihr in diesem Augenblick eine Königskrone angeboten worden, sie hätte sich nicht gewundert, hätte aber auch nichts Begehrenswertes daran gefunden.

Doch jetzt drohte eine Störung. Feste, gleichmäßige Männertritte erschollen in der Allee, man hörte sprechen. Thora wurde unruhig.

»Ich bitte dich, Axel, steh auf, es kommen Leute.«

»Laß sie kommen,« sagte er, sich dicht neben sie setzend.

»So rücke wenigstens etwas weiter weg.«

»Fällt mir nicht ein.«

Die Spaziergänger waren schon ganz nahe. Sie hatten lustige, jugendliche Stimmen, und jetzt verstand man auch, was sie sprachen.

»Ich bin sicher, daß wir sie finden,« sagte der eine.

»Sie wächst in der ganzen Gegend nirgends als hier. Es ist geradezu Zweck dieses Werders, die Calla palustris hervorzubringen.«

Axel preßte Thoras Arm mit lautlosem Lachen, wie um zu sagen: »Die Narren! Das wissen wir besser.«

Thora aber flüsterte aufgeregt: »Es sind Botaniker, die schlüpfen ins Gebüsch; die Sorte ist gefährlich.«

»Bleib nur still, sie sind schon vorüber.«

Aber ganz in der Nähe des Verstecks blieben die zwei Störenfriede stehen, und der andere fing an: »Ja, was ich sagen wollte: die Ehe wäre eine vortreffliche Institution, wenn nur die menschliche Natur anders wäre. Ich weiß nicht, wer der Weise war, der zuerst das große Wort aussprach: ›Die Menschen lieben sich zu ungleichen Zeiten‹; aber recht hat er.«

Die Verliebten im Gebüsch lachten wieder heimlich über diese Weisheit und drückten sich fest die Hände.

»Nun denke dir einmal,« fuhr der Sprecher fort, »du bist gerade zärtlich aufgelegt, möchtest mit deiner Henriette oder Melanie –«

»Geh mir weg!« rief der andere, »mein Mädchen muß einen deutschen Namen haben –«

»Meinetwegen. Also du möchtest deine Helga oder Kunigunde in den Arm nehmen, sie halbtot küssen; sie aber sitzt eben am Klavier, ist feierlich gestimmt, denn sie spielt den Beethovenschen Trauermarsch –«

»Fehlgeschossen! Ich heirate keine, die Klavier spielt.«

»Gleichviel, laß sie vor der Staffelei sitzen oder auch nur einen spannenden Roman in der Hand haben, sie ist nicht gestimmt, eure Herzen schlagen nur einen Augenblick nicht unisono, und sofort ist der Mißton da. Oder laß es umgekehrt gehen: du sitzt an deinem Arbeitstisch und bist eben einem großen Gedanken auf die Spur gekommen, da tritt Frau Kunigunde herein –«

»Dann schon lieber Helga.«

»Du gibst ihr einen Wink, daß sie störe, sie stutzt und trutzt, die Verstimmung ist fertig, der neue Gedanke aber ist weg. Ach, es ist etwas Schmerzliches um solche Gedankenkindsmorde. Ich sage dir, Lieber, die Ehe ist eine Rechnung, die niemals aufgeht. Und doch denke ich zuweilen: es gäbe ein Auskunftsmittel –«

Hier entfernten sich die Schritte; man erfuhr nicht mehr, was es für ein Auskunftsmittel gäbe.

Aber das Pärchen in seinem Versteck sollte noch keine Ruhe bekommen.

Vom oberen Ende der Allee kamen hart aufstoßende Männertritte, mit denen leichte, fast geräuschlose Frauenschritte Takt hielten, und die Luft trug vereinzelte Fetzen einer übellaunigen Unterhaltung herüber. Der Mann beschwerte sich in grollenden Lauten über die schlechte Bedienung in der Gartenwirtschaft, und eine schwächliche Frauenstimme, die jeden Augenblick abzureißen drohte, sprach in klagenden Fisteltönen dazwischen. Ihre Einwendungen schienen seinen Ärger nicht niederzuschlagen, sondern noch mehr anzuschüren.

»Natur! Natur!« hörte man ihn voll Ingrimm rufen. »Eine schöne Naturfreude, über Baumwurzeln stolpern mit einer wimmernden Frau, die entweder schmollt oder den Kopf hängen läßt.«

Es war augenscheinlich eine Ehestandsszene, was sich da abspielte, die lebendige Illustration zu dem Gespräch der beiden Junggesellen, das vielleicht eben durch eine Begegnung mit dem mißvergnügten Paare hervorgerufen war.

»Macht, daß ihr fortkommt!« flüsterte Thora in drolliger Empörung, »ihr gehört nicht an diesen Ort.«

Aber das mißvergnügte Paar tat ihr diesen Gefallen nicht. Es kam vielmehr immer näher, und der Wortwechsel wurde immer peinlicher.

»Du glaubtest einmal, ohne diese Frau nicht leben zu können,« piepste die Weinerliche.

