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Seit dreißig Jahren wandelt der Herr Registrator Lebrecht jeden Morgen, mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage, von seiner Wohnung in der Kronprinzenstraße nach der Regierungskanzlei auf dem Schillerplatz.
Er nimmt mit peinlicher Genauigkeit jedesmal denselben Weg, und es wird behauptet, daß er dazu täglich die gleiche Zahl von Schritten gebrauche. Wenn er aus der Haustür tritt, hält er sich zuerst eine Zeitlang links, überschreitet dann bei trockenem wie auch bei nassem Wetter jedesmal auf dem gleichen gepflasterten Übergang die Straße und geht das rechtsseitige Trottoir entlang bis zur Ecke der Färbergasse weiter. Dort biegt er ein, durchkreuzt den Grünen Markt und erreicht durch einen Torweg die Kaiser Wilhelmsbrücke, wo er bei Sonnenschein zwei Minuten stehen bleibt, um dann mit beschleunigten Schritten die verlorene Zeit wieder einzubringen. Ist es aber trübe und regnerisch, so geht er, ohne sich aufzuhalten, die Lange Gasse hinunter, die ihn geradeswegs auf den Schillerplatz führt.
Dies ist der einzige elastische Punkt in seinem Tagesprogramm; im übrigen läßt sich sein Erscheinen an jeder einzelnen Stelle seines Weges mit astronomischer Sicherheit vorausberechnen. So unauffällig sein Äußeres ist – denn der Herr Registrator sieht aus wie jedermann – so kennt ihn doch alt und jung auf seinem Wege. Wo er vorüberwandelt, öffnen schlaftrunkene Krämer ihre Buden, und verspätete Schulkinder setzen sich in Trab, denn alle wissen: im Augenblick, wo der Herr Registrator sein zu ebener Erde gelegenes Bureau betritt, wird es acht Uhr schlagen.
Eine Abweichung von dieser Regel könnte unberechenbare Folgen nach sich ziehen, denn mancher verläßt sich auf den Registrator Lebrecht sicherer als auf seine Taschenuhr. Sagt ja sogar die Frau Oberlandesgerichtsrätin zu ihrem Gatten, der noch beim Frühstück zaudert: »Alter, es ist Zeit – dort kommt schon der Herr Registrator.«
Aber selbst der ärmste Philister hat einmal sein Stündchen Poesie im Leben, wie den Ameisen Flügel wachsen, während sie lieben. So gab es auch für den Herrn Registrator eine Zeit, wo er über zwei schönen Augen den Glockenschlag vergaß. Doch von jener Zeit will Herr Lebrecht heute nichts mehr hören, denn die Erinnerung birgt einen Stachel, der ihm noch jetzt die Schamröte ins Gesicht treibt.
Vor einem Vierteljahrhundert nämlich, als der alte Herr Registrator noch ein junger Herr Registrator war, hatte er sich einmal die Extravaganz erlaubt, einen Umweg durch die Gartenstraße zu machen, die ihn mit ihren blühenden Syringen und dem Gesang der Amseln lockte.
Vor einer kleinen einstockigen Villa, welche die Nummer 7 trug und in verdorbenem italienischem Stil mit allerlei barocken Zieraten erbaut war, blieb er stehen, denn die zwei Karikaturen aus gebranntem Ton, welche die Türpfosten des Vorgärtchens schmückten, hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Es war ein Gnomenpärchen in grellbemalter Terrakotta, das sich gegeneinander zu ereifern schien, und von Mutwillen gekitzelt erhob Herr Lebrecht den Stock, um dem kleinen Weibchen vorsichtig auf den geifernden Rachen zu klopfen. Doch schnell ließ er den Arm wieder sinken und sah sich um, ob niemand seine Bewegung bemerkt habe. Die Hausbewohner schienen noch zu schlafen, denn die Rouleaus waren alle niedergelassen, und schon wollte Herr Lebrecht seinen Weg fortsetzen, als er an einem seitlichen, von Rosen umrankten Fenster, das auf den schmalen Kiesweg des Gartens hinuntersah, einer jugendlichen Mädchengestalt ansichtig wurde. Der Goldregen drängte sich mit seinen leuchtenden gelben Trauben bis zu dem ausladenden Gesimse hinauf, was ein gar anmutiges Bild ergab, und es schien Herrn Lebrecht, als ob das Mädchen ihn anlächle; ihr geöffneter Mund ließ die blitzenden Zähne sehen, und unter den aufgestreiften Ärmeln schimmerten die weißen Arme.
