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Ja, das menschliche Gewissen ist ein wunderliches Ding, sagte mir kürzlich Dr. H., der Badearzt eines kleinen Schwarzwaldkurorts, als das Gespräch zufällig auf abnorme Seelenzustände gekommen war. Bekanntlich hat niemand einen so ruhigen Schlaf wie die großen Verbrecher. Dagegen kann irgend einem Unglücklichen, der nie ein Wässerlein getrübt hat, eines schönen Tages das Gewissen hypertrophieren und zur krankhaften Wucherung entarten, die den ganzen Organismus aufzehrt. Lassen Sie sich ein Kuriosum aus meiner Praxis erzählen.
Der Pfarrer Mathesius war verhältnismäßig frühe an die Spitze einer ansehnlichen, gegen tausend Seelen zählenden Gemeinde berufen worden. Die Herde bedurfte nämlich einer streitbaren Kraft, denn unter ihrem früheren Hirten, der ein alter gebrechlicher Mann war und fünfe gerad sein ließ, hatte sich in dem Ort eine starke methodistische Propaganda entwickelt, die die Sorge für die verirrten Schafe zu übernehmen strebte. Daher hatte das Konsistorium, um den verlorenen Boden zurückzugewinnen, den noch jungen und wegen seines Eifers wohlbekannten Mathesius auf den erledigten Posten gestellt. Mathesius ging mit Feuer ins Zeug, und in zehnjähriger Amtstätigkeit war es ihm gelungen, die verwahrloste Gemeinde völlig zu reformieren und die eingedrungene Sekte Schritt für Schritt zurückzudrängen. Denn mein Freund Mathesius war ein gewaltiges Rüstzeug, und seine kräftigen Predigten, in denen er mit dem Schwefel der Hölle nicht sparte, waren gerade die rechte geistliche Kost für die derben Magen unsrer Schwarzwaldbauern. Da er aber wußte, daß allzuscharf schartig macht, so achtete er darauf, auch im Donnern das Maß nicht zu überschreiten, und dem kopfhängerischen Wesen der Sektierer gegenüber führte er gerne das »fröhliche Christentum« im Mund, das Leib und Seele frisch erhalte, denn es war einer der guten Grundsätze, mit denen er sein Amt angetreten hatte, daß seine Schafe dem Herrn mit Freuden und nicht in Trübsal dienen sollten.
An einem Julisonntag des verflossenen Jahres, nach der Kirche, als er noch glühend vom Eifer seiner Predigt auf dem schmalen Wiesenweg gegen das Pfarrhaus zuwanderte, wurde er von einem seiner Pfarrkinder überholt und angeredet. Es war der Löffler-Jakob, ein Tagelöhner, den der Pfarrer vor acht Tagen an fast derselben Stelle tüchtig abgekanzelt hatte, denn der Mann war hinter die Kirche gegangen und hatte sich am hellen Sonntagmorgen beim Ochsenwirt einen Rausch geholt, noch dazu in Schnaps.
Der Löffler-Jakob war sonst, um mit den Dörflern zu reden, »kein unebener Mann«, er galt für den fleißigsten und tüchtigsten Tagelöhner im Ort, aber er hatte die unglückliche Gewohnheit, sich am Samstag, sobald er Feierabend gemacht hatte, einen Rausch anzutrinken, der über den ganzen Sonntag anhielt und meist am Montag mit Kirschenwasser frisch begossen wurde. Am Dienstag Morgen stellte sich der Mann regelmäßig wieder zur Arbeit ein und hielt sich den Rest der Woche ganz brav, um am Samstag Abend in das alte Laster zurückzufallen. Heute aber kam der Löffler-Jakob aus der Predigt und war augenscheinlich vollkommen nüchtern. Der Pfarrer wollte eben seiner Freude über die Rückkehr des verlorenen Sohnes Ausdruck geben, als dieser mit verstellter Demut fragte:
»Herr Pfarrer, darf denn das fröhliche Christentum soweit gehen, daß ein Kirchengemeinderat, der noch dazu beweibt ist, eine Witfrau küßt?«
»Unsinn! Was schwätzt Ihr daher?« entgegnete der Pfarrer unwillig. »Kein verheirateter Mann darf eine Witfrau küssen, am wenigsten ein Kirchengemeinderat.«
»So,« antwortete der Löffler-Jakob mit einem schadenfrohen Funkeln in den Augen. »Dann wär's gut, wenn das der Hofbauer Stotz auch wüßte!«
»Was soll das heißen?« rief der Pfarrer entrüstet.
