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Prinz Nika

Maloja, Kurhaus Maloja, 8. August 1903.

Liebe Cloth! Heut abend wird es gerade eine Woche, daß wir auf dem winddurchsausten Malojapaß eingezogen sind. Mir kommt diese Woche schon wie eine kleine Ewigkeit vor, denn die Tage haben hier ungefähr doppelt soviel Stunden wie in Heidelberg. Wie das zugeht? Sie sind ausgefüllt mit dem Warten auf die Post, die täglich zweimal kommt und die mir jetzt die baldige Ankunft meines Liebsten zu melden hätte! Noch nie, solange wir verlobt sind, waren wir auf mehr als vierundzwanzig Stunden voneinander getrennt, und dieses Warten ist entnervend. Nach meiner Berechnung hätte er gestern hier sein können. Nur das Kolleg Deines Vaters über Völkerrecht müsse er noch zu Ende hören, hatte er mir bei unserer Abreise gesagt. Nun, seit vorgestern ist der Becher der juristischen Gelehrsamkeit bis zur Nagelprobe geleert, das wissen wir alle. Was munkelt er nun in seiner letzten Postkarte von Semesterschluß? Was geht uns denn der offizielle Semesterschluß an? Nach dem 6. August wird doch im ganzen Deutschen Reich nirgends mehr Kolleg gelesen. Also? – Solltet Ihr am Dienstag noch einmal Euren Musikabend haben, so sag ihm, bei meiner höchsten Ungnade – nein, sag ihm nichts, ich will's ihm selber sagen.

»Aber die Welt ist groß und weit, und du sitzest nun mitten drin,« höre ich Dich einwenden, »so suche doch unterdessen etwas Interessantes zu erleben.« Ach, liebste Cloth, eine Braut, die verliebt ist, erlebt nichts Interessantes mehr. Und sie soll es ja auch nicht, denn wehe, wenn ich dächte, daß Arnold unterdessen etwas erlebte! – Wie fremd und gleichgültig ist mir auch dieses ganze Getriebe ohne ihn, diese lackierten und vor lauter Lack fast unbeweglichen Menschen, die sich bei Tisch mit einer ernsten Reserve, als ob sie bei einem Trauermahl säßen, über die Vorzüge der Bachforelle vor der Makrele oder umgekehrt unterhalten. Wäre ich nicht von Dir vereidigt, nach interessanten Erscheinungen Umschau zu halten und sie Dir wohlverpackt und gepreßt im Herbarium dieser Briefblätter zu übersenden, so würde ich an der Table d'hôte den Kopf nicht vom Teller erheben. Und dazu bist Du noch so schwer zu befriedigen. Die zwei reizenden Burinnen, von denen ich Dir im letzten Briefe schrieb, haben Dich augenscheinlich gar nicht interessiert. Sie sind hübsch, graziös, elegant, gar nicht wie man sich Burinnen denkt, aber sie interessieren Dich nicht, denn der interessante Mensch ist für Dich immer ein Maskulinum. Ihr Bruder hätte Dich vielleicht interessiert, der am Spionskop gefallen ist, sie haben mir sein Bild gezeigt, ein schönes männliches Gesicht – doch was nützt Dir das, da es nun schon Staub ist? Das männliche Geschlecht hat bis jetzt nur einen noch leidlich jungen Vertreter hier gestellt, einen Mr. Findley, der am obersten Ende der Tafel sitzt, sehr distinguiert, auch nicht häßlich trotz einer zu rötlichen Hautfarbe, und von Beruf Kunstliebhaber. Aber von ihm soll ich Dir erst recht nicht sprechen, weil er schon einen Ring am Finger hat. Männer sind nur interessant, solange sie unverheiratet sind. Sonst würde ich Dir erzählen, daß sie hier bereits versucht haben, ihm einen Filippo Lippi für fabelhaftes Geld anzuhängen. Ausgerechnet einen Filippo Lippi auf dem Malojapaß! Sie haben ihn aus Sankt Moritz herübergebracht, ein ganz wurmstichiges Ding, das aus einem Graubündener Schloß stammen sollte. Aber Mr. Findley warf die Leute zur Tür hinaus. Das Bild sei eine Fälschung allerneuesten Fabrikats, die Wurmlöcher durch Schrotkugeln hergestellt; eine sienesische Prellbude versorge alle vornehmen Kurorte mit dieser Ware. Aber leider, leider! Mr. Findley, so findig er ist, hat keinen Anspruch auf Deine Beachtung, denn wie gesagt, er trägt schon den fatalen Ring am Finger. Zwar Du brauchtest gar nicht so weit zu suchen, denn das Gute liegt so nah, und unser liebes altes Heidelberg mit einer Studentenzahl von zwölfhundert Köpfen und einer ganz erklecklichen Anzahl jüngerer Privatdozenten böte Dir eine genügende Auswahl, aber Du hast nun einmal mehr Sinn für das Exotische, und es ist ja richtig, daß nicht alle anziehenden jungen Männer nach Heidelberg kommen und daß hinterm Berg auch noch Leute wohnen. Hoffen wir also, daß einige von ihnen den Weg auf den Maloja finden und mir so die Gelegenheit geben, sie Dir wenigstens par distance vorzustellen. Vielleicht kann ich Dir schon das nächste Mal besser dienen, denn seit gestern abend habe ich einen neuen Tischnachbar, einen jungen lustigen Advokaten aus Bologna, der mich durch ein vorzügliches Deutsch überraschte und der eine unerschöpfliche Suade, aber, wie er mir gleich bekannte, vorerst noch keine Prozesse hat. Er heißt Benivieni, ist hübsch wie die meisten Italiener, nur leider ein bißchen klein, wenigstens im Vergleich zu Deiner junonischen Gestalt. Auch ein Prinz Nika avec suite aus Rumänien steht heute im Fremdenbuch, ist aber bis jetzt noch nicht sichtbar geworden.

Nun muß ich mich zum Spaziergang rüsten. Papas Lieblingsweg nach Tisch, den wir auch heute wieder machen, ist der Chemin des Artistes. Warum er so heißt, weiß ich nicht, jedenfalls bin ich noch keinem Künstler mit Wissen darauf begegnet, sonst hätte ich ihn dir abkonterfeit zu Füßen gelegt. Er windet sich – der Weg nämlich – hübsch bequem, ja allzubequem zwischen Bäumen und Gebüsch tändelnd und ausweichend in zahllosen Kehren zum Gipfel hinan, als ob es ihm gar nicht ernst sei, jemals ankommen zu wollen. Die Ruine, die so drohend über das Tal blickt, als habe sie in kriegerischen Zeiten einst den Paß gesperrt, entpuppt sich leider schon unterwegs als eine ganz dürftige, ich möchte sagen durchsichtige Täuschung, denn ihre Mauern, die nichts als eine Fassade darstellen, sind dünn wie Papiermaché. Ist man endlich auf der Höhe, wo die Winde sausen, so lohnt sich die Verzögerung durch einen ungeheuren Blick über das ganze waldbewachsene Bergell. Unter uns in schwindelnder Tiefe liegt die Talschlucht der Maira mit der Malojastraße, auf der ein keuchender Postzug von acht Pferden die Passagiere aus Italien bringt. Doch Du hast Dir alle schriftlichen Fernsichten verbeten, und ich kann Dir nicht unrecht geben. Denn wenn ich Dir alle die Schneegipfel, die der Blick hier oben umfaßt, vom Fornogletscher bis zum Fexberg einzeln nenne – von der unermeßlichen Weite, die sich auftut, können Worte doch keinen Begriff geben. Es kommt am Ende alles auf eine physische Empfindung hinaus: die Größe der Welt, die erweiternd durch unsere Brust zieht. – Dagegen will ich Dir von den Gletschermühlen erzählen. Ich wette, wenn Du von Gletschermühlen hörst, so denkst Du an unzugängliche Steinmassen und Felsentrümmer, durch die ein solches Naturwunder zu erklären sei. Hier werden sie einem hinter wohlbeschnittenen Hecken auf weichem Rasengrunde dargeboten. Ich hätte sie für eine Spielerei gehalten, eine Erfindung der Hotelbesitzer, ebenso wie die künstliche Ruine, wenn der Vater sie nicht mit so ernster Miene betrachtete und ihnen zuliebe jeden Tag den Chemin des Artistes erstiege. Ein grünliches Wasser steht darin, in dem noch die Steine liegen, die durch jahrtausendelange Umwälzung diese Trichter zu stande gebracht haben.

 

Ein paar Stunden später.

Wieder ist die Poststunde vorüber ohne ein Zeichen von ihm. Ich fange an ernstlich unruhig zu werden. Papa sucht mir einzureden, daß ein Brief verloren gegangen sei, aber dieser Trost verfängt nicht. Ich weiß, die Post ist so organisiert, daß sie nur Briefe verliert, die nie geschrieben worden sind. Was geht denn nur vor? Die Dissertation muß seit Tagen eingereicht sein, die Hörsäle sind geschlossen. Was zögert er denn noch, zu kommen? Warum rufen ihn meine sehnsüchtigen Briefe vergebens?