Herr Lebrecht, der sehr kurzsichtig war, aber auf der Straße keine Brille tragen mochte, scheute sich, länger hinaufzublicken, und beschleunigte den Schritt. Dabei stolperte er über seinen Stock, der ihm zwischen die Beine geriet, und wäre fast zu Boden gestürzt. Nun kam er noch mehr in Verlegenheit und begab sich mit gemessener Haltung auf das gegenüberliegende Trottoir. Aber die Göttin Eitelkeit zupfte ihn leise am Haar, daß er sich nach ein paar Schritten noch einmal umwandte. Da lag die Schöne noch immer am Fenster, ihr roter Mund lächelte, ihr weißer Arm glänzte, und es wollte Herrn Lebrecht scheinen, als habe sie sich weiter herausgebeugt, um ihm nachzublicken.
Dies war der denkwürdige Tag, wo der Herr Registrator um sieben Minuten zu spät auf dem Bureau erschien; aber er ließ sich durch die erstaunten Blicke der Schreiber und Buchhalter nicht irre machen. Er stellte sich vor sein Pult, setzte die Brille auf und begann eifrig Akten einzutragen, doch aus den aufgehäuften Papierstößen strömte es ihm wie der Duft von blühendem Goldregen entgegen, und ganze Amselchöre schmetterten in seiner Seele.
Er war zu schüchtern, um sich zu erkundigen, wer das Mädchen sei, und hatte auch mehrere Tage nicht mehr den Mut, seine Extravaganz zu wiederholen. Er meinte, jeder Vorübergehende müßte sich nach ihm umdrehen und im stillen fragen: Was hat denn der Registrator Lebrecht in der Gartenstraße zu tun? Sein Weg führt ja durch die Lange Gasse auf den Schillerplatz.
Endlich wurden aber die Frühlingslüfte, die ihm aus der Gartenstraße entgegenwehten, Meister, und er schlug abermals den verführerischen Weg ein.
Da lag auch das schöne Mädchen wieder am Fenster, die Haare kunstvoll geordnet und die Ärmel über den weißen Armen heraufgeschlagen.
Er hielt die Augen fest auf sie gerichtet, um so viel, als ihm seine Kurzsichtigkeit verstatten wollte, von der reizenden Erscheinung zu verschlingen. Diesmal stolperte er nicht, denn er hatte vorsichtshalber den Stock zwischen dem Ellbogen durchgeschoben, und im Näherkommen glaubte er zu bemerken, daß sich unter seinen Blicken das hübsche Gesicht mit Purpur färbte.
Das Herz begann ihm heftig zu schlagen, denn noch nie war ein Mädchen um seinetwillen errötet, und das Blut stieg ihm gleichfalls in die Schläfe. Er setzte sogar zum Grüßen an, aber erschrocken über seine Kühnheit maskierte er die übereilte Bewegung durch einen Griff nach der Krawatte.
Von da an ging der Herr Registrator täglich durch die Gartenstraße, wußte aber seine Schritte so einzurichten, daß er dennoch mit dem achten Glockenschlag sein Bureau erreichte. Wie pünktlich er auch bei dem schweigenden Stelldichein erschien, das Mädchen war noch pünktlicher, denn sie wartete schon jedesmal am Fenster, lächelte und errötete lieblich und verließ ihren Posten nicht, solange noch ein Zipfel von Herrn Lebrechts schwarzem Rock in Sicht war.