»Der Stotz! – So ein würdiger, gesetzter Bauer und nicht wissen, was Gottes Gebot ist! – Was soll das heißen? Wißt Ihr, was Ihr redet?«
»Ja, Herr Pfarrer,« war die hämische Antwort, »auch den Würdigen und Gesetzten kann das Malör passieren, daß ihnen was Sauberes in die Augen sticht.«
Damit wollte sich der Löffler-Jakob empfehlen, aber der Pfarrer hielt ihn zurück.
»Redet, wenn Ihr mir was zu sagen habt! Wie kommt Ihr auf den Einfall, Mann?«
»An dem Einfall sind meine beiden Augen schuld. Oder vielmehr, der Herr Pfarrer selber ist schuld daran, der mir so einen heiligen Schrecken eingejagt hat vor dem Trinken, daß ich gestern abend, als ich beim Talmüller mit der Arbeit fertig war, den Umweg durchs Mittentaler Wäldchen genommen hab', nur um nicht am Ochsen vorbeizumüssen. Wie ich da so vor mich hingeh', kommt mir mit eins der Stotz entgegen, so breit er ist, mit seinen dicken silbernen Knöpfen an der Weste. Ich drück mich ins Gebüsch, damit ich ihm nicht zu begegnen brauche, denn von der anderen Seite seh' ich schon die Witfrau Manz herkommen, die einen schweren Korb Holz auf dem Kopf trägt. Den setzt sie bei der Steinbank ab, und ich seh', wie der Herr Kirchengemeinderat mit ihr scharmiert und wie er sie in den Arm nimmt und küßt. Da hab' ich bei mir selber denken müssen: das wird wohl das fröhliche Christentum sein, das dem reichen Bauern in die Glieder gefahren ist bei der großen Hitze. Und ich hab' bloß den Herrn Pfarrer einmal fragen wollen, ob das fröhliche Christentum nur für die Kirchengemeinderäte da ist, oder ob Unsereiner auch mitmachen darf!«
Der Pfarrer donnerte zwar den Hohn des Löffler-Jakob gebührend nieder, aber die Mitteilung des Mannes machte ihm zu schaffen. Ein Kirchengemeinderat und eine Witwe küssen! Sein erster Antrieb war, sofort einzuschreiten und das Ärgernis von der Kanzel herab zu brandmarken. Aber dieser Stotz war einer der angesehensten Bauern, schwer reich und bis dahin gänzlich unbescholten. Erst seit drei Jahren im Amt, das er zu allgemeiner Zufriedenheit verwaltete, war er dem Pfarrer in allen Gemeindeangelegenheiten unentbehrlich. Ebenso bedurfte man seiner bei den Wahlen, um sozialdemokratische Tendenzen niederzuhalten, kurz, der Stotz war so recht eine breite und feste Säule des Bestehenden, ein Wächter der Ehrbarkeit, ein Spiegel für die ganze Gemeinde. Durfte man einen solchen Mann bloßstellen? Es war ihm schon, als hörte er die Methodisten schadenfroh sagen: »Ei, der Stotz! Der Kirchengemeinderat, die rechte Hand des Pfarrers Mathesius. Wer hätte das gedacht? Wenn solches am grünen Holze geschiehet –«
Nein, dem Stotz konnte man nicht zu nahe treten, ohne sich selbst und alle Guten mitzuschädigen. Aber hinwiederum, sagt nicht die Schrift: »Wenn dich dein Auge ärgert, so reiß es aus und wirf's von dir?«
Unter solchen Gedanken ging der Pfarrer Mathesius nach Hause, wo er rastlos im Zimmer auf und ab schritt. Der Appetit war ihm vergangen, die Ungewißheit zog ihn hin und her, er wußte sich nicht zu raten noch zu helfen.
Unglücklicherweise war die Pfarrerin, bei der er sich sonst Rats zu erholen pflegte, verreist, und als sie zurückkam, hatte sich der Zweifel schon so tief in die Brust des Pfarrers eingefressen, der Fall erschien ihm so schwierig und verwickelt, daß er von dem einfachen Verstand seiner Frau keine Hilfe mehr hoffte. Auf der einen Seite die Pflicht, den Fehltritt zu rügen, zu verhindern, daß er sich wiederholte, auf der anderen die Furcht vor dem Skandal, die Sorge für den Frieden der Gemeinde.