Sei gut, meine Cloth, erkundige Dich, was er treibt, und schreibe sogleich

Deiner von hundert ängstlichen  
Gedanken umhergetriebenen

Ilka.

 

9. August.

Beste, Dein heute eingetroffenes Schreiben hat sich mit dem meinigen gekreuzt. Hab Dank für die guten Nachrichten. Ich weiß nun doch, daß Arnold lebt und gesund ist. Die Schloßbeleuchtung, mit der die gute Stadt Heidelberg zum Semesterschluß den scheidenden Prinzen August geehrt hat, muß ja ein wild phantastisches Schauspiel gewesen sein. Und ich mit meiner Freude am Phantastischen habe nun das gerade versäumen müssen! Das Schloß in Flammen, Türme und Ruinen in roten Rauch gehüllt, die Bäume am Ufer grün durchleuchtet vom bengalischen Feuerschein, – siehst Du, was ich alles weiß! – und das ganze wilde Flammenspiel von unserem alten Neckar zurückgespiegelt wie anno dazumal, wo das Schloß wirklich brannte – um diesen Anblick hätte ich sogar den Chemin des Artistes mitsamt den Gletschermühlen und dem Blick ins Mairatal hingegeben. Am Ufer aber die Musik und auf dem dunklen Fluß die illuminierten Boote mit der geschmückten Jugend – und in einem dieser Boote unter bunten Lampions und Blumengehängen, versteht sich in Gesellschaft des gestrengen Herrn Vaters, meine schöne Cousine und mein Bräutigam! Denn siehst Du, auch das habe ich erfahren, wiewohl Du in Deinem Brief über den herrlichen Abend nur mit einer halben Wendung hinschlüpfst und Arnold sich noch immer nicht ausgeschwiegen hat. Aber man hat ja Freundinnen, die an einen denken! Cloth, Cloth, was soll diese Heimlichtuerei bedeuten? Ich will nur hoffen, daß Du nichts Tückisches im Schilde führst!

Aber Spaß beiseite, es war lieb von Dir, daß Du so schnell geschrieben hast, und zum Dank fahre ich fort, unter den Gästen Musterung zu halten, ob kein Gestirn darunter ist, das wert wäre, von Dir gekannt zu sein. Die Burinnen, nach denen Du Dich wohlwollend erkundigst, sind leider schon weiter gereist. Ihren Platz am Tisch hat jetzt eine Rentierstochter aus Berlin mit ihrem sehr beleibten, sehr unbeweglichen Vater, der an einem Fettherzen zu leiden scheint. Ich nenne sie zuerst, denn sie ist die Hauptperson. Sie hat rote Haare, wasserblaue Augen, eine dünne Figur, heißt Staar und plappert wie ein solcher. Sie ist bei weitem nicht so anziehend wie meine hübschen Schwestern vom Oranjefluß, aber dafür umso mitteilsamer. Sie kommt nun schon den dritten Sommer nach Maloja, in der Absicht, hier oben einen Lebensgefährten zu finden, denn sie hat sich ausgerechnet, daß diese dünne, harte Luft das rechte Klima für rüstige Leute, Bergsteiger und Heiratskandidaten sei; in Sankt Moritz und Pontresina, behauptet sie, gebe es nur Invalide oder doch wenigstens Ehekrüppel. Ihr Vater hat ihr aber erklärt, daß dies der letzte Sommer auf Maloja sein müsse; bringe er sie auch diesmal unverlobt nach Hause, so spiele er nicht weiter auf diese Nummer, sondern trage das nächste Mal seinen schweren Leib lieber nach Karlsbad. Fräulein Erna wird somit alle Minen springen lassen. Sie war so unverfroren, mich schon am zweiten Tage unserer Bekanntschaft zu fragen, ob der Ring an meinem Finger eine Verlobung bedeute, ich fand dies taktlos und verweigerte die Antwort, sie bat mich aber so geängstigt, ihr die Wahrheit zu sagen, weil sie, falls ich frei wäre, sich einer solchen Konkurrenz nicht gewachsen fühle und lieber augenblicklich aufbrechen würde, daß ich mich erbarmte und ihr beruhigende Versicherungen gab. Sie besitzt sehr schönen alten Schmuck, den sie mir zeigte, den sie aber nicht anlegt, bevor sie verheiratet ist, um nicht Freier bescheideneren Geschmacks durch Luxus abzuschrecken. Jetzt scheint sie ein Auge auf den Italiener geworfen zu haben, doch muß ich ihr nachsagen, daß sie sich trotz ihrer so offenherzig ausgesprochenen Absichten in Herrengesellschaft durchaus zurückhaltend und taktvoll benimmt. Des Abends, während Papa Billard spielt, pflegen wir uns noch im Lesezimmer oder in den Konversationssälen zu treffen, dann findet sich immer auch Benivieni hinzu, der uns den ganzen Abend mit seiner ausgezeichneten Laune unterhält. Er ist ein brillanter Anekdotenerzähler. Das Heiterste aber ist, wenn er seine eigene Prozeßlust ironisierend aus irgend einem zufälligen Vorkommnis einen Streitfall improvisiert, die Sache mit Eifer verfolgt, entwickelt, ihr alle juristischen Seiten mit tausend Spitzfindigkeiten abzugewinnen weiß, sich für seinen fingierten Klienten ins Zeug legt, dann plötzlich die Parteien verwechselt und für die gegnerische plädiert, wobei er mit Taschenspielergeschwindigkeit alle eben vorgebrachten Beweise wieder verschwinden läßt oder in ihr Gegenteil verkehrt und endlich in einer ergreifenden Rede an die Billigkeit und Milde der Geschworenen appelliert, um ein freisprechendes Urteil für beide Teile zu erlangen, wobei ihm jedesmal die Tränen über das Gesicht laufen. Eine richtige italienische Harlekinade, aber im geläufigsten Deutsch. Dabei versammelt sich natürlich ein großes Auditorium um uns, und das Lachen schüttert durch den halben Saal.

Heute morgen habe ich aber gesehen, daß Benivieni auch seine ernsten Seiten hat. Ich hatte mich heute einmal emanzipiert und war ganz frühe, solange Papa noch schlief, durch die tauigen Wiesen, an dem kleinen Friedhöfchen vorüber, nach Maloja-Kulm hinaufgewandert. Als ich oben war, überraschte mich ein wunderschöner, ganz vollkommener Dunstregenbogen, der bei klarem Himmel gerade über der Schlucht auf der Paßhöhe stand, verschwand und wiederkehrte, je nachdem der Himmel sich bewölkte oder aufklärte. Ich sah ganz entzückt dem magischen Schauspiel zu, als Benivieni mich einholte, der heute gleichfalls Natur genießen wollte. Der Leichtfuß war augenscheinlich von der Gottesfrühe und dem wunderbaren Anblick zur Ergriffenheit gestimmt. Er verglich dies Spiel der Sonnenstrahlen im Dunststaub mit dem Illusionsbedürfnis des menschlichen Herzens, das sich aus einem Gemisch von Phantasie und Liebe mit den Elementen der Wirklichkeit ein über dem Leben stehendes, regenbogenschimmerndes Traumglück bauen muß. Ich kann es Dir nicht mit seinen Worten wiederholen, es war so hübsch gesagt, und ich freute mich an der beweglichen südlichen Phantasie, die für Scherz und Ernst immer ein anmutiges Wort findet. Wir gingen zusammen nach Hause; ich fühlte unterwegs, wie er vorsichtig die Taster ausstreckte, ob meine Seele ihm entgegenkommen wolle, und wie er sie leise, leise wieder zurückzog, als er an eine verschlossene Tür geraten war.

Er hat übrigens eine Deutsche zur Mutter und bringt jedes Jahr ein paar Monate im Norden zu, daher das gute Deutsch. Ich glaube, er würde Dir doch gefallen. Er ist auch nicht so klein, wie es mir zuerst schien, nur ein ganz Weniges unter meiner eigenen Statur, und ich gehöre ja schon zu den Großen.