Er ging bescheiden und ehrbar vorüber, indem er, um nicht aufzufallen, nur ein weniges nach ihrem Fenster hinaufblinzelte, doch gelang es ihm mit der Zeit, noch einige stille Beobachtungen zu machen, die seine Achtung vor der Unbekannten erhöhten. Das Gesimse, woran sie lehnte, stand ganz voll von blühenden Topfpflanzen, die augenscheinlich den sorgsamen Händen ihren prangenden Flor verdankten, denn als einmal ein Windhauch den Wipfel des Goldregens niederbog, sah er sie mit einem kleinen grünen Gießkännchen beschäftigt, und das freute den Herrn Registrator, der in seiner Junggesellenwohnung gleich falls Blumen zog. Außerdem war das zierliche, blütenweiße Spitzentuch um ihren Hals immer gleich frisch und sauber anzusehen, was auf Reinlichkeit und einen bescheidenen Wohlstand schließen ließ. Ganz besonders wohltuend aber war es dem Herrn Registrator zu bemerken, daß sie die Ärmel nicht nach der Mode hoch aufgebauscht, sondern bescheiden an der Schulter an-schließend trug, worin er das Anzeichen eines natürlichen, einfachen, nicht auf das Modische gerichteten Geschmacks erblickte.
Das viele Am-Fenster-stehen hätte zwar unter andern Umständen seinen Tadel erregt, da er es aber auf sich selbst beziehen zu dürfen glaubte, war es in Herrn Lebrechts Augen mehr als entschuldbar.
Allen, die ihn kannten, erschien der Herr Registrator in diesen Tagen als ein anderer Mensch. Er schaffte sich einen schöneren Spazierstock an, den er zuweilen im Gehen mit einer kühnen Gebärde schwang; seine schwarzseidene Krawatte vertauschte er mit einer farbigen, und er lächelte immer leise vor sich hin, als dächte er an die angenehmsten Dinge.
Aber Herr Lebrecht war kein begehrliches Glückskind, seine Ansprüche an das Schicksal flogen nicht hoch, und wahrscheinlich hätte er sich auf immer damit begnügt, das schöne Kind jeden Morgen seine Blumen begießen zu sehen und heimlich an sie zu denken, wäre ihm nicht eine fatale Entdeckung in die Quere gekommen.
Auf seinem Bureau verkehrte ein junger Referendar und gewesener Korpsstudent, Namens Franke, der mit Herrn Lebrecht zuweilen des Abends eine Partie Tarock spielte und von diesem seines gedrehten Schnurrbarts und der feingewichsten Stiefel halber mit Recht oder Unrecht für einen Lebemann gehalten wurde.
Dieser Herr Franke nahm neuerdings seinen Weg gleichfalls durch die Gartenstraße, und obschon eigentlich kein Anhaltspunkt für eine solche Vermutung vor lag, setzte Herr Lebrecht doch ohne weiteres voraus, daß der Referendar dem gleichen Magneten folgte.
Der Verdacht wuchs, als der Referendar, von Herrn Lebrecht über seine Spaziergänge durch die Gartenstraße ausgehorcht, den Vorwand brauchte, er habe dort seinen Mittagstisch, was erweislichermaßen nicht der Fall war.
Den armen Registrator brachte die Eifersucht aus allem Gleichgewicht, denn trotz der günstigen Meinung, die er von sich selber hatte, fühlte er sich einem solchen Rivalen auf die Länge nicht gewachsen.
Der Wunsch, dem Gegner zuvorzukommen, gab ihm eine verzweifelte Kühnheit ein: er beschloß, dem schönen Kinde zu schreiben.
Eine Reihe von Tagen hielt ihn diese Aufgabe beschäftigt, denn er war sich eines trockenen Kanzleistils bewußt, der jedem zarteren Inhalt widerstrebte, und bei reiflicherem Nachdenken mußte er auch einsehen, daß seine Beziehungen zu der Unbekannten noch in jenem ungewissen Dämmerschein schwebten, wo sie der Prosa überhaupt nicht anvertraut werden können.
Herr Lebrecht hatte schon früher bei festlichen Anlässen bisweilen Herz auf Schmerz und Triebe auf Liebe gereimt; diese Übung kam ihm jetzt zu statten, und er verfertigte unter fieberhaften Dichterwehen ein paar Vierzeiler, in denen er seine Gefühle bekannte und bescheiden um ein Zeichen bat, daß er der Glückliche sei, dessen tägliches Vorübergehen von ihr mit günstigen Augen bemerkt werde.
