Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Liebe Cäcilie!
Wenn diese Zeilen Dir vor Augen kommen, wirst Du erstaunt und ungläubig nach der Unterschrift suchen, um Dich zu überzeugen, ob es wirklich Dein Bruder Heinrich ist, der diese Worte an Dich richtet. Du hattest es ja mit Deiner Mutterpflicht gegen den verwaisten Knaben so ernst genommen und mich zu einem so ausgelernten Rechner und Streber herangezogen, da dachtest Du nicht, daß ein Tag kommen würde, wo der Schüler Dein mühsam aufgeführtes Lehr- und Lebensgebäude in Trümmer schlägt. Sieh, liebe Cäcilie, als Du mir predigtest: »Ein junger Arzt, der es zu etwas bringen will, braucht eine Frau, und eine reiche Frau« – da bewegtest Du Dich noch in den ausgetretenen Bahnen der allgemeinen Schwester- und Basenweisheit. Ganz wurdest Du erst Du selbst und erstiegst den Gipfel Deiner Ichlehre, als Du mir rietest, die Lore zu nehmen. »Du wirst keinen Korb bekommen,« sagtest Du, und Du mußtest es wissen. Du hattest ja vorgearbeitet und ihr gläubiges Gemüt so mit dem Genie Deines vergötterten Bruders angefüllt, daß ein gewissenloser Selbstling ihr als der Übermensch erschien, der der Welt das große Heil zu bringen hätte. Aber Du wußtest noch etwas anderes, das Du nur durch Mienen und halbe Worte ausdrücken durftest: daß ich, wenn ich sie nähme, sie nicht lange behalten würde. Und Du wolltest ja in allem nur mein Glück. Freilich, sie war nicht schön, die arme Lore, eher häßlich, wenn nicht etwas Schlimmeres: reizlos – aber dafür sollte ich ja in den Stand gesetzt werden, dermaleinst mit ihrem Vermögen eine glänzende Schönheit heimzuführen. Das war die Meinung, und ich erriet sie wohl. Aber wir wollten auch sicher gehen, nicht Gefahr laufen, daß ein Fehler in der Rechnung sei, darum suchtest Du unsern berühmtesten Diagnostiker auf und trugst ihm mit erheuchelter Freundschaftssorge Lores Fall vor: der Vater an Schwindsucht gestorben, drei Geschwister lebensunfähig zur Welt gekommen, sie selbst, die letzte, nach zahllosen Kinderkrankheiten, mit unendlicher Not und Mühe in die Jahre der Reife herübergerettet. Vorsichtig holtest Du ihn aus und gabst ihm alle für die Diagnose wichtigen Anhaltspunkte. Drum fiel auch sein Spruch so rund und glatt: »Ihre Freundin kann sich lange hinfristen, wenn sie unverheiratet bleibt. Tritt sie in die Ehe, so mag sie sich fertig halten, in ein paar Jahren die Reise nach der andern Welt anzutreten.«
Jetzt hattest Du die Gewißheit, die Du brauchtest, und mit Lores Todesurteil in der Tasche stelltest Du Deinen gehorsamen Zögling seinem künftigen Opfer vor. Die arme Lore! Sie hatte sonst einen so feinen Instinkt, wie kam es, daß sie nicht augenblicks ihren Mörder witterte? Sie sah mich mit den Augen, die Du ihr geliehen hattest. Nur die Mutter blickte tiefer, und sie kämpfte wie eine Löwin für das Leben ihres Kindes. Aber Lores eigener Wille stand gegen sie. Mein Gesicht, mein Wesen hat es mancher angetan, aber Lore, die sonst mit so sicherm Gefühl sich ihrer Freier erwehrte, wie konnte Lore sich in mich verlieben und auf mich vertrauen?