»Ja, meine Hochverehrte,« antwortete er mit ingrimmigem Hohn, und man meinte das grausame Lächeln zu sehen, das diese Worte begleitete, – »man sieht eben, wenn der Schaum verperlt hat, daß das Herbe mit dem Zarten doch nicht immer die beste Mischung gibt.«

Jetzt waren sie in gleicher Linie mit dem Liebespaar, und Thora zitterte aufs neue, in ihrem Schlupfloch ertappt zu werden. Axel lachte leise zu ihrer Furchtsamkeit.

»Du liebes Thörchen,« flüsterte er, »glaubst du, wenn zwei einmal in solchem Ton miteinander reden, die kriechen noch zusammen in die Büsche?«

Vor dem Seitenweg war die gekränkte Frau stehen geblieben.

»Das sagst du mir hier, gerade an dieser Stelle? Weißt du nicht mehr, was dieser Ort für uns bedeutet?«

»Das weiß ich wohl, aber je schöner die Dinge sind, desto kürzer währen sie. Damals war ich ein verliebter Narr.«

»Als wir das letzte Mal herkamen, sprachst du noch anders. ›Ewig, ewig,‹ sagtest du, ›nichts kann jemals zwischen uns treten; nie kann das aufhören, was wir einander sind und waren.‹«

»Nun ja,« antwortete der Mann in freundlicherem Ton. – »Was willst du? Ich habe dich ewig geliebt. Was nennt man ewig? Wovon man sich das Ende nicht denken kann. Der Erdball dreht sich, bis er in Stücke geht, und hernach ist's ewig gewesen! Ebenso geht es in der Liebe auch. In hundert Ehen, die ich kenne, ist's nicht anders. Ja, und jede Liebe endet einmal so. Aber die Leute leben glücklich, weil sie nicht das Unmögliche möglich machen wollen.«

»Weil's ihnen am Ende im Sumpf bequem wird,« rief die Frau mit dem Ausdruck unsagbarer Bitterkeit – »und sie vergessen haben, wie's droben im Sonnenschein war.«

»Das sind deine Überspanntheiten. In Frieden leben und die Dinge nehmen wie sie sind, heißt nicht im Sumpf leben. Übrigens, es ist wahr, die meisten haben etwas mehr als wir, sie haben Kinder.«

»Kinder!« rief sie, und man hörte am Ton, daß der Stich ins Herz getroffen hatte. »In den ersten Jahren warst du glücklich, keine zu haben, weil wir so ungestörter eins dem andern leben konnten.«

»Das war falsch, wenigstens für deinen Standpunkt,« entgegnete er, mit dem Spazierstock das niedere Gebüsch zerhauend, daß die Blätter flogen. »Nicht daß die Kinder die Liebe der Gatten erhöhten oder erhielten, ich glaube das nicht. Aber sie sind ein äußeres Bindemittel. Die Eltern beschäftigen sich mit einem gemeinsamen Gegenstand und meinen, sie beschäftigten sich miteinander. Übrigens glaube nur nicht, ich mache dir einen Vorwurf daraus, keine Kinder zu haben. Nichts liegt mir ferner. Ich bin es ganz zufrieden, daß ich nicht in die Zukunft zu sorgen brauche und daß wir das bißchen Wohlstand, das uns endlich zugefallen ist, ohne Skrupel genießen können! Alles wäre gut ohne deine törichte Empfindelei.«

Die mißhandelte Frau schien jetzt ihr ganzes Selbstgefühl zusammenzuraffen. »Ich bin nicht empfindlich,« erklärte sie mit Würde. »Ich wehre mich nur gegen die Beleidigung, daß ich hinter jeder, jeder anderen Frau zurückstehen soll.«

»Daß du das nicht begreifen kannst! Jede, jede andere Frau ist schöner als die eigene. Das ist ein Naturgesetz. Was läßt schön erscheinen? – Das Begehren. Und was begehrt man? – Was man nicht besitzt. Aber bringe einer Logik in ein Frauengehirn!«

»Hans!« rief die Frau außer sich. Es klang schrill und doch tonlos, wie wenn man an eine zersprungene Schale schlägt.

Der Mann schien trotz seiner Roheit zu fühlen, daß er zu weit gegangen war.

»Komm, komm, mach keine Szene,« hörte man ihn sagen. »Es ist nicht bös gemeint. Du treibst mich nur so weit durch deine Vorwürfe. Komm, gib mir den Arm. – Was, du willst nicht? Nun meinetwegen.«

Die zwei gingen weiter durch die Blätter raschelnd, er hüben, sie drüben, mit der ganzen Breite der Allee zwischen sich, die hier die Breite der ganzen Welt bedeutete.

Axel war hinter seinem Gebüsch emporgesprungen und hatte die Fäuste geballt. »Du Bestie,« sagte er leise. »Wäre ich nicht unsichtbar, du solltest meine Meinung zu spüren bekommen.«

Thora aber saß starr mit ganz erbleichtem Gesicht.

»Hat dich das so erschüttert, Liebste?« fragte er, ihre Hände streichelnd.

»Der schlechte Mensch, der gemeine Mensch – der schlechte, schlechte Mensch,« wiederholte sie nur immer, am ganzen Leibe bebend.