Welche Pflicht ging der anderen vor? Ein halbes Jahr lang besann er sich, und je mehr er dachte, desto minder wurde er schlüssig.
Wenn er fortan den Löffler-Jakob ins Wirtshaus gehen sah, wich er ihm in einem breiten Bogen aus, denn er wagte ihn nicht mehr zu stellen, er fürchtete sich vor des Mannes schadenfrohen Augen.
Endlich konnte er diesen Zustand nicht länger ertragen und wandte sich schriftlich an seinen Dekan um Weisung, wie er sich zu verhalten habe.
Der Dekan antwortete unverzüglich in etwas scharfem Ton: »Der Kirchengemeinderat hat dem ganzen Ort das Exempel zu geben. Ein unwürdiges Mitglied kann nicht geduldet werden. In solchem Falle heißt es: einschreiten, je schneller, desto besser! Ich begreife nicht, was der Herr Kollege hierbei zu bedenken findet.«
Dieser Brief traf den Pfarrer Mathesius wie ein Peitschenhieb. Ohne Zeit zu verlieren, begab er sich in das Haus des Stotz und machte ihm Vorhaltungen.
»Ein Kirchengemeinderat,« sagte er, »muß der ganzen Gemeinde als Beispiel voranleuchten und darf nicht mit der bösen Tat den Anfang machen. Von Ihnen geht die Rede, daß Sie es mit der Witwe Manz halten!«
Der reiche Bauer probierte eben einen neuen Gaul auf seinem Hof. Als er des Pfarrers ansichtig wurde, gab er das Pferd seinem ältesten Jungen zum Wegführen und ging, das Käppchen in der Hand, dem Besuch entgegen.
Bei den strengen Worten des Pfarrers aber machte er ein Gesicht, als ob er vom Himmel fiele.
»Ich mit der Witwe Manz! Herr Pfarrer, das wär' ja gegen Gottes Gebot.«
»Sind Sie nicht an einem Samstag Abend im verflossenen Juli da hinten im Mittentaler Wäldchen bei der Steinbank der Witwe Manz begegnet, haben mit ihr geredet und sie geküßt?«
»Herr Pfarrer! Auf Ehr' und Seligkeit,« rief der Bauer mit der ganzen Entrüstung der Unschuld, indem er die Hand auf die Brust legte, »wer Ihnen das gesagt hat, mag sehen, wie er die Lüg' vor unsrem Herrgott verantwortet. Ich hab' mit der Witwe Manz nie anders als in Ehren zu tun gehabt.«
Die ehrliche Empörung des Bauern und sein biederes Aussehen wirkten mit solcher Überzeugungskraft auf den Pfarrer, daß er sich über seinen Kirchengemeinderat ganz und gar beruhigte. Aber es grub ihm in der Seele, daß er jetzt einen Verleumder in der Gemeinde hatte, und bei der ersten Begegnung setzte er den Löffler-Jakob zur Rede.
Der Löffler-Jakob aber blieb dabei, daß der Hofbauer Stotz an jenem Juliabend die Witwe Manz geküßt habe, und erbot sich, eine Zeugin zu stellen in Person der alten Huberin, die an eben jenem Samstag Abend im Mittentaler Wäldchen Erdbeeren gesammelt hatte.
Der Pfarrer ließ die alte Huberin rufen.
»Ist es wahr, Huberin, daß Ihr verflossenen Juli im Mittentaler Wäldchen den Hofbauern Stotz gesehen habt, wie er die Witfrau Manz küßte?«
»Ja, Herr Pfarrer, das ist gewißlich wahr, ich kann's vor unsrem Herrgott beschwören,« war die Antwort.
Der Pfarrer war tief erschüttert. Also, ein Kirchengemeinderat konnte sich nicht nur so weit vergessen, eine Witwe zu küssen, er war daneben auch noch im stande, seinen Pfarrer zu belügen.
Das durfte nicht so hingehen, wenn nicht Gottes Zorn über die Gemeinde kommen sollte! Hier bedurfte es einer exemplarischen Rüge und, auch wenn der Mann zu Kreuze kroch, der schleunigen Enthebung von einem Amt, das er unwürdig bekleidete.
Aber beim ersten Wort, das er zum Stotz sagte, spie dieser Feuer und Flammen. Er verlangte den Namen des Ehrabschneiders zu wissen, der ihn bei seinem Pfarrer verdächtigt habe, und als er ihn erfuhr, lief er aufs Amtsgericht und reichte eine Klage wegen Verleumdung ein.