Mit diesem Blatte, das, wenn auch kein poetisches, so doch gewiß ein kalligraphisches Meisterstück war, denn der Herr Registrator hatte es dreimal abgeschrieben, bis es ihn befriedigte, begab er sich zur gewohnten Stunde unter ihr Fenster, und nachdem er lange Umschau gehalten, ob niemand des Weges komme, befestigte er es mit bebenden Händen an den Eisenstäben des Vorgärtchens. Natürlich verfuhr er dabei so hastig und ungeschickt, daß das Briefchen ein paarmal herunterfiel, ehe es haften blieb. Herr Lebrecht zog noch mit blutrotem Kopf die Zweige der Thujahecke darüber her, um es vor unberufenen Blicken zu behüten, und entfernte sich mit geschwellter Brust und erhobener Stirn, als wäre er durch diese Tat um Haupteslänge gewachsen.
Das Mädchen hatte ihm die ganze Zeit über zugesehen und war gleichfalls rot geworden wie eine Pfingstrose.
Aber der Herr Registrator konnte jenes Tages nicht mehr ruhig auf seinem Stuhle sitzen und schloß die Nacht hindurch kein Auge, ein so heftiger Schreck befiel ihn nachträglich vor seinem Wagnis.
Mit wankenden Knieen trat er am Morgen seinen gewohnten Gang an, und in seinem Kanonenfieber beachtete er nicht einmal das aufziehende Gewitter. Zweimal betrat er zögernd die Gartenstraße und wich mutlos in eine Seitengasse aus, erst als noch zehn Minuten bis acht Uhr fehlten, nahm er einen entschlossenen Anlauf und bog um die Ecke.
Da wurde er von einem heftigen Wirbelwind empfangen, der ihn im Sturmschritt die Straße hinunterfegte bis vor Nr. 7, wo er mit einem energischen Ruck Posto faßte, denn der Kampf mit dem Element befestigte seinen Mut.
Ein höllisches Konzert wurde über ihm in den Lüften aufgeführt; durch das Rollen des Donners hörte man Glasscheiben klirren und losgegangene Fensterläden schmettern. Doch siehe, am halboffenen Fenster stand wie sonst sein Mädchen, unbeirrt von dem Schreckenswetter, und lächelte freundlich zu ihm herunter. Die Jugendliche trug trotz Sturm und Kälte das leichte Spitzentüchlein und die bloßen Arme, womit sie ihn zuerst bezaubert hatte, und war so versunken in Herrn Lebrechts Anblick, daß sie den Regen, den der Wind nach ihrer Seite schlug, gar nicht zu fühlen schien, noch im mindesten daran dachte, ihre geliebten Blumentöpfe in Sicherheit zu bringen. Er hätte zwar nicht eidlich versichern können, daß sie ihm wirklich mit Kopf oder Hand ein Zeichen gegeben habe, denn die hin und her gepeitschten Zweige ließen ihn ihre Bewegungen nicht deutlich erkennen, aber unter diesen Umständen war ihr bloßes Dastehen Antwort genug.
Eine ganze Weile standen beide unbeweglich, er unten, sie oben, und blickten Aug' in Auge, während Herr Lebrecht Mühe hatte, den Schirm über seinem Kopfe festzuhalten, und ein gewaltsamer Regenguß, mit feinen Hagelkörnern vermischt, rauschte an ihnen nieder.
Plötzlich wurde dem weltentrückten Liebhaber sein Schirm über dem Kopfe umgestülpt, und da er mit dem Wind um die Beute ringen wollte, verlor er auch noch den Hut und sauste selber, ohne zu wissen wie, die Straße vollends hinunter.
An jenem Morgen ereignete sich auf dem Bureau etwas Unerhörtes: durch die feierliche Stille, in der man nie etwas andres vernahm als das Kritzeln der Federn, drang plötzlich die Stimme des Herrn Registrators, der selbstvergessen vor sich hinsang:
»Käm' alles Wetter gleich auf uns zu schla'n,
Wir sind gesinnt bei einander zu stahn« –
Er stockte, denn er sah sechs fragende Augen auf sich geheftet, und beugte mit verlegenem Husten den Kopf tiefer auf die Akten nieder, aber ein verklärter Schimmer lag für den Rest des Tages auf seinen Zügen.