»Sag: der Elende, der Unglückselige,« antwortete Axel. – »Denn wer ist unglücklicher, als wer sich selbst nicht treu bleiben kann, wer die Ideale seiner Jugend verloren hat und damit den Zusammenhang zwischen seinem heutigen und gestrigen Ich? Welche Macht soll den über den breiten Schlamm der Gemeinheit emporhalten?«

Reine Jugend hat in ihrer Begeisterung oft den Seherblick für Dinge, von denen ihre Erfahrung noch nichts wissen kann. So war Axel. Zuweilen sprach es aus ihm heraus wie durch höhere Eingebung. Dann staunte seine Thora ihn an wie ein Gefäß der Wahrheit.

Aber heute gingen ihre Gedanken nicht den Weg seiner Betrachtungen.

»Und diese zwei sind einmal hier gesessen wie wir, Axel, und haben nichts gewußt und gewollt, als eins das andere! Ist das zu fassen? Der rohe Mensch hat zarte, innige Liebesworte geredet, die piepsende, weinerliche Frau war vielleicht ein silberstimmiges junges Mädchen, das glaubte, mit ihm in die Pforten des Himmelreichs einzugehen!«

»Laß sie! Was gehen uns die Menschen an! Mögen sie's treiben, wie sie können. Wir zwei sind eins des andern sicher; wir halten fest, was wir gewählt haben. Denn unser Einssein ist ja zugleich unser Sein, das eine läßt sich nicht auflösen ohne das andere. Wenn wir aufhörten uns zu halten, so hätten wir zugleich schon aufgehört zu existieren.«

»Wirst du nie anders denken, Axel?«

»Anders denken? Das wäre ja so unmöglich, wie – wie –,« er suchte einen Vergleich, fand keinen, »es wäre einfach unmöglich,« schloß er.

Aber das trauliche Plätzchen war wie verunreinigt durch den Gedanken an solche Vorgänger, und sie verließen es, ohne einen Blick zurückzuwerfen. In der Allee war es dunkel geworden, als hätte auch die Sonne sich vor der Begegnung mit den zwei Unausstehlichen zurückgezogen. Die Vögel gaben bängliche Laute von sich, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters. Auf der Wiesenfläche, wo niedergelegte Heuschwaden sinnverwirrend süße Düfte ausströmten, sah man, daß der Himmel von einem milchigen Flor bedeckt war, durch den das unsichtbare Gestirn wie mit vergifteten Dolchen stach, und die Liebenden beeilten den Schritt, um noch trocken unter Dach zu kommen.

Schon fiel der Regen, als sie den offenen Wirtsgarten erreichten. Die Wirtin, eine starke, grobknochige Schwäbin, bekannt für ihren Mutterwitz und die wunderlichen, halb philosophischen Sprüche, die sie zuweilen von sich gab, begrüßte das junge Pärchen, dessen Liebe unter ihren Augen aufgeblüht war, mit einem besonderen Wohlwollen und führte sie ins Haus, weil die wenigen geschützten Plätze im Garten besetzt waren. Im Saal aber deckte man eben für ein Festessen, das ein Sängerklub auf den Abend bestellt hatte, und auch im Nebenzimmer war kein behagliches Eckchen frei, wo die zwei die Schüssel Sauermilch, nach der sie lechzten, con amore zu sich nehmen konnten. Sie würde ihnen gerne im Pavillon den großen Tanzsaal aufschließen, meinte die Wirtin, aber sie wären auch drüben nicht ungestört, da man soeben den Klavierstimmer aus der Stadt erwarte. Sonst habe sie ihnen leider nichts anzubieten als ein halbdunkles Stübchen gegen den Hof, das freilich nicht auf Gäste eingerichtet sei, wo man aber wenigstens trocken sitze. Damit ging sie über den Gang voran und öffnete ein längliches Kabinett mit Holzverkleidung, das sein Licht durch ein kleines Fenster unter der Decke erhielt und vorzeiten ein altdeutsches Trinkstübchen vorgestellt haben mochte, jetzt aber seit lange nicht benützt schien, denn es roch beträchtlich nach Moder. Die Frau wischte Bank und Tisch mit ihrer Schürze rein, während sie einen wohlmeinenden Diskurs anspann.

»Also heut wollen Sie von der Lieb' Abschied nehmen, und morgen wird geheiratet?« begann sie in einem Tone, der fast wie Beileid klang. »Da haben Sie noch einen schönen Tag heut, nehmen Sie ihn wahr, nehmen Sie ihn wahr. So schön kommt's nicht wieder.«

»Ei,« sagte Axel, indem er sich mit seiner Braut auf der schmalen wurmstichigen Holzbank niederließ, »ich sollte meinen, es komme jetzt noch viel schöner.«

»Na, na, Ehstand ist Wehstand. Ich kann ein Lied davon singen, denn ich hab's mit drei Männern probiert. Freilich, die Ehen werden im Himmel geschlossen, und droben ist's eitel Licht und Glanz, aber wie sie hernach auf Erden aussehen, wo die Beleuchtung schlechter ist, danach fragt der liebe Gott wenig.«

»So? Glauben Sie, er habe kein Herz für seine Kreatur?«

»Ach was! Er nimmt die Sach' in Bausch und Bogen, sonst könnt' er ja gar nicht fertig werden; für ihn bleibt's immer das erste Paar Wenn sie's bunt treibt, so lacht er und denkt: ›Wird schon die Zeit kommen, wo mein Adam den Spieß umdreht‹, und ist anderswo er der Schlimme, dann denkt er: ›So, jetzt zahlt er ihr die Laib' heim.‹ Mit den Liebesleuten kann's unser Herrgott nicht so genau nehmen. Damit müssen Sie sich trösten, wenn einmal die Flitterwochen den großen Fluß hinunter sind.«

Die letzten Worte waren in bemutterndem Tone an die strahlende Braut gerichtet, die die Art der Wirtin schon kannte und völlig unbefangen blieb.