Der Beklagte Löffler-Jakob ließ sich nicht einschüchtern, sondern erbot sich, den Wahrheitsbeweis zu erbringen. Beide Parteien standen sich auf dem Amtsgericht gegenüber. Der Löffler-Jakob hatte die alte Huberin und noch eine weitere Person als Zeugen laden lassen. Die beiden beschworen, es mit angesehen zu haben, wie der Kirchengemeinderat Stotz im Juli an einem Samstag Abend im Mittentaler Wäldchen die Witwe Manz küßte.
Für den Stotz dagegen zeugte die Witwe Manz, die den Kuß in Abrede stellte und mit ihrem Eid bekräftigte, daß er ihr nur, als sie bei der Steinbank rastete, den Korb mit Holz wieder auf den Kopf geladen habe. Im Verlauf der Verhandlungen trieben die beiden noch einen Zeugen auf, der unter Vereidigung auf ihre Seite trat.
Ärger als je entsetzte sich der Pfarrer Mathesius. Notwendig mußten da von den vier vereidigten Personen zwei meineidig sein. Daß man bei der angegebenen geringen Entfernung das Aufladen eines Korbes bona fide mit einem Kuß verwechseln könne, schien ihm völlig unglaubhaft. Also hatten die beiden Zeugen des Löffler-Jakob wissentlich falsch geschworen, oder, was noch schlimmer war, der Stotz die seinigen zum Meineid verleitet. Wohin war es mit der Mustergemeinde gekommen?
Der Amtsrichter jedoch, ein gewesener Korpsstudent, der den Kuß nicht so schwer nahm wie der Pfarrer, redete zum Guten, und es kam ein Vergleich zu stande, wonach der Kläger seine Klage zurückzog und die Parteien zu gleichen Teilen die Kosten trugen. Der Meineid wurde nicht untersucht, und eine Zeitlang ruhten die Waffen.
Da wird es auf einmal ruchbar, daß der reiche Stotz dem armen Löffler-Jakob seinen Teil der Prozeßkosten insgeheim ersetzt hat.
»Die Sach' steht auf S–federn,« sagen die Bauern und lachen, und auch der Pfarrer, der recht wohl weiß, wie stramm sonst der reiche Stotz die Schnüre seines Geldsäckels zusammengezogen hält, sieht wohl ein, daß diese plötzliche Freigebigkeit nicht nach gutem Gewissen schmeckt.
Der arme Mathesius findet sich in größeren Nöten als je zuvor. Wie darf er einen Kirchengemeinderat dulden, der zu dem Vergehen des Kusses auch noch meineidig geworden ist? Aber soll er den Kampf von vorne beginnen, die Gemeinde in neue Unruhe stürzen, es am Ende erleben, daß der Methodistenprediger sich ans Steuer des Schiffleins setzt, das er, der berufene Steuermann, nicht regieren kann. Und sagt nicht der Herr: »Mein ist die Rache?«
Sobald er sich aber bei diesem Spruch beruhigen will, mahnt ihn eine Stimme, daß er ja selbst der Diener ist, der den Willen des Herrn zu vollstrecken hat, und er stürzt in neue Zweifelsqualen. Immer sieht er den Stotz vor sich, breitbeinig und vierschrötig, wie er die bildsaubere Witwe Manz im Arm hält und ihre Lippen küßt, die so rot sind wie die Erdbeeren der alten Huberin.
Doch zum Glück erlischt jetzt die Amtszeit des Stotz, wodurch das Ärgernis von selbst ein Ende hat, und erleichtert will der Pfarrer aufatmen.
Aber es sollte anders kommen. Mit Stimmeneinheit wird der Stotz wieder gewählt.
Der Pfarrer ist außer sich. Entweder der Stotz hat mit Unrecht das Vertrauen der Gemeinde, und das darf er, der Seelenhirt, nicht dulden, oder die Gemeinde ist so schwach im Eifer, daß sie sich aus seinen Sünden nichts macht, und das darf er erst recht nicht dulden.
Nach einer schlaflosen Nacht findet der Pfarrer doch einen glücklichen Ausweg. Er begibt sich persönlich zum Stotz und redet ihm zu, freiwillig zurückzutreten.