Ich darf mir nachsagen, daß ich, wenn auch kein feuriger, so doch gewiß ein liebenswürdiger Bräutigam gewesen bin. Du pflegtest darüber zu lächeln, wie gut ich meine Rolle spielte, aber es war schon damals etwas in mir, etwas Besseres, dem dieses Lächeln wehe tat. Das Liebenswürdigsein fiel mir ja nicht schwer, denn ganz von selbst, durch inneren Zwang, traten stets in Lores Nähe die besseren Seiten meines Wesens hervor. Und Lore schien so glücklich! Kein Vergleich zwischen sich und den blühenden Mädchengestalten, unter denen ich hätte wählen können, trübte ihre Freude. Ihr alle freutet euch – und ich selber mit – über die selbstgewisse Sicherheit der kleinen blassen Braut, die ihren neuen Besitz so ruhig und fest in die Hände nahm. Vor dem Altar erwachte so etwas wie ein Gewissen in mir. Doch nein, Gewissen kann ich es nicht nennen. Du hattest mich ja gelehrt, daß das Leben ein Kampf ist, worin der Stärkere den Schwächern erdrückt, und ich fühlte mich berechtigt, nach dieser Lehre zu handeln. Es war nur eine Art Spitzbubenredlichkeit, die mich denken ließ: Arme Seele, du sollst das Gut, das du so teuer kaufst, die kurze Zeit ohne Abzug besitzen.
Sie hat es mir leicht gemacht, mein Wort zu halten. Zwar anfangs war sie mir nur eine freundliche Zugabe meines neuen Daseins, die ich mir ohne Zwang gefallen ließ. Sie hatte ja nichts von allem, was wir an Frauen zu bewundern pflegen; nur eine Kleinigkeit besaß sie, die ich noch nicht gekannt hatte: eine Seele. Bei ihren kleinsten Handlungen, wenn sie ihren Hund fütterte oder früh Morgens am Gartentor, ehe ich wegritt, meinem Pferde noch ein Stück Zucker reichte, trat diese Seele nach außen und umgab sie mit einer leuchtenden Lieblichkeit. Ihre Stimme, wenn sie »Liebster« sagte, hatte einen Schmelz, dem nicht zu widerstehen war. Noch immer sehe ich sie vor mir in dem gelben Salon, den sie sich selber einrichtete. Sie liebte das Gelbe, wie sie alles Heitere, Sonnige liebte. In der Ecke, wo sie zu sitzen pflegte, hatte sie die Kopie der Tizianschen Flora aufgehängt und wagte es, sich diesem Vergleiche auszusetzen. Sie hatte recht: nach kurzem sah ich die blühende Pracht der Flora nicht mehr vor dem Frühling, der in der Seele und auf den Lippen meines Weibes wohnte. Man konnte mir auch die größten lebenden Schönheiten zeigen, mir waren sie gleichgültig geworden. Lore mußte mich anstoßen, damit ich schöne Frauen überhaupt noch sah.
Denn ich liebte sie! Ich konnte lieben! Wer mir das vorausgesagt hätte, daß ich eine solche Entdeckung in meiner früh verdorrten Seele machen würde!
Als Lore fühlte, daß sie gesiegt hatte, ließ sie der zurückgedämmten Leidenschaft vollen Lauf. Sie, die mich bisher nur mit gehaltener, vorsorgender Zärtlichkeit behandelt hatte, flog mir jetzt mit Jubel in die Arme. Eine Flamme ergriff und umhüllte uns beide. Wir konnten nicht mehr ohne einander leben. Wenn ich nach Hause kam, stand sie schon wartend am Fenster, und ich brachte ihr alle freien Minuten, die ich zwischen den Krankenbesuchen erhaschen konnte, wie man einen Blumenstrauß der Liebsten bringt. Und ihre Freude über jeden Patienten, der sich meiner Kunst anvertraute, ihr Stolz, wenn mir eine glückliche Kur gelang, die Hoffnung, die sie auf meine Zukunft setzte. Des Abends zog es mich nicht mehr aus dem Hause: der gelbe Salon war ein heimlicher Liebeswinkel geworden, und wir waren beide froh, wenn keine Besuche uns störten. Wir saßen bei angezündeten Kerzen am Klavier und übten vierhändige Sonaten; sie half meinem Gestümper mit ihrer kraftvollen Meisterschaft nach, und an den gewaltigsten Stellen trafen sich unsere Blicke in demselben Schauer der Andacht.