»Sie sind auch von denen, die nicht glauben, daß das Glück dauern kann,« sagte die Schöne mit lächelndem Verweis. »Warten Sie, wir zwei werden Ihnen zeigen, wie das gemacht wird.«

Die ländliche Philosophin war nicht aus ihrem Räsonnement zu bringen.

»Das Glück dauert wohl, es ist immer in der Welt, aber es haben's dann andere,« entgegnete sie trocken und ging nach der bestellten Sauermilch in die Küche.

Die zwei Verliebten lächelten der Unverbesserlichen nach. Jetzt wurde es minutenlang ganz stille in dem Stübchen. Axel hatte sich in Thoras weißen Arm vertieft, dessen entzückend anmutige Modellierung er auf seine Weise studierte, indem er von der Handwurzel aufwärts bis zum Ellbogen einen leisen Kuß neben den anderen darauf hauchte. Die große Hauskatze, die hinter ihnen zur Tür hereingeschlichen war, begleitete diesen Vorgang, den sie zu verstehen schien, mit behaglichem Schnurren, indem sie sich gegen Thoras Kniee drängte. Mit einem Male verdunkelte sich der lichtarme Raum noch mehr, und als ein leichtes Klirren des Fensters ihre Blicke nach oben zog, sahen sie gegen die Scheibe gedrückt ein fahles Gesicht, von schwarzen, regennassen Haarsträhnen umhangen, das Gesicht der Irren, das aus der Höhe auf sie niederstarrte. Die an das Glas gepreßten Lippen waren wie zum Kusse zugespitzt, und ihre Augen hingen mit brennender Sehnsucht an dem jungen Manne. Gleich darauf war sie verschwunden.

»Sind denn heute alle Narren los?« rief dieser unmutig, während das Mädchen auffuhr und vor Schrecken zitterte, weniger über das Gesicht, das sie gleich wiedererkannt hatte, als über das Befremdliche dieser Erscheinung so hoch über dem Boden. Sie mußte sich das Gespenst vorstellen, wie es im Regen heranschlich und an der Außenmauer lang und länger in die Höhe wuchs, bis es mit dem Kopf das Fenster erreichte, um ihre Traulichkeit zu belauschen. Axel meinte, wenn das schöne Kind nicht wie eine Karnevalschere gebaut sei, so werde sie wohl zu diesem Zweck eine Leiter angelehnt haben; doch die wieder eintretende Wirtin belehrte ihn, daß sie das vorspringende Dach eines Schuppens benutzt haben mußte, um das Fensterchen zu erklettern und ihre Neugier zu befriedigen.

»Das arme Ding ist überall und nirgends,« sagte sie, ein weißes Tuch über den Tisch breitend. –»Sie hockt in den Bäumen wie ein Eichhorn und hängt sich ans Gemäuer fest wie eine Fledermaus. Immer sieht man sie da, wo man sie am wenigsten erwartet. Übrigens ist sie ein harmloses gutartiges Geschöpf, auch aus sehr guter Familie, eine Generalstochter. Wir haben sie schon ein halbes Jahr im Hause. Sie wollte sonst nirgends bleiben, aus jeder Anstalt ist sie entkommen; denn sie muß immer im Grünen sein, ob's donnert oder hagelt. Hier tut sie gut, man kann sie ganz freilassen. Fürs Davonlaufen ist gesorgt: sie fürchtet sich vor dem Wasser. Aber sie hat Tage, wo sie unruhig wird, besonders wenn sie ein Brautpaar sieht. Dann läuft sie und versteckt sich, denn sie hat die fixe Idee, daß sie Liebesleuten Unglück bringe.«

»Mir scheint vielmehr, sie hat uns den ganzen Nachmittag umschlichen,« bemerkte Thora.

»Das mag wohl sein. Es läßt ihr eben keine Ruh, sie muß dann aus der Entfernung um so ein Pärlein herstreichen. Die Arme, es ist kein Wunder, nach dem, was sie erlebt hat,« setzte die Mitteilsame hinzu und berichtete, so viel sie selber von diesem zerstörten Leben wußte: daß die Unglückliche durch Jahr und Tag heimlich verlobt gewesen sei, ohne den Widerstand ihrer Eltern brechen zu können, bis sie in Schwermut verfiel, wodurch ihr Vater endlich gezwungen wurde, seine Einwilligung zu geben. Am Hochzeitstage aber habe sie in Kranz und Schleier vergeblich auf den Bräutigam gewartet, der erst Wochen später tot, verunglückt aufgefunden worden sei. Lange Zeit habe sie darauf in völliger Umnachtung zugebracht und führe jetzt halbgenesen eine traurige Scheinexistenz, mehr ein Vegetieren unter Bäumen und Sträuchern als ein wirkliches Leben, und nur durch die Musik, die ihr allein von allem in ihrem Elend geblieben sei, kehre sie vorübergehend ins menschliche Dasein zurück.