In dem Unwetter hatte er sich eine Erkältung zugezogen und mußte eine Zeitlang das Haus hüten. Unterdessen waren seine Gedanken unablässig mit der geliebten Rätselhaften beschäftigt, die er in ihren innersten Eigenschaften schon ganz genau zu kennen glaubte, während er leider über ihre Lebensumstände noch so völlig im Dunkeln war, daß er nicht einmal ihren Namen wußte. Die Umwege, auf denen er ihr heimlich nachforschte, hatten ihn nicht ans Ziel geführt. Wohl hatte er sich in einer Apotheke im entlegensten Stadtviertel unter einem sehr komplizierten Vorwand das Adreßbuch leihen lassen, aber die Bewohner des Hauses Nr. 7 der Gartenstraße waren zum Unglück gar nicht darin verzeichnet.
In dieser Ungewißheit gönnte der Herr Registrator seiner Phantasie die Freiheit, unter allen nur möglichen Vermutungen diejenige auszuwählen, die ihm die zusagendste und schmeichelhafteste war.
Er machte also die schöne Blumenfreundin zu einer wohlerzogenen höheren Tochter, die in früher Stunde ihre häuslichen Geschäfte besorgte, um nachher, während noch der Rest der Familie bei niedergelassenen Rouleaus den Morgenschlaf schlief, mit erglühenden Wangen nach dem Manne ihrer Wahl aus dem Fenster zu spähen. Und kein Wunder, daß ihre Wahl auf Herrn Lebrecht gefallen war. Der Herr Registrator war ein hübscher Mann – wenigstens in seinen eigenen Augen –, und man sah ihm die Gediegenheit von weitem an. Er hatte sogar eine Zeitlang auf der Universität studiert, und wäre er nur rechtzeitig zum Examen gekommen, so hätte er Referendar und Assessor werden können so gut wie einer! Mit etwas pekuniärer Unterstützung konnte er noch jetzt seine subalterne Stellung aufgeben und sich zu höheren Staffeln emporschwingen. Längst begrabene ehrgeizige Gedanken erwachten in ihm, und er sah sich schon im Geiste als Herr Regierungsrat am Tische sitzen, während die Frau Regierungsrätin ihm den Kaffee einschenkte.
Sein erster Rekonvaleszentenspaziergang führte ihn natürlich wieder in die Gartenstraße. Es war Nachmittag, sie konnte ihn also nicht erwarten, aber er war schon zufrieden, von weitem die Mauern zu sehen, die sein Glück umschlossen.
Doch ein peinlicher Eindruck wartete seiner, denn vor ihm her ging langsam und selbstgefällig im gewählten grauen Sommeranzug der Referendar Franke und sah mit zurückgeworfenem Kopf an den Häusern empor. Der Herr Registrator folgte ihm auf dem Fuße, denn er fand sein Betragen äußerst verdächtig.
Als er Nr. 7 erreichte, schossen ihm die Augen fast aus dem Kopf: am Fenster, das auch zu dieser ungewohnten Stunde offen stand, lehnte das schöne Kind, kokett wie immer, und lächelte auf den Referendar Franke herab, wie es sonst auf den Registrator Lebrecht herabzulächeln pflegte. Oder tat er ihr unrecht, hatte sie um seinetwillen den ganzen Tag am Fenster gewartet? Jedenfalls mußte der andere ihr Erscheinen auf sich bezogen haben – warum wäre er sonst so langsam gegangen!
Als der Referendar die Straßenecke erreichte, kehrte er zögernd um und stieß Nase an Nase mit dem Registrator zusammen, der sich hart auf seinen Fersen gehalten hatte.
»Wie geht's, Herr Registrator? Sind Sie wieder hergestellt? Wir haben Sie beim Tarock vermißt,« sagte jener in leichtem Ton, und der Registrator fühlte sich vor der Stimme und den Augen seines lächelnden Rivalen gleich um einen halben Schuh kleiner werden.