Ich werde unterbrochen, die Post ist da …

Endlich ein Brief von Arnold, aber welch ein seltsamer Ton ist dies! Knapp, verlegen, als ob er meinen Augen ausweiche! Der Festbeleuchtung, von der die Blätter voll sind, mit keiner Silbe gedacht. Und noch immer nichts Gewisses über sein Kommen, nur über die Hindernisse seines Kommens. Über die gesellschaftlichen Verbindlichkeiten und Abhaltungen. Gesellschaftliche Verbindlichkeiten in der Ferienzeit! Und an der Doktordissertation noch zu feilen! Ich staune. In einem Postskriptum, das sich scheu an die Seite gedrückt hat, steht noch ein Wörtchen von Eurem nächsten Trioabend, wo man seine Violine nicht entbehren kann, und daß er noch täglich üben müsse, um neben Dir und Deinem Vater keine zu schlechte Figur zu machen. Mein Gott, sollen denn diese Trioabende nie ein Ende nehmen? Ich weiß ja, die klassische Musik ist der einzige Weg zu Deines gestrengen Herrn Papas Seele. Aber muß Arnold sich denn sein Doktordiplom ergeigen? Und bei 32 Reaumur! Ich sehe Dich in Eurem Gartensalon sitzen, Du gefährliche Lorelei mit dem goldschimmernden Scheitel, das Cello zwischen den Knien, wie Du mit dem wunderbaren weißen Arm, der aus wallendem Ärmel nackt hervortritt, den Bogen führst, ein Bild zum Vergöttern. Und Arnold unbeschützt an Deiner Seite, von den Wogen der Musik hilflos zu Dir hin verschlagen.

Cloth, nun laß uns ein ernstes Wörtchen zusammen sprechen. Sieh, alle Deine Freundinnen, mich Deine arme Cousine eingerechnet, sind immer willig vor Dir zurückgetreten. Mit Deiner Schönheit durfte sich keine in die Schranken stellen, Du hattest die elegantesten Toiletten, den reichsten Schmuck. Daß Dir bei jedem Souper der anziehendste Partner zu teil werden mußte, verstand sich ganz von selbst; schon Deines Vaters Stellung als berühmtester Jurist Deutschlands gab Dir diesen Vorrang. Ich arme bescheidene Tochter der Geologie stand immer in der zweiten Reihe und habe Dir alles von Herzen gegönnt, Schönheit und Vorrechte und Triumphe. Wenn Du aber die Hand ausstreckst nach dem einzigen, was ich habe, nach dem, was mir lieber ist als alle Deine Vorrechte und Triumphe, dann, Cloth, hüte Dich! »Klug wie die Schlange und sanft wie die Taube,« pflegtest Du von mir zu sagen. Nimm Dich in acht, die Schlange beißt, und auch die Taube hat ihren Schnabel zum Picken.

Nein, sei nicht böse, liebe Cloth, ich scherze ja nur, wie auch Du mit Deinen Eroberungsanstalten nur Scherz machst, nur ein bißchen Umtrieb gegen die Langeweile. Wozu brauchtest Du auch ein neues Zeugnis für Deine Macht über Männerherzen? Man weiß ja, wenn Du den Ballsaal betrittst, daß Du gleich ein ganzes Korps auf einmal wirfst, wie Dein Bruder, der Kadett, Dir nachsagt. Du zählst Deine Verehrer gar nicht mehr nach einzelnen, sondern nach ganzen Korporationen oder lieber gleich nach Fakultäten. Welcher Jurist in den ersten Semestern wäre Dir nicht verfallen? Auch Arnold hat Dir die ersten Winter auf der Eisbahn seinen Tribut bezahlt. Damals war er Dir nichts – Du machtest Dich über die Form seiner Kragen und die Farbe seiner Krawatten lustig – was sollte er Dir heute sein? Könnte es Dich freuen, mich gequält zu sehen? Was kann Dir an diesem einen liegen, da Du das ganze Geschlecht zu Deinen Füßen siehst?

Es läutet zu Tische, und ich muß mich eilig umziehen. Adieu, meine schöne, stolze Prinzessin, vergib, wenn eines meiner Worte Dir mißfallen hat. Und à propos, da ich Dich Prinzessin nenne, fällt mir zugleich der Prinz ein, der heute an der Table d'hôte erscheinen soll – Du erinnerst Dich doch, jener Rumänenprinz, von dem ich Dir schon geschrieben haben muß. Ich sah ihn diesen Morgen im Nachen. Aus der Entfernung schien er mir jung und schön zu sein, jedenfalls eine sehr elegante Erscheinung. Die Kellner bücken sich tief, wo er vorübergeht, und Son Altesse le Prince Nika heißt es auf Schritt und Tritt.

Ob er nahe genug sitzen wird, daß man sein Gesicht betrachten kann?

Ilka.

Nachschrift: Zwei Schachteln mit Alpenblumen habe ich heute morgen abgesandt, eine für ihn, die andere für Dich. Sie sollen Dir den balsamischen Hauch des Hochgebirgs zuführen. Die Alpenrosen, die jetzt in letzter Fülle blühen, sind leider sehr vergänglich. Dagegen wird Dich die rötlich blühende, fliederduftende Daphne noch ganz frisch erreichen. Laß Dir ihren köstlichen Duft nicht verleiden durch die Mitteilung, daß sie zu Deutsch den widerwärtigen Namen Kellerhals führt. Die samtrote Blume, die nach Vanille riecht, heißt Männertreu. Nach ihr klettere ich auf jeden Abhang und hole sie mir nötigenfalls mit Lebensgefahr herunter, hörst Du, mit Lebensgefahr!

 

Den 12. August.

Aber liebste, beste Cloth, wie kannst Du mich nur so verkennen? Hinter meinem scherzhaften Tone, schreibst Du, verberge sich nur schlecht die innere Erregung der Eifersucht. Ich und eifersüchtig! Kennst Du die mutwillige Ilka so wenig? Siehst Du nicht, daß ich durch die gespielte Erregung nur Dich und mich über die Leere dieser Tage wegtäuschen wollte? Nichts natürlicher, als daß ein abgehender Jurist dem gestrengen Dekan der Fakultät, der im Herbst ihm Herz und Nieren prüfen soll, prüfen mit jener durchdringenden Schärfe, für die mein Herr Onkel gefürchtet ist, daß er dem sich noch angenehm zu machen sucht, wo er kann. Und wenn er nebenher auch der Tochter, seiner künftigen Cousine, ein wenig die Cour macht, nun, »nützt es nichts, so kann's nicht schaden,« denkt er wohl im stillen, und ich, ich denke ebenso. Und ein bißchen Unterhaltung mußt Du doch auch haben, Du Ärmste, die Du in der heißen Stadt zurückgeblieben bist, Dich in der Entsagung und im Cellospiel zu üben und von den Erinnerungen der italienischen Frühjahrsreise zu zehren, während die Nordsee vergebens wartet, wie sonst Deine stolzen Glieder zu baden. Aber hättest Du doch Papas Einladung angenommen und wärst mit uns gekommen! Denn jetzt ward der Winter unsres Mißvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Rumäniens! Denke Dir, wir haben den Prinzen an unserer Tafel, und die anderen Tische blicken mit Neid auf uns. Die ersten Tage saß er zwischen meinem Vater und Mr. Findley; diesen Platz hatte er sich selbst gewählt, weil die beiden Herren – ich darf es mit Stolz für unseren Teil sagen – das distinguierteste Aussehen hätten. Er war in dieser Zeit äußerst zurückhaltend. Später erfuhren wir, daß er aufs tiefste niedergeschlagen war über die grauenvollen Ereignisse in Serbien, die noch täglich alle Zeitungen füllen. Er hielt sich gerade in Italien auf, als die Nachricht von dem Belgrader Königsmord durch die Welt flog. Da er ein entfernter Verwandter der Obrenowitsch ist – durch Heirat verwandt, wie er Papa sagte – wurde er von den Zeitungsreportern auf Schritt und Tritt belagert, die gern von ihm erfahren wollten, ob er für den serbischen Thron kandidieren werde. Später nach der Königswahl überliefen sie ihn wieder, um seine Ansicht über die wahre Stellung des serbischen Volkes zu der neuen Dynastie zu vernehmen. Der arme Prinz mußte sich mehrere Wochen lang vor der Neugier der Presse und des Publikums verborgen halten. Dies ist auch der Grund, weshalb er hier in der ersten Zeit allein in seinen Gemächern speiste.

Er sei Privatmann, sagte er Papa, nur mit wissenschaftlichen Studien beschäftigt, er treibe gar keine Politik. Was die europäischen Mächte guthießen, dagegen habe er keinen Einwand zu erheben.

Den Ton mußte man hören, womit er das sagte. Ich glaube nicht, daß irgend jemand an unserem Tisch sich jemals herausnehmen wird, ihm über die Ereignisse auf dem Balkan auf den Zahn zu fühlen; der so junge Mann hat bei aller Verbindlichkeit seiner Formen eine Art, die auch den Dreistesten in Schranken hält. Advokat Benivieni, der nicht schüchtern ist, hat es nur einmal versucht und wird kein zweites Mal darauf zurückkommen, obgleich er vor Neugierde vergeht.