Thora, deren Augen sich bei dieser Erzählung unnatürlich erweitert hatten, schob mit wehevollem Stöhnen die Schüssel weg, die ihr die Wirtin eben vorsetzte; diese aber fuhr unbekümmert um die Wirkung ihrer Mitteilungen fort: »Jetzt wird sie ans Klavier gehen und singen. Das tut sie an solchen Tagen immer, und es hilft ihr. Da werden Sie etwas hören, das Sie nicht vergessen; ihre Stimme soll immer das Schönste an ihr gewesen sein; kein Mensch würde sie für irrsinnig halten, der sie singen hört.«

Die Wirtin hatte recht. Kaum daß die Liebenden wieder allein waren, noch mit dem Eindruck des Gehörten kämpfend, wurden drüben im Pavillon die Tasten angeschlagen. Das war nicht der erwartete Klavierstimmer. Ein paar Akkorde mit sicherer Hand gegriffen, ein paar Skalen auf und nieder mit flüchtigen Fingern, dann brach es los wie ein Gewitter, daß die Lauscher festgezaubert saßen. Und über dem Sturm der Tasten erhob sich wie ein Albatros mit mächtigen weißen Fittichen die Stimme der Sängerin: » Per pietà, non dirmi addio!«

Es war etwas in Klangfarbe und Vortrag, als ob der Engel des Schmerzes selber sänge.

Thora fuhr sich mit beiden Händen ans Herz, wie wenn es mitten durchgerissen würde, und folgte atemlos dem herrlichen Sopran durch alle Phasen seines angstvollen Flehens, seines glühenden, verzweifelten Anrufs, bis er in hoffnungsloser Nacht erstarb: » Io d'affanno morirò.«

Das war zuviel für die ohnehin zum Zerreißen gespannten Nerven der jungen Braut. Sie lag an Axels Hals, ihn wie in wildem Jammer umklammernd, während die Stimme der Irren sie dämonisch nachzog, daß sie die letzten verhallenden Noten mitsingen mußte: » Io d'affanno morirò.«

Auch Axel war erschüttert, so hatte er das wunderbare Lied noch nie singen hören.

»Dieser Beethoven!« sagte er. »Er macht mit uns, was er will.«

Sie schoben den Tisch zurück und standen auf. Aber Thora war ganz außer sich. Sie fühlte sich von einem Wirbel erfaßt, der sie in das Schicksal der Unglücklichen mit hineinziehen wollte. Die Unheilsahnung, die sie bei ihrer Begegnung mit der Irren beschlichen hatte, war aufs neue über ihr und mit solcher Macht, daß sie sich selbst von jener kaum zu scheiden wußte.

»Laß uns fort, laß uns fort, ich vergehe hier,« bat sie gequält. »Lieber draußen im Regen als hier Wand an Wand mit dem Unglück.«

Sie sah mit so irren Blicken um sich, daß es Axel angst und bange wurde. Um nichts in der Welt hätte er noch einmal der sentenzenreichen Wirtin standhalten mögen. Er legte den Betrag der Zeche auf den Tisch, und die beiden machten sich, mit dem kleinen Schirmchen bewaffnet, durch eine anstoßende, mit tausenderlei Gerümpel gefüllte Kammer ins Freie, wo sie sich überrascht im schönsten Sonnenschein fanden. Der Boden war beinahe trocken geblieben, nur auf den ausgebreiteten Blättern der Roßkastanien glänzten große Wassertropfen wie in einer festen grünen Schale und fielen einzeln nieder. Die Wolke war mit einem kurzen Guß vorübergezogen und hatte sich irgendwo in der Nähe entladen, wie die eingetretene Frische zeigte. Aus den Baumkronen schmetterten die Vögel voll Übermut, daß ihnen der sonnige Spätnachmittag gerettet war, Hühner stritten sich gackernd um die am Boden liegenden Brocken, und in einer Schaukel zwischen hohen Stämmen schwangen sich stehend zwei kleine weißgekleidete Mädchen, die mit Lust- und Angstgekreisch bis zu den Wipfeln der Bäume flogen.

»Jetzt führ' ich dich an einen Ort, den nur die Nixen des Stroms und die Vögel des Himmels kennen,« sagte Axel, indem er sich mit seiner Gefährtin auf schmalem Kieswege wieder dem seichteren rechten Flußarm zuwandte. – »Dort wollen wir sitzen, bis der Abend heraufkommt, und zusammen die Sterne betrachten, und vergessen, daß der Planet noch andere Bewohner hat als uns.«