»Ich bin unruhig, Herr Stotz. Sie können mir das nicht übel nehmen nach allem, was geschehen ist. Darum wäre es das beste für Sie und alle, Sie brächten die Sache selbst ins reine, indem Sie die Wahl ablehnten!«
Der Stotz ließ mit sich reden.
Das Amt sei ja kein bezahltes, meinte er, und auf Ehren sei er nicht versessen, er habe das nicht nötig, er, der reiche Stotz. Ja, wenn das Amt seine zwanzig bis dreißig »Märker« im Jahr eintrüge, wie etwa das des Kirchengemeindepflegers, dann würde er sich wohl besinnen, aber so bloß der Ehre wegen – er zuckte die Achseln – seine Mitbürger wüßten ja ohnehin, wie sie mit ihm dran seien, er brauche sich, Gott sei Dank, nicht erst um ihre gute Meinung zu bemühen, und wenn dem Herrn Pfarrer ein Gefallen damit geschehe, sei er bereit, sich zurückzuziehen.
Aber mein armer Pfarrer sollte keine Ruhe finden.
Wenige Tage danach redet ihn eines seiner Pfarrkinder auf der Straße an: »Sie, Herr Pfarrer, das war auch nicht schön von Ihnen, wie Sie's dem Stotz gemacht haben! Den Stotz, den hätten wir gern im Kirchengemeinderat behalten. Der hat sein' Sach' verstanden. Der neue, der jetzt da ist, weiß weder hist noch hott –« und noch mehr solcher ländlich gewürzter Freimütigkeiten, die dem Pfarrer Mathesius ins Herz schnitten. Ein tiefer Zwiespalt beschlich ihn. Er mußte einsehen, daß er bei aller Mühe es doch niemals recht machen konnte. Womit hatte er sich denn vergangen, daß ihm in dieser Sache alles fehlschlug? Er ging in sich und prüfte die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. War es recht, so scharf gegen den Stotz einzuschreiten? Und wo blieb das Ideal vom fröhlichen Christentum? Heißt es nicht: »Wer ohne Sünde ist –?«
Hier traf ihn plötzlich eine Erinnerung wie ein Dolchstoß ins Herz. Er selber hatte ja seiner Zeit die Witwe Manz begünstigt, indem er eine Bittschrift für sie einreichte, damit ihr krankes Söhnchen in eine Ferienkolonie aufgenommen würde. Und der alten dürren Huberin hatte er's abgeschlagen, als sie ihn bat, ihr Gesuch um einen Aufenthalt im Wildbad zu unterstützen, wo sie ihren Rheumatismus loszuwerden hoffte.
»Das hilft ja doch nichts mehr,« hatte er ihr rundweg gesagt, »so ein alter Gicht in so einem alten Gestell, den bringt kein Wasser dieser Erde mehr weg. Tragt's mit Ergebung, weil's Gottes Wille ist, und behelft Euch vollends, drüben haben alle Gebresten ein Ende.«
Warum hatte er das getan? Er schlug an seine Brust und sagte sich: »Ich hab's getan, weil die Witwe Manz jung und bildsauber ist, die Huberin aber eine garstige alte Schachtel. Ich habe andere richten wollen, da ich doch selbst in Sünden wandle, ich habe den Splitter gesucht im Aug' meines Nächsten und den Balken nicht gesehen im eigenen.«
Tiefer und tiefer versank er in seine Grübelei. Jetzt tauchte ihm die Frage auf, ob nicht die Gedankensünde, deren er sich schuldig finden mußte, anderen schon früher bekannt geworden sei als ihm selbst.
Mußten sie nicht sagen: »Warum hat er denn zuerst ein halbes Jahr gewartet, ehe er gegen den Stotz vorging? Natürlich, weil er selber nicht sauber ist. – Und warum hat er dann schließlich doch gesprochen? Als es nicht länger zu vertuschen war.« –
Mit tiefem Schrecken glaubte er jetzt zu sehen, in welchem Licht er vor seiner Gemeinde stand.
Ob sie wohl schon alle von ihm sprachen? Soeben gingen zwei Bauernweiber vorbei, die er beide konfirmiert hatte.
»Guten Abend, Herr Pfarrer!«
»Guten Abend miteinander!«
Nach zwei Schritten blieb er stehen und sah zurück. Richtig, da steckten sie die Köpfe zusammen und zischelten! Und von wem konnten sie sprechen, wenn nicht von ihm?