Er zupfte krampfhaft an der Krawatte, um seine wankende Haltung zu befestigen, und stammelte etwas ganz Unverständliches.
Der Herr Registrator war zwar kein Stotterer, aber er hatte von klein auf die üble Gewohnheit, beim Sprechen an der unrechten Stelle Atem zu holen, so daß ein schnappender Laut, der wie »hap« klang, ihm häufig den Satz mitten entzweiriß. Die Aufregung steigerte jetzt das Übel derart, daß der Referendar mit freundlicher Besorgnis bemerkte, der Herr Registrator scheine doch noch recht angegriffen zu sein.
Dieser erwiderte nichts und hielt sich, nach Luft ringend, an seiner Seite. So kamen sie wieder bis zu Nr. 7 zurück, wo sie wie in gemeinsamem Einverständnis auf dem Trottoir stehen blieben.
Herr Franke zog jetzt die Uhr, in der deutlichen Absicht, sich der unerwünschten Begleitung zu entledigen, und da der andere ihn nicht verstehen wollte, sagte er kurzweg: »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Registrator, es wird mich freuen, wenn Sie mir ein andermal Gesellschaft leisten, aber für heute habe ich hier eine Verabredung.«
Diese Worte erschienen dem Herrn Registrator als der Gipfel der Unverschämtheit.
Bebend antwortete er: »Herr Referendar, Ihre Ei – Ihr Selbstgefühl verleitet Sie zu einer irr –« er schnappte auf und fuhr fort: »–igen Auffassung, sonst würden Sie sich nicht hierher bemühen.«
»Reden Sie im Fieber, Herr Registrator? Was geht Sie mein Tun und Lassen an?«
Dem Registrator gaben die schönen Augen am Fenster Löwenmut.
»Ich kann nicht dulden, daß Sie eine junge Dame kom –« hier zog er abermals Luft ein – »promittieren, vor der ich die größte Hoch –«
»Wie?« fragte der Referendar erstaunt.
»– achtung habe,« vollendete der Registrator atemlos und blaß wie der Tod.
»Von welcher Dame reden Sie?« fragte der Referendar mit wachsender Betroffenheit.
Der Herr Registrator stammelte in gedämpften Lauten: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Dame soeben am Fenster steht. Es ist nicht passend, daß wir sie zur Zeugin, ha–ap, unsers Gesprächs –«
Herr Franke ließ während dieser Rede seine Augen umherschweifen, bis sie auf das seitliche Fenster fielen.
»Diese Dame meinen Sie – o, diese Dame!« Er deutete rücksichtslos mit dem Finger hinauf und wand sich vor Lachen. »Mein bester Herr Lebrecht, diese Dame verdient nicht, daß Sie sich ihrer annehmen, denn sie sieht nach jedem aus dem Fenster, sie hat ja gar nichts anderes zu tun, sie ist –«
»Herr Franke!« schrie der Registrator außer sich.
»Ich verbiete Ihnen, solche Beleidigungen auszusprechen.«
»Ich lasse mir nichts verbieten,« sagte dieser und lachte immer unverschämter, indem er bald seinen hilflosen Gegner, bald die Dame am Fenster ansah. »Sie nimmt es mir auch nicht übel – ich kenne sie besser, gelt, Schätzchen?« rief er hinauf, und eine wahre Besessenheit kam über ihn, denn er warf ihr mit beiden Händen Küsse zu und machte eine spöttische Verbeugung um die andre. Und des Mädchens Betragen schien seine Frechheit herauszufordern, denn sie blieb ruhig am offenen Fenster liegen und veränderte während des ganzen Auftritts ihre Stellung nicht.
Dies brachte den unglücklichen Lebrecht aus aller Fassung, aber er wollte sich nicht überwunden geben und wiederholte mit aller Energie, die er erschwingen konnte, seine vorige Aufforderung.
»Machen Sie doch nur die Augen auf,« schrie ihn der Referendar an, »und sehen Sie, wofür Sie sich ereifern.«
»Sie werden Abbitte tun,« rief der Registrator, mit dem die Rede plötzlich davonlief. »Sie sind –« und ein beleidigendes Wort war ihm entfahren, ehe er es dachte.