Der junge Mann, der jeden freien Sommertag auf dem Fluß zu verbringen pflegte, kannte das Inselchen von innen und außen wie ein liebes Spielzeug. Er suchte den Stachelzaun entlang, bis er ein verschlossenes Pförtchen fand, dessen zerbröckelnde Latten seiner schlanken Gestalt den Durchlaß gewährten, und als die Öffnung ein wenig erweitert war, konnte auch die geschmeidige Thora nachschlüpfen. Hier war man wie in einer anderen Welt. Ein sanfter grüner Rasenhang senkte sich gegen das Wasser hinab, in dem sich ein paar hohe Weidenbäume bespiegelten. Jenseits des Flußarmes dehnte sich eine weite ungemähte Wiese bis zum fernen Waldsaum, ganz besät von unzähligen gelben Ringelblumen, die glänzten wie herabgefallene kleine Sonnen. Dazwischen funkelten noch große Regentropfen wie Diamanten im Grase. Die niedrigstehende Sonne fiel schräg durch das Erlengebüsch und küßte ihre kleinen Schwesterlein, die Ringelblumen, auf der Wiese, daß sie goldener strahlten. Blank und undurchdringlich wie eine Stahlplatte schimmerte das Wasser, das mit fast unmerklicher Bewegung vorüberzog. Der Fluß, der auf der linken Seite des Werders hoch und voll im tiefen Bette dahinrauscht, vertändelt sich hier zwischen blumigen, weltvergessenen Borden, indem er sich erst in leichtem Bogen gegen die Wiese hinüberschwingt, dann enger sich dem Inselchen wieder anschmiegt, in dessen grünen Rasenhang er eine runde Bucht mit enger Mündung gewühlt hat, die jetzt friedlich träumte wie ein kleiner See. Eine außer Gebrauch gekommene Schiffshütte, deren Wände zerfallen, löst sich dort bei Schilf und Weiden ungehindert in ihre Bestandteile auf, ein kleiner Nachen, einst dem letzten Besitzer der Villa gehörig und jetzt von jedermann vergessen, modert darin.

»Hier werden wir sitzen wie in einer Arche, mag es regnen oder stürmen,« sagte Axel, ihr zärtlich seinen Rock in den Nachen breitend. Thora sah nicht rechts noch links, ihre Seele trieb noch auf den uferlosen Wogen des Gesanges.

»Daß die Menschen voneinander müssen!« sagte sie mit strömenden Augen. »Daß der Planet sich nicht halten läßt. Er rollt und rollt, und mit den Tagen und Nächten, die er bringt, bringt er unausweichlich auch den Tag der Trennung.«

»Laß ihn rollen, den Planeten. Heute ist heute. Wer soll uns das je wieder nehmen – und das – und das?« antwortete er, sie küssend und wieder küssend. Aber auch in seinen Augen standen die Tränen, und ihre Erschütterung zitterte in seiner Seele nach. Eine ungeheure, schmerzlich süße Sehnsucht riß sie zusammen, als hätten sie sich nach endloser Trennung gegen alles Hoffen und Erwarten wiedergefunden. Sie verstrickten sich verlangend ineinander und suchten, sich fester und fester pressend, jedes beim andern die Gewißheit seiner Nähe und Lebenswärme. Er trocknete ihre Tränen ab und tröstete sie mit tausend zärtlichen Schwüren, nannte sie seine süße Sensitive, seine geliebte Mimose und sich ihren Gärtner, der dafür sorgen werde, daß kein rauher Luftzug und kein unzarter Finger die edle Pflanze berühre.

Seine Liebkosungen gaben ihr endlich wieder die Gewißheit ihres eigenen Selbst zurück.

»Wenn es jemals anders käme,« sagte sie, mit holder Hingebung an seine Brust gelehnt, »so wüßte ich nicht, was aus mir werden sollte. Du hast mich zu sehr verwöhnt, und es bleibt dir nun nichts übrig, als mich so weiter zu verwöhnen, denn in einer kälteren Luft könnte ich jetzt nicht mehr leben.«

»Das sollst du auch nicht. Ich müßte ja vom Wahnsinn geschlagen werden, um es je zu vergessen, was mir das Schicksal in dir geschenkt hat.«

»Wenn aber das Schicksal selber kommt und uns trennen will?«

»Dann werd' ich ihm sagen: Tu mit uns beiden, was du willst, aber laß uns beisammen.«

»O Axel, wird es dich erhören?«

»Es wird, weil es unser ganzer voller Ernst ist. Siehst du, ich war ein nüchterner Mensch, ehe ich dich kannte, und hätte zu solchen Vorstellungen den Kopf geschüttelt. Aber jetzt spür' ich's in mir wie eine neue Seele und habe Augenblicke, wo ich ein Seher bin. Ich weiß es und fühl' es ganz genau, daß die unsichtbaren Wellen, die unser Seelenleben in den Raum hinaussendet, durch Suggestionskraft unser Schicksal lenken. Es geschieht uns nichts, was wir nicht selber wollen. Darum bleibt dem Schicksal keine Wahl, als wenn einmal unser Leben ausgelebt ist, uns zusammen hinwegzunehmen.«