Du fragst mich, ob Nika wirklich so schön sei. Ja, Cloth, er ist wirklich schön, so schön, daß ich ihm gar nichts zu vergleichen weiß, nicht eine bloße physische Schönheit, die würde ich ja nicht so hoch anschlagen, sondern es scheint bei ihm durch den Adel der Gestalt ein ebenbürtiger Adel der Seele hervor. Ich hielt sonst Arnold für den schönsten Mann, er ist auch der wohlgestaltetste unter den jungen Leuten, die wir kannten; du hast es mir selber oft bestätigt. Aber dies hier ist etwas anderes, es ist Rasse. Ich will suchen, Dir den Unterschied klar zu machen, wie ich ihn verstehe. Wenn ein Deutscher schön ist, so reicht es nur eben aus für seine Person, die als besonders wohlgeraten auffällt, seine Brüder, seine Schwestern könnte man sich auch häßlich denken. Er ist gerade durchgedrungen, er ist, ich möchte sagen: eine self made beauty. Das verhält sich bei den südlichen Stämmen ganz anders, bei ihnen ist Schönheit ein vererbter und durch lange Zeit angesammelter Besitz. Wer Nika sieht, der fühlt, er stammt von Eltern, die jedes in seiner Art physisch vollkommen waren. Seine Schwestern müssen die Krone der Schöpfung sein. Hat er Brüder, Vettern, niemand wird zweifeln, daß sie gleichfalls schön sind. Die Schönheit ist in diesem Stamme so mächtig durchgeschlagen, daß nichts sie unterdrücken könnte. Wenn er einmal Kinder hat, müssen sie eben so schön werden wie er, das leuchtet dem Stumpfsten ein. Auch mein Vater sagt, eine solche Veredelung der Rasse, wenn sie einmal erworben sei, gehe nie wieder verloren, das sehe man an den Italienern, wo der Dienstmann auf der Straße einen Wuchs und Anstand hat wie bei uns kaum der Graf.

Und bei seiner brünetten Männlichkeit gefallen dem Prinzen die zarten Blondinengesichter. Er fand gestern anläßlich eines Kunstblattes, das im Lesesaal auflag, die Gelegenheit zu einer sehr fein angebrachten Schmeichelei über mein Kolorit und meine Haarfarbe. Was würde er erst sagen, wenn er Dein leuchtendes Goldhaar sähe?

Du wunderst Dich, daß man ihn Hoheit tituliert? So ein rumänischer oder walachischer Prinz oder Fürst, schreibst Du, sei doch nicht anzusehen wie ein richtiger Prinz. Darin magst Du schon recht haben, aber Hoheit nennen sie ihn deshalb doch. Ich weiß nicht, was der Gothasche dazu sagen würde, die Hôtelwirte nehmen das jedenfalls nicht so genau. Dagegen hat er sicher seine Vorteile über so einen richtigen europäischen Fürsten von Geblüt, zum Beispiel, daß er heiraten kann, wen er will. Sein Vetter Milan Obrenowitsch hat eine russische Oberstentochter zur Königin gemacht, von dessen Sohn und Nachfolger blutigen Andenkens ganz zu schweigen. Wer wird da einem simplen Prinzen aus dieser Sippe Standesschranken auferlegen! Ich bin übrigens herzlich froh für unseren Prinzen, daß er so gar keinen politischen Ehrgeiz hat und am Studium der Staats- und Rechtswissenschaften sein Genüge findet. Er hat in Oxford und Paris studiert, den nächsten Winter denkt er auf einer deutschen Universität zu verbringen, und denke Dir, Cloth, der Vater ist so entzückt von ihm, daß er sich alle Mühe gibt, ihn für unser Heidelberg zu gewinnen. Da seine einzige Tochter versagt ist, kann er ja, ohne Mißdeutung zu fürchten, einem jungen Mann sein Wohlgefallen zu verstehen geben. Die beiden sind trotz des großen Altersunterschieds auf dem besten Weg sich anzufreunden, denn wir haben in Nika die rührend liebenswürdige Eigenschaft entdeckt, daß er sich nicht nur für Rechtswissenschaft, sondern auch für Gletschermühlen interessiert, und seitdem begleitet er uns zuweilen auf den Chemin des Artistes. Und daß ich's gestehe, diese sonderbaren Dinger machen mir auf einmal ein viel bedeutenderes Gesicht, seitdem der Prinz sie mit so großer Aufmerksamkeit betrachtet.

Heute aber gingen wir zur Abwechslung an den Cavlocciasee, den der Prinz noch nicht kannte. Hab' ich Dir noch nicht vom Cavlocciasee erzählt? Er erinnert mich an den Mummelsee unseres heimatlichen Schwarzwalds; er ist ebenso geheimnisvoll und weltverloren wie dieser, nur um vieles großartiger. Der Weg zu diesem verborgenen Wunder führt an hängenden Felsengärten voll blühender Alpenrosen hin, im Hintergrund schimmert hinter den schroffen grünen Berghängen wie durch einen Spalt der Fornogletscher. Das Wasser des Sees ist schwarz wie das des Mummelsees, mit tiefgrünen Flecken und Streifen durchzogen, die sich an den Ufern ins Lichtgrüne aufhellen. Große und kleine Felsblöcke liegen darin wie Inselchen verstreut, worauf ebenso wie am Ufer die schönsten Blumen wachsen. Und der leuchtend grüne Rasen, den das sanftbewegte Wasser bespült! Ich war schon mehrmals mit Papa allein da gewesen, aber es war doch noch viel schöner, das alles in des Prinzen Gegenwart zu genießen. Ich weiß nicht, wie es zugeht, daß alle Dinge schöner werden in seiner Nähe!

Ein kleines Abenteuer bestand ich auch.

Papa hämmerte am Gestein so eifrig, als müßte er ein Tor in das unerforschte Innere des Berges brechen. Der Prinz sah ihm mit Interesse zu, meine Wenigkeit, mit der sich niemand abgab, sprang auf den im Wasser liegenden Felsbrocken umher, um die schönen Blumen zu pflücken, da, als ich eben nach einer herrlichen gelben Anemone greife, rutscht mir der Fuß aus, und ich gleite ins Wasser. Papa schreit, der Prinz springt behende zu, aber ehe er mich erreicht, bin ich schon wieder in der Höhe. Ich war nur bis ans Knie in das seichte Wasser gekommen, und es geschah aus bloßer Höflichkeit, daß ich die Hand des Prinzen annahm, um ans Ufer zu springen. Aber von der Kälte dieses Bergsees machst Du Dir keinen Begriff. Er ist ja unmittelbar vom Gletscherwasser gespeist, und kein wärmender Sonnenschein findet zwischen den engen hohen Felsenwänden den Weg zu ihm. Die Kälte kroch mir von den Füßen aufwärts durch alle Glieder. Papa regte sich so auf an dem Gedanken, ich könnte mich erkälten, daß er zu zanken anfing, was mir des Prinzen wegen sehr peinlich war. Natürlich blieb nichts übrig, als augenblicklich den Heimweg anzutreten; ich hatte noch zum eigenen Schaden den Kummer, den anderen den Spaziergang verdorben zu haben. Der Prinz, der sich sehr teilnehmend zeigte, sagte einmal ums andere: » Faut marcher plus vite – plus vite« (er spricht zwar ganz geläufig Deutsch, aber sobald er lebhaft wird, fällt er ins Französische). Wir liefen endlich so rasch, daß mein guter schwerer Papa uns gar nicht mehr folgen konnte, er gab auch gern den Wettlauf auf und winkte uns, nur immer voran zu eilen, da er mich in Gesellschaft des Prinzen wohl behütet sah. Ich glaube, so kurz ist mir noch nie ein Weg geworden. Die Schnellfüßigkeit des Prinzen gab auch mir Flügel, meine Schuhe wurden trocken, und die Füße brannten mir, lange bevor wir das Kurhaus erreichten. Die Nähe dieses schönen, edlen Menschen hat wirklich etwas Elektrisierendes; es war das erste Mal, daß ich Gelegenheit hatte, ein eingehendes Gespräch mit ihm zu führen, und ich begreife nun wohl, daß die andern ganz verzaubert sind. Der schnelle Lauf, wobei sich der Adel seiner geschmeidigen Gestalt aufs glänzendste zeigte, nahm ihm dafür etwas von dem Nimbus der Hoheit, der ihn sonst umgibt, so kam es, daß ich mich ihm auf einmal viel näher fühlte. Ich wollte Dir gern erzählen, was wir gesprochen haben, es umrauschte mich wie eine fremde zaubervolle Musik, aber da ich's zu Papier bringen will, ist es weg. Der Zauber liegt auch weniger in den Worten als im Tonfall, in den Mienen, sogar in den kleinen Sprachfehlern, die mit unterlaufen und seinem flüssigen, aber ungewöhnlich konstruierten Deutsch etwas so reizvoll Pikantes, zuweilen auch liebenswürdig Kindliches geben; das dunkle, kühn geschnittene Gesicht wird durch diese unbewußt durchbrechende Kindlichkeit nur umso anziehender.