An der Ecke der Dorfstraße trieb sich ein Rudel Kinder umher und lachte. Als er näher kam, verstummte das Gelächter, und die Mützen flogen in die Höhe. Der Pfarrer ging weiter, den nagenden Wurm im Herzen. Er zweifelte keinen Augenblick, daß die Kinder über ihn gelacht hatten. Und mit einem Male fiel ihm auch jene Stelle aus dem Brief seines Dekans wieder ein: »Ich begreife nicht, was der Herr Kollege hierbei zu bedenken findet.« Die Worte waren nicht unterstrichen gewesen, aber der Pfarrer unterstrich sie sich jetzt in Gedanken. Augenscheinlich hatte schon damals sein Vorgesetzter gedacht, was jetzt die ganze Gemeinde dachte.
Er konnte zur großen Bestürzung der Pfarrerin bei der Abendmahlzeit keinen Bissen hinunterbringen und schlief die Nacht nur wenig; sie hörte ihn oft seufzen und sich im Bette hin und her werfen.
Gegen Morgen entschlummerte Mathesius und wandelte in friedlichen Gefilden ohne Schuld und Reue. Da weckte ihn ein Chor lauter Stimmen von der Straße herüber. Es waren die Chorkinder, die drüben in der Schule einen Bußpsalm sangen. Deutlich vernahm der Pfarrer die Worte:
Jesus nimmt die Sünder an!
Sagt doch dieses Trostwort allen,
Welche von der rechten Bahn
Auf verkehrten Wegen wallen. –
Mit Gewalt fiel der Mühlstein auf seine kaum befreite Seele zurück. Also auch der Schulmeister hatte diesen Choral eigens ausgewählt, um seinen Pfarrer durch die Stimme der Unmündigen zur Umkehr und Buße zu ermahnen. Die Einbildung, daß auch der Schulmeister ihn überwache, wirkte vollends ganz zerrüttend auf sein Gemüt.
Von da an fand der Pfarrer keinen Halt noch Frieden mehr. Alles was geschah, bestärkte ihn in seinem Wahn, überall hörte er Anspielungen, jedes zufällige Wort hielt er auf sich gemünzt. Wo er sich zeigte, glaubte er, die Leute flüsterten hinter seinem Rücken: das ist der Pfarrer, der es mit der Witfrau hält. Unablässig grübelte er über seine vermeintliche Schuld und die Gedanken der Menschen über ihn. Allmählich verwirrte sich dabei sein Geist und zuweilen schien es ihm jetzt, als habe er an jenem Juliabend im Mittentaler Wäldchen bei der Steinbank die Witwe Manz geküßt.
Erschreckende Anzeichen stellten sich ein. Wenn er auf der Kanzel stand und wie früher gegen die Sünden der Weltkinder donnerte, brach ihm plötzlich am ganzen Leibe der Schweiß aus, und er begann zu zittern. Er neigte zwar überhaupt zur Schweißbildung, aber daran dachte er nicht mehr. Schwitzen auf der Kanzel! War das nicht ein sichtbares Zeichen, daß er unwürdig da oben stand? Er konnte nicht einmal sein Taschentuch ziehen und sich die Stirne trocknen, denn – was hätten seine Zuhörer von einem Pfarrer denken müssen, der auf der Kanzel schwitzte? Hätten sie nicht sagen müssen: es ist das böse Gewissen, das ihm den Schweiß austreibt, wenn er gegen die Sünden anderer eifert?
Denn er eiferte jetzt stärker als zuvor, weil er fürchtete, daß jede Lauheit ihm als das Bewußtsein eigener Schuld gedeutet würde. Ab und zu kamen ihm freilich doch noch Zweifel an der Wirklichkeit dieser Schuld, aber eine immer wieder aufsteigende innere Angst übertäubte alles.
Als er einem seiner Pfarrkinder die Grabrede hielt und beim »Lebenslauf« eines kleinen Fleckens erwähnte, blies ihm von hinten etwas kalt in den Nacken, daß er fürchtete, kopfüber in die offene Grube zu fallen. Er trat einen Schritt zurück und redete weiter. Aber nun war es ihm, als ob alle Versammelten sich grenzenlos über dieses Zurücktreten verwundern und sich fragen müßten: »Was kommt nur unserem Pfarrer an? Sitzt ihm denn der Böse im Nacken?«
Von da an konnte er nie mehr an den Rand eines Grabes vortreten, sondern hielt sich, wenn er die Leiche einsegnete, immer zwei Schritte entfernt, und der Küster mußte hart neben ihm stehen, damit er sich im Notfall halten konnte.