Während des Wortwechsels waren zwei modisch gekleidete Damen, augenscheinlich Mutter und Tochter, um die Ecke gebogen und näherten sich zögernd der Gruppe.
»Ich habe jetzt keine Zeit, Herr Registrator, Sie werden morgen von mir hören,« sagte der Referendar rasch und eilte den Damen entgegen.
Der Herr Registrator antwortete gefaßt: »Ich stehe zu Ihrer Verfügung,« und entfernte sich gleichfalls, ohne mehr den Blick nach dem Fenster zu erheben.
Aber innerlich war er völlig zerschmettert. Die Erkenntnis, daß er eine Unwürdige geliebt hatte, war mit furchtbarer Klarheit auf ihn eingedrungen. Darum also wohnte sie so allein in dem leeren Stockwerk, darum zeigte sich nie eine andere Person am Fenster, darum der zierliche Anzug und das ewige Zur-Schau-Stehen! Sie war eine, auf die man mit Fingern deutete, und er, der Registrator Lebrecht, ein Mann im Staatsdienst, der auf seine Person zu halten hatte, war so unvorsichtig gewesen, ihr täglich Fensterparade zu machen, ach, und sein Herz mit allen Fasern an sie zu hängen.
Und sein Ehrenhandel mit dem Referendar! Die Sache war ernst geworden, ehe er sich's versah. Der Referendar Franke galt von der Universität her für einen geübten Pistolenschützen und trefflichen Schläger, der Registrator aber, den sie seiner schlechten Augen halber nicht beim Militär gewollt hatten, war gar nicht im stande, mit einer Waffe richtig umzugehen.
Gewiß, ohne sein Fieber hätte er sich nicht so weit hinreißen lassen, aber geschehen war geschehen, und jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er mußte die Dinge gehen lassen, wie sie gingen, aber wenn er tot war, dann sollte die Unglückliche erfahren, wie treu er es mit ihr gemeint hatte.
Herr Lebrecht saß die halbe Nacht an seinem Schreibtisch und schrieb dort Briefe, die nie an ihre Adresse gelangten.
Des anderen Tages, der ein Sonntag war, wartete er vergeblich auf den Kartellträger seines Gegners. Statt dessen schickte ihm der Referendar gut bürgerlich ein Schreiben durch die Post, welches also lautete:
»Geehrter Herr Registrator!
Da ich mich oft genug geschlagen habe, um den Vorwurf der Feigheit nicht befürchten zu müssen, stehe ich von allen Weiterungen ab und halte das gestern zwischen uns Vorgefallene Ihrer Fieberanwandlung zu gute.
Ferner bestätige ich Ihrem Wunsche gemäß, daß mir nicht das geringste Nachteilige über Ruf und Charakter der Dame auf Nr. 7 der Gartenstraße bekannt ist. Auch für das fortgesetzte Am-Fenster-stehen kann sie billigerweise nicht verantwortlich gemacht werden, da sie gänzlich außer stande ist, sich von da zu entfernen. Diese Unschicklichkeit fällt lediglich dem Hausbesitzer zur Last, welcher so geschmacklos war, die fragliche Dame auf die Fensterblende malen zu lassen.
Ergebenst
Eduard Franke, Referendar.«
Was beim Lesen dieses Briefes in der, Seele des Registrators vor sich ging, hat kein Mensch jemals erfahren.
Er getraute sich den ganzen Tag nicht aus dem Hause, denn es schien ihm, als müßte man in der ganzen Stadt von nichts anderm reden als von seinem Abenteuer. Erst gegen Abend, als der Strom der Spaziergänger einer Festmusik nachgezogen war, schlich er noch einmal den alten Weg nach der Gartenstraße und verschaffte sich mit dem Feldstecher die unwiderlegliche Gewißheit, daß er durch eine auf die Mauer mit Ölfarben dick aufgetragene Malerei getäuscht worden war.