Als wir den Inn erreichten, der an dieser Stelle nur die Größe eines Bächleins hat, blieben wir auf dem kleinen Steg eine Weile stehen und blickten hinab.

»Liegt er nicht wie ein Kindlein in seiner Wiege?« sagte mein Begleiter. »Aber schon ahnt man seine Kühnheit und seine Kraft. Schon sieht man ihm an, er wird ein Führer seiner kleineren Brüder sein. Von allen Bergen eilen sie zu ihm, dem Starken, und wo er zieht, da bricht er Täler durch, und aus allen Seitentälern nimmt er die kleineren Flüsse mit und trägt sie in die Ebene. Und doch ist auch er nur der Vasall eines Größeren. Denn endlich empfängt ihn selbst die Majestät der Donau, und er trägt nicht mehr seinen Namen, wenn er das Meer erreicht.«

Ich habe diese Rede wörtlich hergesetzt, weil sie Dir von seiner Art zu sprechen einen Begriff gibt. Aber die Stimme, den reizvollen Akzent mit den offenen Vokalen und den seltsam klingenden Diphthongen, wenn ich das alles nur auch hersetzen könnte! Und ist es nicht echt fürstlich, so mit seinen Gedanken gleich die halbe Welt zu umspannen? Was habe ich armes Schaf mir je beim Anblick des neugeborenen Stromes gedacht, als daß er nun eben wächst und groß wird wie die Menschen auch. Der Prinz aber schwebt wie ein Adler über der ungeheuren Weite, sieht unter sich die Berge und die Täler mit ihren Seitentälern und die Ebenen mit dem ganzen Wassersystem bis hinab zum Meere! Und dabei war mir's, als hätten seine Worte zugleich noch einen tieferen Sinn, den ich nicht fähig bin zu verstehen. Ist vielleicht er selber ein solcher geborener Führer der kleinen Brüder, der sie schützend an sich nimmt, um sie ihrer Bestimmung zuzuführen? Ich glaube, Cloth, der Prinz ist ein bedeutender Mensch. Wie froh bin ich für ihn, daß er keinen politischen Ehrgeiz hat und sich nicht um die blutige Krone der Obrenowitsch und Karageorgiewitsch reißt, sondern friedlich in unserem Heidelberg die Rechtswissenschaften studieren will!

Jetzt sitze ich auf meinem Zimmerchen bei einer Tasse heißem Tee mit wollenen Strümpfen an den Füßen, wozu Papa mich gezwungen hat, – nimm das beschämende Geständnis – und schütte Dir nach alter Gewohnheit mein Herz aus. Aber dieser Brief soll offen liegen bleiben, denn die letzte Post ist schon abgegangen, und wer weiß, ob es morgen nicht noch eine Nachschrift gibt. Gute Nacht, liebe Cloth!

– Die Nachschrift kommt wirklich, aber anders als ich gedacht hatte. Mein wässeriges Abenteuer hat eine kleine Mandelschwellung zur Folge gehabt, wegen deren ich von Papa ins Bett gesprochen bin. Du kennst ja seine Ängstlichkeit, ich muß mich fügen. Aber gerade heute macht es mich verdrießlich. Die Sonne scheint so schön auf den blauen Malojasee, die Jugend gondelt darauf umher in hellen Kleidern, singt und lacht, daß ich es durchs Fenster hören kann, und ich muß mich mit Briefschreiben unterhalten. Eine angenehme Überraschung hat mir aber die kleine Unpäßlichkeit doch gebracht. Vor einer Stunde schickte mir Prinz Nika einen herrlichen Alpenstrauß. Es ist hier unter den Kurgästen bräuchlich, solche Sträuße zu kaufen und einander zuzuschicken; wir sprachen gestern über diese aus den Großstädten importierte Sitte und nannten sie eine poesielose Verkehrtheit. Deshalb ließ der Prinz mir sagen, diese Blumen habe er selbst gepflückt; die Zusammenstellung bestätigt das auch. Alpenrosen bilden nur die Umrahmung, es gibt jetzt deren wenige ganze frische mehr, der Strauch ist schon im Verblühen. Aber da ist mein Liebling Daphne mit dem Syringenduft und die tiefblaue metallischglänzende Genziane, Cenerarien in den wunderbarsten Schattierungen und in der Mitte eine Gruppe jener feinen Berganemonen, um deretwillen ich gestern zu Schaden kam. Ist das nicht eine reizende kleine Aufmerksamkeit? Wenn ich nicht Arnold so innig liebte – aber was sollen diese dummen Gedanken?

Nach der Mahlzeit, die ich allein im Bett verzehren mußte, hat mir Fräulein Staar aus Berlin ein Stündchen Gesellschaft geleistet. Sie hat den Strauß des Prinzen sehr bewundert, sie findet auch, daß in dem Arrangement etwas Geschmackvolles und Ritterliches liege. Natürlich schwärmt sie für den Prinzen, aber in ganz uneigennütziger Weise, denn so hoch versteigen sich ihre Hoffnungen nicht. Sie hat sich mir anvertraut und mich gebeten, ein wenig bei Benivieni auf den Busch zu klopfen. Ich bin als glückliche Braut eine Art Schutzpatronin für sie. Aber kann ich denn noch sagen glückliche Braut? Sieh, Cloth, wenn dieser Zweifel mich anfaßt, dann fühle ich, daß ich zu – ich weiß nicht was, aber gewiß zu etwas Erschütterndem im stande wäre; ein Vulkan will losbrechen in meiner Brust. Aber ich halte den bösen Zweifel nieder, für den Vulkan ist es Zeit genug, wenn das Gefürchtete Wahrheit wird. Deshalb ist mir die neue, fremdartige Erscheinung, die so unvermutet meinen Weg gekreuzt hat, eine willkommene Ablenkung. Ich habe ihm für seine Blumen durch ein kleines versifiziertes Kompliment gedankt, du weißt ja, daß ich zu dergleichen einiges Geschick habe. Die Staarin will es ihm bei der Abendtafel übergeben, sie ist, wie ich sehe, eine gutartige Person und für eine kleine Gefälligkeit zu jedem Gegendienst willig. Papa lasse ich dabei ganz aus dem Spiel, ich fürchte, er könnte den kleinen Scherz unpassend finden, und ich habe mir vorgenommen, nun einmal ganz meinen eigenen Eingebungen zu folgen.

Durch Fräulein Staar erfuhr ich übrigens, daß unser Palasthotel seit gestern abend um einen interessanten Gast reicher ist, eine Russin, Fürstin Wjäsemsky (Du mußt die erste Silbe betonen). Ganz große Dame, nicht mehr in der ersten Jugend, aber sehr schön und, wie man sagt, mit ihrem Mann in einen Scheidungsprozeß verwickelt. Sie kommt schon seit mehreren Jahren jeden Sommer nach Maloja, Fräulein Staar kennt sie von früherher, obwohl sie nicht ihres Umgangs gewürdigt worden ist. Es soll ein Schauspiel gewesen sein, als sie und der Prinz einander gestern abend im Lesesaal zum erstenmal ansichtig wurden. Wie zwei Magnete aufeinander wirken, man sieht nicht, welcher den anderen zieht, plötzlich sind sie zusammengeschossen, so müssen die beiden sich angezogen haben. Dann seien sie am Abend noch lange im Hotelgarten spazieren gegangen in sehr angeregter französischer Konversation.

Ich war so neugierig, die Fürstin zu sehen, daß Fräulein Staar sie mir vom Zimmer aus zeigen mußte, als sie aus dem Nachen stieg. Ich wickelte mich in eine Decke und sprang ans Fenster, um sie zu sehen, aber ich wurde ihrer leider nur von der Seite ansichtig. Eine wahrhaft vornehme Erscheinung. Welch ein Anstand, welche Toilette! Ach Cloth, was ist dagegen eine deutsche Kleinstädterin wie unsereins! Denn eine Kleinstadt ist unser gutes altes Heidelberg doch, und wenn man sich dort auch große Gelehrsamkeit aneignen kann, sich so bewegen wie die Fürstin Wjäsemsky, das lernt man in Heidelberg nicht.

Ich muß schließen, denn das Stubenmädchen kommt, meinen Brief abzuholen.

Deine Ilka.

Gegeben zu Maloja, am 13. August im Stubenarrest.

 

den 16. August, Vormittags im Lesesaal.

Liebe Cloth! Du stellst in Deinem heutigen Brief so viele Fragen auf einmal, daß ich nicht weiß, ob mir die Zeit ausreichen wird, sie alle zu beantworten. Vor allem will ich Deine Besorgnis wegen meiner Gesundheit zerstreuen. Die Halsentzündung war zwar nicht ganz so geringfügig, wie sie mir zuerst erschien, ich mußte sogar vom Sankt Moritzer Arzt zweimal gepinselt werden, aber jetzt ist das Übel völlig gehoben, seit gestern bin ich außer Bett, und heute bin ich zum erstenmal wieder an der Table d'hôte erschienen.