Den besorgten Fragen der Pfarrerin wich er aus, und vor ihren forschenden Augen senkte er die seinigen scheu und schuldbewusst. Und immerwährend verfolgte ihn die Witwe Manz, aber nicht mehr in ihrer verlockenden Evasgestalt mit den erdbeerroten Lippen, sondern wie das Schreckbild der begangenen Sünde, aschfahl und ängstigend. Stand er auf der Kanzel und predigte vom Scherflein der Witwe, so verwickelte er sich, als wollte er sagen »der Witwe Manz«, er sagte es zwar nicht, denn er brach noch rechtzeitig ab, nun aber machte ihn das jähe Steckenbleiben bestürzt, es schien ihm, als müßte die ganze Gemeinde in Gedanken den ausgebliebenen Namen hinzusetzen, und später geriet er sogar in Zweifel, ob er ihm nicht etwa dennoch entfahren sei.
In seiner Gewissensangst beschloß Mathesius, sich vor seiner Ehehälfte zu demütigen und gemeinsam mit ihr sein Inneres zu durchforschen. Er breitete sein ganzes Leben vor ihr aus wie vor einem Beichtvater. Sein Wandel schien ihm sündig und befleckt von Anfang an. Er ging bis auf die Tage ihrer ersten Bekanntschaft zurück. Ihre heimlichen Zusammenkünfte hinter dem Rücken der Eltern und die Verlobung ohne väterliche Einwilligung beunruhigten nachträglich sein Gewissen.
Die Pfarrerin, eine leidlich intelligente, aber nicht mit feinen seelischen Tastorganen begabte Frau war natürlich von diesen Selbstvorwürfen, die sie mit angingen, wenig erbaut, und da er im Eifer der Demut auch sie in seine Zerknirschung hereinzuziehen suchte, begehrte ihr Tugendstolz auf. Um sich selbst zu rechtfertigen, bewies sie ihm haarscharf, wie sehr von Anfang an in ihm die Wurzel alles Bösen gewesen, und schwärzte noch seine Sünden, statt sie ihm auszureden. Er ließ das alles willig über sich ergehen und gab zu, daß sein Herz im Argen liege, aber er bestand darauf, daß auch sie sich an die Brust schlage, und entzündete damit unerwartet einen Ehehader.
»Was, ich?« rief empört die Pfarrerin. »Soll ich schuld sein, wenn du deine Augen nicht zu Hause hältst und dir andere Frauen besser gefallen als deine eigene? Das fehlte noch, daß jetzt ich als Sündenbock herhalten sollte! Mein Herz ist rein, ich lasse meine Augen nicht auf unrechten Wegen wandeln.«
»Das weiß ich, Ernestine,« sagte der Pfarrer zerknirscht dagegen. »Aber eben, daß du so sicher im Wandel bist und es auch weißt, das hat dazu beigetragen, den meinigen zu beirren. Durch deine Rechtfertigkeit und Herzenshärtigkeit hast du mich veranlaßt, das freundliche, anmutende Wesen anderer Frauen mit mehr Wohlgefallen anzusehen, als ich gesollt hätte!«
Dieses letzte Bekenntnis versetzte die Pfarrerin in die größte Wut.
»Was?« rief sie außer sich, »das wagst du mir ins Gesicht zu sagen? So steht's mit deiner Pflicht und Treue! Geh – geh zu deiner Witwe Manz!«
Das Wort traf den Pfarrer wie ein Keulenhieb. Er schlug sich die Hände vors Gesicht und brach stöhnend vor dem Kanapee zusammen. Die Pfarrerin erschrak heftig über diese Wirkung ihres Ausbruchs. Sie eilte zu ihm und tröstete ihn. Was er nur habe? Es sei ja gar nicht so schlimm gemeint – sie habe ja nur einen Augenblick gedacht – es sei ihr so vorgekommen, als gefalle ihm die leichtsinnige Person, die verflossenen Juli im Mittentaler Wäldchen einen verheirateten Mann geküßt habe.
Mühsam, zerschlagen richtete sich der Pfarrer in ihren Armen auf. Also auch sie konnte so etwas denken! Das nahm ihm den letzten Rest von Selbstvertrauen.