Sie sah ihn gläubig an und lächelte getröstet durch einen Tränenschleier, der sich ablöste und ihr in zwei Tropfen an den Wimpern stehen blieb, während die Augen schon wieder im ungetrübten Blau strahlten. Andächtig sog er diese letzten Tränen wie wundertätige Tropfen auf, und die beiden jungen, heilig liebenden Menschenkinder verwuchsen immer inniger und tranken eins beim andern Labung und Befreiung, bis ihre Herzen wieder gesund und ruhig schlugen. Die Welt, von der ein Stacheldraht sie trennte, war nicht mehr da; die schilfumwachsene Schiffshütte wurde ihr Haus und ihre Heimat, wo sie wie im feinsten und duftendsten Extrakt ihr ganzes künftiges Glück vorausnahmen. Thoras silberweiße Arme, die kühl wie Nixenarme waren, schlangen sich so erquickend um seinen braunen, sonneheißen Nacken; aus seiner kühngewölbten Brust strömten Mut und Kraft in die ihrige. Ein köstlicher Friede stieg auf sie beide hernieder. Der süßliche Wassergeruch brachte ihren wieder beruhigten Sinnen frühe Jugenderinnerungen zurück an jene wonnevolle Zeit, wo man mit bloßen Füßen in sonndurchwärmten Bächen patschte, und die Vergangenheit floß ihnen mit einer rosig dämmernden Zukunft zusammen, in der blumenbekränzte Kinder wie kleine Liebesgötter im Ufersand spielten. Die Wasser rauschten aus der Ferne in ihren Traum wie Stimmen des Lebens, die vergeblich riefen. Und allmählich ward ihnen zu Mute, als träten sie in einen Orden von Eingeweihten, die dem Weben der Natur näher stehen, und hätten die Eigenschaft des Dichters erlangt, der sein Ich zu vertausendfachen und in jeglichem Ding zu leben vermag, wenn dem Alltagsmenschen seine Armut kaum gestattet, das eigene Leben deutlich zu fühlen. Halbe abgebrochene Worte genügten ihnen zur Mitteilung dieses erhöhten Zustandes; denn der geheimnisvolle Strom war zwischen ihnen eingeschaltet, der dem einen Herzen ein volles Wissen vom andern gibt, und jenes elementare innere Einswerden hatte sich vollzogen, das ein Menschenpaar nur einmal und auf Minuten erleben kann.

»Was ist das mit uns? Werden wir Götter?« fragte Tora. »Fühlst du, wie alle Kräfte des Erdbodens sich würzig zu uns herandrängen? Jeder Luftzug bringt uns im Vorüberstreifen Grüße mit – vom Fluß vom Park – von der Wiese –, und alle die sonst geruchlosen Kräutlein und Blümlein, die frischen und die abgedörrten, hier auf dem Rasen teilen sich mir durch eine besondere Duftschattierung mit. Jedes Hälmchen kommt und sagt: ›Habt mich lieb, ich bin auch da.‹«

»Es ist der Regen, der die feinen ätherischen Öle entbunden hat,« sagte Axel, mit Wonne die balsamische Luft einschlürfend. – »Wie leicht sich's hier atmet. Ich glaube, ich bin ein Entrückter. Mein Körper hat die Schwerkraft überwunden.«

»Und ich – ich könnte mich auf dem Schilfrohr schaukeln,« überbot ihn Thora.

»Meine Fühlfäden wachsen und wachsen,« sagte der Jüngling dagegen, »und setzen mich mit allem, was uns umgibt, in Berührung. Jetzt verstehe ich auf einmal den Spruch des Angelus Silesius, den wir einmal zusammen lasen:

Mensch, alles liebet dich,
Um dich ist's sehr gedrange.
Es laufet all's zu dir,
Daß es zu Gott gelange.«

»Axel! Axel! Verstehst du auch die Sprache der Vögel, die da hinten in den Erlen singen?«

»Ja wohl verstehe ich sie, du Süße. Die Amsel mit ihrer kurzen, immer gleichen Strophe singt: Seid glücklich – glücklich – glücklich.«

Wieder schlang er die Arme um sie, und nun vergaßen sie Vogelstimmen und Wiesendüfte und versanken eins ins andere.

Stunden vergingen, die Sonne stieg immer tiefer. Sie lehnten zärtlich Schulter an Schulter gegeneinander und sprachen zuletzt kein Wort mehr. Ihre Arche, die anfangs beinahe trocken auf Kies und Sand gelegen, hatte sich allmählich gehoben und schaukelte leise. Das Wasser schlug stärker gegen die morsche Wand der Hütte, Blätter und abgerissene Zweige trieben im Fluß daher und drangen teilweise in die Bucht, die sie gefangen hielt, sie in unendlichem Reigentanz drehend. Lauter, gebieterischer tönte hinter ihnen die Stimme des großen Stroms herüber. Rufe du nur, dachte Axel, seine Thora fester umschlingend, du wirst warten können. Drüben am Waldsaum wagte sich jetzt bedächtig ein Reh hervor, kam in raschen Fluchten über die Wiese und hielt am Rand des Wassers still, wo es aufmerksam nach den zweien herüberäugte, bevor es beruhigt den Kopf zum Trinken senkte. In den Weiden schrieen noch einmal die Spatzen aus Leibeskräften, um den sinkenden Tag mit ihrem Chorgesang zu begleiten, die Amsel im Park pfiff ein zweimaliges kräftiges Abendsignal, das fast wie ein Zapfenstreich klang.

»Die Sonne geht unter,« sagte endlich der Jüngling, indem er sich mit einem Seufzer unendlichen Glücks erheben wollte; doch Thora drückte schweigend seine Hand und hielt ihn fest. Da ließ er sich gerne halten, und sie saßen noch umschlungen in stummem wunschlosem Glück, bis der erste Stern durch die lichtblaue Decke drang.