An unserem Tisch hat es durch die Abreise des Mr. Findley Verschiebungen gegeben. Diesen Umstand hat meine schlaue Berliner Freundin sich zu nutze gemacht und es durchzusetzen gewußt, daß ihr Gedeck jetzt neben dem des italienischen Advokaten aufgelegt wird, so können sie sich besser unterhalten als über den Tisch hinweg; natürlich ist der Vater mit ihr nach der anderen Seite ausgewandert. Dadurch sind bei uns zwei Plätze freigeworden, die mein Vater und der Prinz erhalten haben, aber so, daß ich in der Mitte zwischen beiden sitze. Wer dies angestiftet hat, weiß ich nicht. Übrigens scheint der Prinz mit dem Wechsel nicht unzufrieden zu sein, und was mich betrifft, so finde ich es besonders angenehm, ihn zur Linken zu haben, denn Du weißt, mein linkes Profil ist das bessere. Ein bißchen Eitelkeit wird ja auch mir erlaubt sein. Der Prinz ist zuvorkommend wie immer, er hat mir unzähligemal die zu glatt gestärkte Serviette aufgehoben, die mir zu meiner größten Verlegenheit immer wieder vom Schoß rutschte. Aber er hat nicht mehr das Jugendliche, Sonnige von neulich, er sieht ernst, zuweilen fast düster aus. Papa sagt, die kriegerischen Nachrichten vom Balkan hätten ihn in diesen Tagen so trüb gestimmt.

Du wunderst Dich, daß ein rumänischer Prinz in Deutschland Rechtswissenschaft studieren will. Genaue Angaben über seinen Studienplan kann ich Dir freilich nicht machen. Gibt es nicht auch ein internationales Recht? Ich glaube, Prinzen müssen das kennen und studieren. Wenn ich aber einen Irrtum begangen haben sollte, so verzeih; ich kann ihn ja sehr leicht mißverstanden haben, schon der Aussprache wegen. Die Braut eines Juristen sollte freilich in solchen Dingen besser Bescheid wissen, aber was willst Du, Arnold hat mir von allem anderen mehr gesprochen als von Jurisprudenz.

Jedenfalls ist es nicht ausgeschlossen, daß Nika wirklich nach Heidelberg kommt. Zwar scheint auch Berlin große Anziehung für ihn zu haben wegen der Geselligkeit in den diplomatischen Kreisen, aber Berlin entgeht ihm ja nicht, wenn er in Heidelberg ein Semester lang Rechtsphilosophie hört – Pardon, Geschichte des römischen Rechts, wie mich Papa soeben korrigiert. Übrigens, wird nicht dieses Kolleg von Deinem Vater gelesen? Das wäre ja eine herrliche Anknüpfung – wiewohl, an Anknüpfung würde es ja auch sonst nicht fehlen. Der Prinz hat sich bei uns aufs genaueste nach allen Heidelberger Verhältnissen erkundigt. Von Deinem Vater sprach er als von einer europäischen Berühmtheit. Daß er in diesem Jahre Dekan der Fakultät geworden ist, wußte er noch nicht. Er fragte mich auch, ob es in Heidelberg viele schöne Mädchen gebe. Ich bejahte und sagte, die schönste sei meine Cousine Clothilde. Er wollte wissen, ob Du mir gleichest, ich antwortete, wir glichen einander sehr, nur seist Du viel, viel hübscher und auch viel majestätischer. Da sah er mich lange an, ich weiß nicht, was er dachte.

Du wünschtest jetzt vielleicht, daß ich ihm die Photographie zeigen solle, die Du mir heute geschickt hast, aber ich werde mich wohl hüten. Hinter der Beschreibung, die ich ihm von Dir gemacht habe, bleibt die Photographie allzuweit zurück. Ja, wenn er Dich selber sehen könnte!

Nun beunruhigst Du Dich gar über die »alte Russin«, die auf unseren schönen jungen Prinzen Jagd mache. Aber Cloth! Die Fürstin Wjäsemsky ist ja nicht alt. Man sieht ihr an, daß sie Schicksale gehabt hat, das macht sie nur interessanter. Und schön ist sie, mein Gott, wie kann ein Menschenkind so schön sein! Ein Wuchs wie von einer Göttin. – »Abenteurerin«? Das Wort dürfte schon eher zutreffen. Wenigstens erzählt Fräulein Staar, daß sie fast immer ganze Schwärme von Diplomaten und Finanzgrößen um sich gehabt habe und daß sie nicht im besten Rufe stehe. Aber was geht das uns an? Mit uns gibt sie sich ja ohnehin nicht ab. Beim Prinzen scheint sich übrigens das erste Feuer schon abgekühlt zu haben, denn heute, als wir im Vorraum des Speisesaals die ganze Gesellschaft defilieren sahen und ich meine Bewunderung für die Schönheit der Fürstin aussprach, da sagte er: » C'est une fleur qui a déjà été belle pendant plusieurs jours.« Und wieder sah er mich so lange und so seltsam an und summte dabei vor sich hin:

»Mir ist, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt'!«

Was mag ihm nur dabei durch den Kopf gegangen sein? Wenn er mich so ansieht, dann wird mir immer ganz wunderlich dabei zu Mut, als ob gar nichts an mir kompakt sei, als ob ich mich gleich in meine Elemente auflösen müsse.

 

Zehn Stunden später auf meinem Zimmer.

Cloth! Cloth! Freue Dich mit mir! Zur Entschädigung für mein Stillesitzen in den letzten Tagen hat mir Papa einen Ausflug auf den Fexgletscher für den nächsten schönen Tag versprochen. Der Prinz wird auch von der Partie sein. Ich freue mich ganz unvernünftig. Es ist der erste Gletscher, den ich aus der Nähe sehe, denn eine Partie auf den Forno ist uns schon zweimal verregnet worden. Möge uns der Himmel diesmal günstig sein. Herr Staar hat uns gebeten, seine Tochter mitzunehmen, weil er selber nicht an Besteigungen denken dürfe. Natürlich schließt sich nun auch der Italiener an, denn die beiden sind seit einiger Zeit unzertrennlich, und ich zweifle nicht, daß es in Bälde zwischen ihnen richtig werden wird. Herr Benivieni hat mir das Auf-den-Busch-Klopfen nicht schwer gemacht. Mit einer erstaunlichen Offenherzigkeit erzählte er mir, als ob ich seine älteste Freundin wäre, daß auch er auf Freiersfüßen gehe und daß er es trotz seiner etwas prekären Vermögenslage oder vielmehr wegen dieser für nötig gefunden habe, im Palasthotel abzusteigen, weil nur an solchen Orten die Mitgiften zu finden seien, wie er sie brauche. »Die gemeine Seele« höre ich Dich sagen. Aber wenn Du gehört hättest, mit welch vollkommener Naivität und Unschuld diese positive urprosaische Gesinnung von den sonst so phantasievollen Lippen fiel, Du wärest wie ich verwundert und zugleich halb versöhnt. Da nun Herr Staar, wie die anderen hier anwesenden Berliner versichern, »gut« ist, so wird sich wohl der Bund der Herzen in Bälde offenbaren.

Um aber nicht so prosaisch zu schließen, will ich Dir von einer rumänischen Ballade erzählen, die mir der Prinz heute abend am Seeufer sang. Es war eine schwermütige eintönige Melodie, die ihren ganz besonderen Zauber hatte. Ich ließ mir den Inhalt übersetzen, der sehr merkwürdig ist. Das Mädchen steigt jeden Abend in die Ebene hinunter und gibt sich dort ein Stelldichein mit einem Toten. Beim Schein des Mondes hat der Tote das Kreuz seines Grabes zwischen sich und sie gestellt, damit sie ihn nicht berühre. Endlich kommt der Vater und vereinigt sie dem Geliebten, indem er sein Kind aus Erbarmen tötet. Etwas so unvergleichlich Zartes bei so tiefer Tragik habe ich nie gehört. Und die Stimme, die tiefe, von Klang gesättigte, die das Lied sang! Ich höre sie, wo ich gehe und stehe.

Du Seltsame schreibst, daß es meine Pflicht wäre, den Prinzen von meiner Brautschaft in Kenntnis zu setzen. Aber wie käme ich dazu? Er hat mich ja nie gefragt, ob ich frei sei, und ich kann doch nicht mit der Tür ins Haus fallen.

Nimm mit diesem wenigen vorlieb für heute. Ich muß noch an Arnold schreiben. Seine letzten Nachrichten haben mich völlig beruhigt. Ich begreife sehr gut, daß er seine Angelegenheiten nicht übers Knie abbrechen kann, und freue mich auf seine Ankunft ohne Ungeduld.