Der Zufall wollte, daß um jene Zeit ein Prediger der Inneren Mission die Anfrage stellte, ob sein Besuch in der Gemeinde erwünscht sei. Pfarrer Mathesius, der von der Gegenwart des Missionars geistlichen Trost für sich selbst erhoffte, bejahte mit Freuden. Mit Frau und Tochter saß er vorn im pfarrherrlichen Kirchenstuhl, als der Missionsprediger einen heftigen Vortrag begann, gewürzt mit der Geschichte von einem Schneider, der Sozialist, Trinker und Ehebrecher war und dessen Frau so lange betete und gute Werke tat, bis der Mann erleuchtet wurde, den Umgang der »Genossen« abschwor und statt ins Wirtshaus am Eck ins Gotteshaus ging. Nachdem der Prediger sich in einer schönen Ausmalung des nun blühenden häuslichen Friedens ergangen hatte, fuhr er mit erhobener Stimme fort: »Aber, meine Freunde, als das Gebet der Frau Erhörung gefunden hatte, ließ sie selbst im Eifer nach, sie wurde lau und lauer, und siehe, der Mann sank aus dem Stand der Gnade wieder herunter. Gerade, als sie ihren Beitrag für die Innere Mission verweigert hatte, stand sie am Fenster, und da sah sie ihn schräg über die Straße gehen nach jener Eckstube zu ebener Erde, wo –«
Der Pfarrer Mathesius hörte kein Wort weiter. Er war fast vom Stuhl gesunken vor Schreck. Die Witwe Manz wohnte in einer Eckstube, die zu ebener Erde lag! Er meinte zu fühlen, daß die Augen der ganzen Gemeinde an ihm hingen; er war zerschmettert, vernichtet. Wie er jenes Tages, von Frau und Tochter gestützt, aus der Kirche kam, wußte er später selber nicht.
Jetzt brach an dem Unglücklichen der völlige Irrsinn aus. Die Pfarrerin ließ sich von dem Wahngebilden anstecken und, statt ihm begreiflich zu machen, daß der Missionsprediger, der desselben Tages von auswärts gekommen war, unmöglich von der Witwe Manz etwas wissen konnte, klagte sie mit ihm über die Schmach, so von dem Amtsbruder vor der ganzen Gemeinde gebrandmarkt worden zu sein. Die Frau jammerte, die Tochter weinte, der Zustand des Pfarrers wurde fürchterlich.
In dieser Not wurde ich telegraphisch herbeigerufen, zugleich als alter Bekannter und als Arzt.
Ich fand meinen armen Mathesius, wie er sich auf seinem Himmelbett wälzte und dabei jammerte und weinte: »Sagt von mir, was ihr wollt, es geschieht mir alles recht, ich bin ein Unwürdiger. Nur nennt mich keinen Ehebrecher, denn das hab' ich nicht verdient!«
Da kein Zureden half, ließ ich ihn schnell seine Reisetasche packen und brachte ihn in eine Nervenanstalt. Der Pfarrer folgte gutwillig, es war ihm eine Erlösung, den Ort zu verlassen.
In der ersten Zeit war er sehr aufgeregt, er klagte sich oft mit Heftigkeit an, beteuerte aber stets, wenn er sich auch schwer vergangen habe, bis zum äußersten habe er es nicht getrieben. Das sechste Gebot gebrochen – nein, das habe er nicht, das habe er gewiß nicht. Aber sonst sei er ein armer, elender Sünder – und dabei weinte er jedesmal Ströme von Tränen.
Mit der Zeit wurde er ruhiger, aber es gelang nicht, ihn von seinem Wahne zu heilen. Auf seinen Posten wollte er nicht zurück, auch das Wiedersehen mit Frau und Tochter blieb ohne Erfolg. Man mußte sich entschließen, ihn in der Anstalt zu behalten.
Zugleich mit der nachgesuchten Enthebung vom Amte traf die Nachricht aus seinem Pfarrdorf ein, daß der Hofbauer Stotz zur allgemeinen Befriedigung Kirchengemeindepfleger geworden sei. Pfarrer Mathesius blieb völlig stumpf bei dieser Mitteilung. Daß der Stotz es war, der die Witwe Manz geküßt hatte, schien er ganz vergessen zu haben. Als man ihn daran erinnerte, murmelte er vor sich hin: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!«
Sein Geist ist unheilbar umnachtet. Frau und Tochter leben in Trübsal.
Und das alles um den Kuß, den an einem Juliabend im Mittentaler Wäldchen ein Kirchengemeindenat einer Witfrau gegeben hat!