Von dem Krapplack, womit der Maler nicht karg gewesen, ging die brennende Wangenröte aus, die den Herrn Registrator immer aufs neue zu den schmeichelhaftesten Illusionen verführt hatte. Die Schöne selbst existierte so wenig wie ihre Fensterbrüstung, und auch die blühenden Topfpflanzen, das Gesimse, die Gießkanne, alles war Betrug gewesen. Nichts war in Wahrheit vorhanden als die Wipfel des Goldregens und der Syringen, die an dem gemalten Gesimse emporstrebten, und die Amseln, die neckisch in den Zweigen pfiffen. Auf der Vorderseite waren nach wie vor die Rouleaus niedergelassen und zeugten von einem völlig leeren Hause.
In dem Thujastaket fand Herr Lebrecht auch sein Brieflein noch, das ganz vom Regen eingeweicht war, da niemand daran gedacht hatte, es wegzuholen. Mit einem verstohlenen Griff riß er es herunter, zerrieb und zerknüllte es in den Händen und vergrub es in seiner Rocktasche. Auf der Brücke besann er sich anders: er blieb stehen und wartete, bis er sich allein sah, dann ließ er den Liebesbrief, mit einem Steinchen beschwert, ganz heimlich und hinter seinem eigenen Rücken ins Wasser gleiten.
Ein Glück, daß bald darauf der Referendar an einen entfernten Posten abberufen wurde und somit den armen Registrator mit seinem Liebesidyll nicht lange mehr necken konnte.
Dieser fuhr fort, zwischen seiner Wohnung in der Kronprinzenstraße und dem Bureau auf dem Schillerplatz hin und her zu gehen und Akten zu registrieren, und wurde darüber ein alter Mann.
Er hat nie wieder die Augen zu einem Mädchen erhoben; die eine große Enttäuschung benahm ihm Lust und Mut zu jedem weiteren Versuch. Wenn in seiner Gegenwart die Rede auf Liebesangelegenheiten kam, so saß er wie auf Nadeln, und lange Zeit dachte er, so oft ein Vorübergehender ihn ansah: Weiß er …?
Langsam und ununterbrochen fiel der Aktenstaub auf seine Seele und verschüttete alles, was je an Jugend und Poesie dort gewohnt hatte.
In die Gartenstraße setzte er nach der beschämenden Entdeckung keinen Fuß mehr, und er bewahrte dem lächelnden Gesicht einen grimmigen Haß, als hätte es ihn wissentlich betrogen.
Im vorigen Frühjahr wurde ihm die Ehre zu teil, daß der einstige Referendar und jetzige Regierungspräsident von Franke, der vor kurzem nach der Residenzstadt versetzt worden war, ihn unter der Tür des Regierungsgebäudes anhielt und ihm vor aller Augen auf die Schulter klopfte.
»Nun, Herr Registrator,« fragte er wohlwollend, »sind Sie noch immer so unternehmend wie vor Zeiten?«
Als bei dieser Anspielung in dem verwitterten Gesicht des Registrators eine dunkle Röte aufstieg, setzte der Gewaltige, der notorisch in unglücklichen Familienverhältnissen lebt, mit einem melancholischen Lächeln hinzu: »Seien Sie getrost, Herr Registrator, es können einem Ehrenmann schlimmere Mißgriffe zustoßen als der Ihre, und mancher möchte vielleicht nachträglich wünschen, seine Dame wäre auch eine gemalte gewesen.«
Seit jenem Gespräch fühlt sich der Herr Registrator in seiner Manneswürde wieder hergestellt und denkt sogar mit versöhnlicheren Gefühlen an seine Jugendliebe zurück.
An Sonn- und Feiertagen, wenn das Wetter besonders schön ist, geht er jetzt wieder ab und zu durch die Gartenstraße spazieren. Seine Schöne lehnt noch immer am Fenster, aber sie errötet nicht mehr, wenn der Herr Registrator des Weges kommt, denn auch sie ist alt geworden, der viele Regen hat ihr die verführerischen Farben vom Gesicht gewaschen, und wenn die neuen Hausbesitzer kein Einsehen haben, so wird sie in kurzem ganz von der Mauer verschwunden sein.