Deine getreue Ilka.

Nicht zu vergessen: die Suite des Prinzen, nach der Du fragst, besteht aus einem einzigen Kammerdiener. Er gibt sich ja auch ganz einfach, ohne alle Ansprüche. Ich glaube, Cloth, wenn er einmal heiratet, so wird er gewiß nur aus Liebe heiraten.

Ach, Cloth, schlage den Daumen ein, daß wir gutes Wetter behalten. Mein Herz tanzt in mir, wenn ich an den Fexgletscher denke! Nicht des Prinzen wegen, nur wegen der Gletschertour.

 

den 18. August.

Soeben sind wir vom Fexgletscher zurückgekommen.

Auf meinem stillen Stübchen lasse ich den wunderbaren Tag noch einmal an mir vorüberziehen, und Du sollst die Wonne mit mir teilen, meine liebe Clotho!

Früh um acht Uhr fuhren wir weg im Zweispänner, der uns bis Sils Maria brachte. Entzückend war die Fahrt an dem großen blauen Malojasee hin, den der junge Inn wie ein kühner Knabe durchschwimmt. Jenseits des Wassers grüßten die schön geformten Schneeberge herüber, der Fexberg mit der tiefen Schneemulde, der Corvatsch, der Ovakotschna mit der eiförmigen Kuppe (er ist schöner als sein Name, vergib ihm den). Diesseits aber, zu unserer Linken, ragte der Julier, bis tief herab mit Schnee bedeckt, über die grüne, mit Lärchen bewachsene Halde, die die Straße begleitet, empor. Die Julierstraße, auf der ich nun so lang' schon Arnold erwartet habe, ist vom Wege aus sichtbar.

Bei Sils Maria verließen wir den Wagen und stiegen die schöne, einsame Schlucht hinauf, an leichtgebauten Chalets vorüber, die mit bunten Fähnchen zur Einkehr laden, ins grüne blumige Fextal; ein Junge aus Sils Maria trug uns den mitgenommenen Proviant.

»Hier ist die Heimat des Frühlings,« rief der Prinz entzückt, als wir den grünen Rasenflaum betraten. Das ganze Tal lachte. Eine mildere Luft empfing uns trotz der Höhe, denn der lange Talzug zwischen zwei steilanstrebenden Bergflanken war ganz von Sonne durchflutet und durchwärmt. An den hohen, lichtgrünen Hängen kletterte allerlei Menschenvolk herum, das Edelweiß suchte; die farbigen Kleider der Mädchen leuchteten wie große Blumen aus dem Grün zu uns herunter. Aus der schroffen Welt des Maloja tritt man hier in ein heiteres Sommeridyll, auf das die beschneiten Häupter der Gewaltigen wie mit gerührtem Lächeln niederblicken.

Zwischen den Schneegipfeln schwebte eine kleine dunkle Wolke, die einen Augenblick unbeweglich in der Luft ruhte, sich dann plötzlich drehte und pfeilschnell am Himmel hinschoß, bis sie im Äther verschwand.

»Ein Adler!« riefen Papa und der Prinz aus einem Munde. Mir wurde ganz feierlich, als der Prinz nach einigem Schweigen sagte: »Das war der Adler Zarathustras.« Hier oben ist nämlich, wie man mir sagt, das unbegreifliche Buch geschrieben worden, hier, wo warme Lüfte die Füße der Eisriesen umschmeicheln, wo phantastische Blumen sie kränzen und die hohen Adler drüber schweben. Wo anders als hier könnten auch die wundersamen Verse entstanden sein:

»Warm atmet der Fels.
Schlief nicht auf ihm das Glück seinen Mittagsschlaf?«

Ja, hier oben oder nirgends muß das Glück zu Hause sein. O, wer mir sagen könnte, auf welcher dieser Felsplatten es soeben geruht hat, daß ich hineilen könnte, um mein von tausend Ungewißheiten zitterndes Herz an den erwärmten Stein zu pressen und ein wenig auszuruhen!

Wir gingen unterdessen dem Lauf eines eilenden Bergwassers, des Fexbachs, entgegen, einen fast ebenen Weg, der sich später über Geröll und blumige Matten und festeingewachsene Felsplatten fortsetzte. In geringer Entfernung vom Gletscher, dessen eisige Luft jetzt die liebliche Sommerwärme verdrängte, lagen zwei herabgestürzte Bergbrocken, die ganz genau einen natürlichen Steintisch mit seiner Bank darstellen, mitten im Wege. Dort ließen wir uns zunächst nieder, wir Damen packten die Körbe aus, es war wahrhaftig wie im Märchen vom Tischlein deck dich. Aber der Prinz und ich verspürten geringe Eßlust, Papa hatte es eilig, an den Gletscherausfluß zu kommen, und fand, daß man sich für einen solchen Gang nicht den Magen beschweren dürfe. Er mahnt deshalb in Bälde zum Aufbruch, der Prinz und ich sind sofort bereit. Das andere Pärlein aber, das sich auf dem ganzen Weg zusammengehalten hat, erklärt, zurückbleiben zu wollen. Meine arme Staarin hat sich nämlich den Fuß zerstoßen – se non è vero, é ben trovato – und kann auf dem Geröll nicht gehen, der Advokat ist der Ansicht, daß man den Gletscher von der Bank aus ebenso bequem sehe, und zieht es vor, Erna Gesellschaft zu leisten. Der Junge geht voran, um uns den Weg zu zeigen.

Du hast noch keinen Gletscher gesehen, Cloth, erwarte darum nicht, daß ich im stande sei, Dir ein Bild von der Zauberwelt des Eises zu entwerfen. Der Gletschermund ist mit Geröll verschüttet, aus dem ein dünner eisiger Wasserfaden hervorsickert, auch aus den breiten Schneestrecken am Berghang rinnt Wasser, das sich mit dem dünnen Faden vereinigt; nicht weit davon braust ein Wasserfall nieder; das alles zusammen bildet den Anfang des munteren Fexbachs. Papa, den vor allem die Bewegungen des Gletschers interessieren, blieb untersuchend und Notizen eintragend am Gletschermund zurück. Der Prinz und ich stiegen über große Schneeflecke und Geröll noch höher hinauf, wo man einen guten Blick in die traumhafte Welt des Eises gewann. Seltsam geformte Zacken und Nadeln, bläuliche Eisgrotten, eine regellose Architektur von weißen Türmen und von grünschimmernden Portalen, die in geheimnisvolle Tiefen zu führen schienen. Unter uns öffnete sich ein bläulicher Eisschrund, mit Schnee wie mit Daunen ausgefüllt, er sah aus wie das phantastisch beleuchtete Bett einer Schneekönigin. Wir standen und schauten und lauschten. Denn der Gletscher ist nicht tot: da ist eine ewige leise Veränderung, ein unsichtbares Rieseln und Tröpfeln, Steine, die rollen, große Massen, die irgendwo herunterpoltern und ein ungeheures Echo wecken. Wenn eine Eislawine in der Ferne niedergeht, so ist es, als ob ein Bahnzug über den Gletscher donnere. – Wir schwiegen beide, überwältigt von der Größe der Natur, es war, als ob unsere Seelen zusammen hinabsänken durch die bläulich schimmernde Kluft in eine unbekannte abgründliche Tiefe. Der schrille Ruf eines Murmeltiers hinter unserem Rücken riß uns endlich aus der verzückten Betrachtung. Unten stand Papa und winkte, daß es Zeit sei, umzukehren. Wir stiegen vorsichtig wieder abwärts, der Prinz hielt unterstützend meinen Ellbogen, sobald ich zu rutschen drohte, denn meine Schuhe waren nur leicht benagelt, und ich bin ja noch ein Neuling in Bergtouren, kann mir also etwas Hilfe wohl gefallen lassen. Reden konnten wir beide kein Wort mehr, mein Begleiter war blaß, mir aber brannten die Wangen von der scharfen Gletscherluft.