Sie sahen ihn an, drückten sich aufs neue die Hände, und Thora sagte, von einer Kindheitserinnerung ergriffen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden!«

»Und den Engeln ein Wohlgefallen,« setzte Axel lächelnd hinzu, indem er sie noch einmal an sich zog und küßte.

Ihr Kahn lag jetzt völlig im Wasser, und sie mußten mit einem Sprunge das Land gewinnen.

»Sieh nur, wie der Fluß gewachsen ist,« sagte Axel, wie aus einem Traum erwachend. »In den Bergen hat es stark gewittert, während wir hier geborgen saßen.«

Thora hatte ihre Blumen, die im Kahn zerstreut und zerdrückt lagen, wieder zusammengelesen und schüttete sie in den Strom.

»Du lieber Fluß,« sagte sie, »bring' sie dem Meere und erzähl' ihm, daß du zwei Glückliche gesehen hast.«

Als sie bei der Lände ankamen, wo Axels Fahrzeug lag, sahen sie erst, wie die Wassermassen vom Gebirge den Hauptstrom geschwellt hatten. Er donnerte zornig; seine schönen Fluten, die jetzt getrübt waren, führten Strohbündel, Latten und Pfähle, die Reste eines Bretterzauns und andere zum Teil unkenntliche Gegenstände auf ihrem eilenden Laufe mit. Axels Boot tanzte und zerrte ungeduldig an dem Strick, der es festhielt. Als die beiden einstiegen, sprang es auf wie ein Renner, dem der Zügel gelassen wird, und schoß pfeilschnell mit den ungestümen Wassern hinunter.

Der Ruderer hielt sich nahe der Insel, um einen großen dunkeln Gegenstand zu vermeiden, den der Strom in seiner Mitte vor sich herwälzte. Er war in der Abendbeleuchtung gerade noch zu erkennen als ein riesiges ausgewurzeltes Baumskelett, das bald seine toten Äste mit ihrem dürren Laubwerk, bald seine langen Wurzeln zum Himmel streckte.

»Das wird eine lustige Fahrt,« rief Axel fröhlich, »in einer halben Stunde sind wir zu Hause.«

Thora blickte ihn an, ohne zu antworten; ihre Augen träumten noch von der stillen seligen Bucht, die sie eben verlassen hatten, und es war, als ob sie dieses Bild in sich trügen, denn Axel sagte, ihren Blick erwidernd: »Ja, in Zukunft überlassen wir die Insel mit all ihren Narren sich selbst, wir rudern gleich in diese Bucht herein und sitzen hier ›selig verschollen‹, wie unser Eichendorff sagen würde, den Sommernachmittag lang, mit einem schönen Buch oder auch ohne; die Sonne haben wir im Rücken, sie badet alles in goldene Wärme –«

Ein gellender Schrei unterbrach ihn. Sie glitten eben an der unteren Spitze des Werders hin, wo der Strom seine beiden Arme zu majestätischer Breite wieder vereinigt, und Thora wollte sich umwendend der Wiege ihres Glücks noch einen Gruß zurücksenden, als auf der schmalen grünen Zunge, die sich zum Fluß hinabsenkt, ein riesiges schreckhaftes Gebilde vor ihr auftauchte. Es war die Irre, die sich an den äußersten Rand des Wassers vorbewegte; sie winkte mit ausgestreckten Armen; ihre lange Gestalt schien in der Dämmerung und mit der baumlosen Wiese hinter sich ins ungeheure hinaufzuwachsen, und es sah aus, als sei sie im Begriff, über das Wasser schreitend auf das Boot heranzukommen.

In wildem Schreck war Thora zur Seite gefahren, unglücklicherweise im gleichen Augenblick, wo Axel sich nach derselben Seite geneigt hatte, um mit dem Ruder das Baumgeripp zurückzustoßen, das die Flut soeben auf sein Boot heranwälzte. Die doppelte Bewegung hatte zur Folge, daß Thora aus dem schwanken Boot stürzte. Axel sprang nach und ergriff sie im Untersinken. Als er mit der Bewußtlosen auftauchte, war das Boot schon fern, der Wasserschwall mit dem andrängenden Baumgestrüppe nahm ihm den Atem, und er versank nach kurzem Kampf zum zweitenmale, die Last, die er nicht lassen wollte, im Arm. Das herrenlose Fahrzeug trieb noch eine Strecke weit hin, bis es an einer der vorgebauten Buhnen aus Pfahlwerk und Reisig hängen blieb, die das Ufer schützen. Die beiden Körper, deren Umschlingung sich gelöst hatte, wurden in kurzer Entfernung voneinander in die Höhe getragen, und das Wasser, dessen Ungestüm sich legte, sobald es sich besser ausbreiten konnte, führte sie allmählich zusammen. Zuweilen schwamm der eine etwas schneller, während der andere zurückgehalten wurde, dann trieb eine Strömung sie wieder nahe zueinander, daß sie sich berührten. So glitten sie weiter, immer weiter auf der feuchten Hochzeitsreise, an den Gärten und Wiesen ihrer Jugend vorüber, unter wohlbekannten Brücken durch, gegen fremde schlafende Ortschaften hin, die stillen emporgewandten Gesichter von der silbernen Mondsichel beleuchtet, deren bleicher Schein zu Hause gespenstisch auf den Falten des ausgebreiteten Brautkleids spielte.


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