Als wir unsere zwei Zurückgelassenen wieder aufsuchten, saß Erna noch immer auf der Steinbank, und der Italiener stand mit südlicher Leidenschaft gestikulierend vor ihr. Der Prinz und ich lächelten uns verständnisvoll an, wir glaubten, die Welt sei um ein glückliches Paar reicher. Doch beim Näherkommen bemerkte ich, daß Erna die Flügel hängen ließ wie ein krankes Vögelchen. Der Advokat hatte augenscheinlich die schöne ihm gebotene Gelegenheit zu einer Erklärung versäumt, und die zwei waren sich trotz der Einsamkeit nicht näher gekommen. Ob es Zufall war oder Absicht? Er hatte den Wink übersehen und sich in eine seiner Schnurren hineingeredet, womit er noch nicht fertig war, als wir anderen zurückkamen. Dieser junge Mann spricht nämlich so viel, daß er sich selber nicht zu Worte kommen läßt, wenn er einmal etwas zu sagen hat. Diesmal hatte er sich in die Fiktion verstrickt, daß die Pforte unseren Prinzen Nika angeklagt habe, an den mazedonischen Umtrieben beteiligt zu sein, er verteidigte ihn mit Feuer vor einem imaginären Gerichtshof, den die umliegenden Felsbrocken vorstellten, und als wir hinzukamen, hörten wir ihn eben noch sagen: »Betrachten Sie, meine Herren, diesen edlen jungen Mann mit der fürstlichen Stirn und den Adleraugen, der das internationale Recht der Universität Heidelberg dem nationalen Unrecht der Balkanstaaten vorzieht –«

Erna saß vor ihm wie das Bild der aufgegebenen Hoffnung und lächelte matt zu den Possen, die sie sonst so gut unterhielten. Wenn sie mich nicht erbarmt hätte in ihrer Enttäuschung und Niedergeschlagenheit, ich hätte wahrhaftig lachen müssen über diese närrische Situation. Das Komischste aber war, daß das unverlobte Paar in unserer Abwesenheit, er in rhetorischer Zerstreuung, sie aus Bekümmernis, die zurückgelassenen Vorräte rein aufgegessen hatte.

Ich will Deinem teilnehmenden Herzen gleich verraten, daß Benivieni im Lauf des Tages die Versäumnis doch noch gut gemacht hat. Auf dem Rückweg zeigte er eine lobenswerte Gesetztheit, und als wir später in einem der kleinen Chalets im Fextal rasteten, um Tee zu trinken, und Erna sich Blumen pflückend von der Gesellschaft entfernte, da ging er ihr auf die Wiese hinter der Bretterwand nach, und beim Zurückkommen hatten beide verklärte Gesichter. Sie winkte mir strahlend mit den Augen zu: Es ist erreicht! Auf dem Rest des Weges machten sie auch gar kein Hehl aus ihrem Glück, sie gingen Arm in Arm, und Benivieni sang mit überschwenglichem Ausdruck eine italienische Liebesarie. Dieser junge Mann hat eine merkwürdige Fähigkeit, den praktischen Sinn mit dem Idealismus zu vereinigen, ich mußte dabei an jene alte Anekdote vom Heiratsbureau denken, die immer wieder einmal als neue irgendwo auftaucht: »Aus Liebe? Haben wir auch!«

Umso einsilbiger war der Prinz. Die Posse des Advokaten hatte ihn erstaunt, ja betreten gemacht.

»Wie kann Herr Benivieni auf den Gedanken kommen, daß ich in politische Umtriebe verwickelt sei?« sagte er zu mir.

Dann aber verriet sich sein Inneres in einer schmerzvollen Schilderung der Leiden, denen unsere christlichen Brüder unter türkischer Herrschaft ausgesetzt sind. Sein ganzes Herz hängt an den Mazedoniern.

»Sie sind der edelste griechische Stamm,« sagte er, »ihre Sitten sind unverdorben, ihre Herzen sind tapfer, es ist noch das Geschlecht, das die Schlachten Alexanders schlug. Wenn sie einen Führer hätten, sie würden auch heute noch Wunder der Tapferkeit vollbringen. Und dieses herrliche Volk schmachtet in der Nacht der Knechtschaft und Unwissenheit. Keine der großen Kulturmächte hat je daran gedacht, daß es noch eine Dankesschuld abzutragen gibt an die Enkel jener Sieger am Granikos, die die fernen Wunderländer des Ostens mit dem Schwert erschlossen haben.«

Nun erzählte er mir von dem Leben der mazedonischen Bauern, von ihren Trachten und Bräuchen und von dem unerträglichen Druck des Pascharegiments, daß mir die hellen Tränen in die Augen traten.

Soll ich Dir auch noch den Schluß dieses bedeutungsvollen Tages erzählen? Bei Sils Maria tritt der Inn aus dem Malojasee und bildet eine breite, mit Binsen bewachsene Ausbuchtung, dann faßt er seine Wasser wieder zusammen und strömt rasch durch ein enges, tief eingeschnittenes Rasenbett auf Silvaplana zu. Auf der Brücke, die dort über den jungen Strom führt, standen wir beide und warteten auf die anderen, die noch zurück waren. Beim Abstieg durch die Schlucht hatte der Prinz ein Rohr geschnitten und eifrig Zeichen hineingeritzt. Jetzt ließ er sie mich sehen, es waren ein S und J, die Anfangsbuchstaben seines und meines Namens, Stephan und Ilka. Dann schleuderte er das Röhrchen in das eilende Wasser und rief: »Inn, trag' es in die Donau, Donau, sag' es meinem Schwarzen Meer, was diese Botschaft bedeutet.«

Dabei faßte er meine Hand und küßte sie mit Feuer, bevor die anderen uns erreichten.

Jetzt sitze ich allein auf meinem Zimmer mit den Bildern des heutigen Tags. Niegedachte Gedanken, schwindelerregende Möglichkeiten sind um mich her. Ich bin nicht im stande, über mich selber nachzudenken, immer sehen zwei dunkle Augen mich an mit tiefer, leidenschaftlicher Frage. Es wäre hohe Zeit, daß Arnold käme. Doch lassen wir alles gehen, wie Gott will, und möge die Vorsehung es zum besten lenken.

Deine Ilka.

 

den 20. August.

Verräterin, was hast du getan! Du hast meine Briefe über den Prinzen in Arnolds Hand gegeben. Er kommt, er schäumt, er will sich mit dem Prinzen schlagen. Wie ein rächender Engel kommt er. Clothilde, was werden wir erleben! Dich trifft die Schuld, wenn etwas Entsetzliches geschieht.

Du wirfst mir vor, ein kokettes Spiel getrieben zu haben, – Du – mir? Sagt Dir denn Dein eigenes Gewissen nichts? Oder glaubst Du, alle interessanten Männer müßten von Rechts wegen Dir gehören? Erst hast Du an meinem Verlobten Deine Künste erprobt, und jetzt tust Du, als ob der Prinz Dein Eigentum sei! Warte ab, was von dem Schönen, Herrlichen übrig sein wird, wenn Arnolds Wut gekühlt ist. Ich zittre.

Ilka.

 

den 21. August.

Er ist hier, wir halten uns in den Armen, wir sind versöhnt und glücklich.

»Liebst du mich noch?« – »Und du, liebst mich du?« Das waren unsere einzigen Worte. Wir lagen Brust an Brust und weinten beide.

Dann hat Arnold mir gebeichtet und ich ihm, und in die beiderseitige Verzeihung bist auch Du miteingeschlossen, liebe Clothilde. Er hat ja nur mich Abwesende in Dir gesehen, als er zu Deinen Füßen saß. Und nun Wahrheit gegen Wahrheit: der Prinz muß unerbittlich in die Versenkung zurück. Ich kann ihm nicht helfen, denn er ist nur das Werk meiner Phantasie gewesen. Nichts an ihm ist wirklich als der Name, der unterm 8. August im Fremdenbuch steht. Gesehen habe ich ihn niemals, weder ihn noch sein Gefolge, er verbrachte nur eine Nacht im Hotel. Ich war auch so klug, nicht nach seinem Äußeren zu fragen, denn wenn man mir gesagt hätte, daß er alt und glatzköpfig sei, so weiß ich nicht, woher ich die Inspiration zu dieser Idylle hätte nehmen sollen. Gesegnet sei der edle Rumänenprinz, gleichviel ob jung oder alt, der durch seinen bloßen Namen mich in stand setzte, mein Glück in Sicherheit zu bringen. Die Zeitungen und ein Buch über die Balkanstaaten, das ich auf dem Lesezimmer fand, gaben mir den Stoff für das übrige.

Dagegen sind der Advokat und seine Erna greifbare leibliche Wirklichkeit. Sie wollen schon in einigen Wochen heiraten und haben uns eingeladen, sie auf unserer Hochzeitsreise in Mailand zu besuchen.

Schade, daß der Prinz nicht länger leben konnte, ich hatte mich während des Schreibens selber in ihn verliebt. Es war ihm noch eine glorreiche Laufbahn zugedacht, und wenn Ihr mir Zeit gelassen hättet, so wäre er nach dem Kriegsschauplatz geeilt und hätte an der mazedonischen Grenze als Befehlshaber eines Komitatschi den Heldentod gefunden.

Nun sei nicht böse, liebe Cloth. Wenn ich einmal einem exotischen Prinzen von Fleisch und Bein begegne, so will ich ihn Dir ganz gewiß zur Entschädigung schicken.

Mein Liebster aber, den ich jetzt wieder fest in Banden habe, muß mir den Vers auswendig lernen:

Nie soll weiter sich ins Land
Lieb' von Liebe wagen,
Als sich blühend in der Hand
Läßt die Rose tragen.

Deine glückliche Ilka.


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