Meinen abscheulichen Pakt mit dem Schicksal hatte ich vergessen; ich meinte, es könne jetzt nur immer so fortgehen. Zuerst wurde ich wieder daran gemahnt, als ich das flüchtige Rot von ihren Wangen verschwinden sah. Als mir die Ursache klar wurde, da fuhr mir der kalte Schrecken ins Herz. Als Arzt wußte ich ja, daß sie nicht die Kraft hatte, ein anderes Leben zu ernähren, und gedankenlos hatte ich gehofft, die Natur würde ein Einsehen haben und ihr den letzten, liebsten Wunsch versagen. Ich verbarg meine Pein vor ihr und vor mir selbst, und wir lebten scheinbar glücklich weiter. Nur ihren Beethoven konnte ich sie nicht mehr spielen hören, er zerriß mir alle Fibern, ich ertrug es nicht, das Schicksal an die Pforte klopfen zu hören. Da holte sie den Mozart hervor und spann mich in ein Feenland ein, wo Schmerz und Tod versöhnt und selig neben dem Glücke wohnen.
Aber der Tag, wo das Kind geboren wurde! Das kleine Ding lag starr wie eine wächserne Puppe in meinem Arm, und der Kollege, den ich zugezogen hatte, sagte mir bedeutungsvoll: Betrachten Sie es als ein Glück, daß das arme Geschöpf vor einem siechen Leben bewahrt worden ist. Ich mußte wie ein Verbrecher den Augen dieses schlichten ehrlichen Mannes ausweichen. Dieses starre wächserne Ding mein Kind und nur in das Sein gerufen, damit es die Mutter nach sich ins Grab ziehe! Schwester, in dieser Stunde graute mir vor Dir noch mehr als vor mir selbst, denn Du bist Frau und Mutter.
Lore blieb auch jetzt sich gleich. Sie klagte nicht um das Verlorene, das sie nie besessen hatte, sie lebte wieder wie vordem nur für mich. Aber sie kam nicht mehr zu Kräften. Sie ließ sich nach dem gelben Salon tragen. Dort lag sie und lächelte mir des Abends unter der gelbverschleierten Stehlampe, die sie ihre Sonnenblume nannte. Oft hätte ich ausschreien mögen: Lore, Lore, bleib bei mir. Aber ich saß neben ihr, hielt ihre Hand und lächelte gleichfalls.
Wenn ich meine Kranken besuchte und für tausend kleine Schmerzen Abhilfe schaffen sollte, dachte ich in siedender Angst an das geliebte Leben, das sich zu Hause verzehrte. Ich wagte nicht einmal, ihre Brust zu beklopfen, aus Furcht, mein Urteil selbst besiegeln zu müssen. Tag und Nacht raunte eine Stimme mir zu: Du hast's gewußt, du hast's gewollt. Das hattest du nicht bedacht, Schwester, in deiner alles bedenkenden Klugheit, daß es eine solche Stimme gibt.
Aus Lores Mutter sprach der Vorwurf mit Feuerzungen. Wenigstens riß mich das aus meiner schuldbewußten Lethargie. Spezialisten wurden zugezogen und gaben widersprechende Gutachten ab. Ich mußte sogar jene Autorität konsultieren, bei der Du Dir einst über Lores Aussichten Rat geholt hattest. Der Mann durchschaute die Wahrheit und setzte mich höflich vor die Tür. Mir aber glänzte jetzt durch die Entdeckung eines Kollegen ein Hoffnungsstrahl auf, dem ich mit Leidenschaft nachging. Ich übernahm selbst die Behandlung; im Feuer des neuen Gedankens glaubte ich, die Wissenschaft sei in eine Ära der Wunder getreten. Andere hatten mit dem Mittel Erfolg gehabt, warum sollte nicht auch ich Erfolg haben. Lore gab sich geduldig lächelnd auch zu diesen Versuchen her; sie hätte so gern meinen ärztlichen Ruhm durch ihre Genesung besiegelt. Aber das Mittel schlug fehl, wir hatten nur die erschöpften Kräfte zu einer letzten Anstrengung aufgebraucht und den Ausgang beschleunigt.
Als ich auf ihren Wunsch mit ihr nach dem Süden reiste, war ihr Licht schon im letzten Flackern. Aber Lore hielt es nicht aus unter den fremden Gesichtern und begehrte gleich wieder nach Hause. In dem gelben Zimmer, wo wir so glücklich gewesen waren, wollte sie sterben. Sie sagte tröstend zu mir: Laß dich unsere Liebe nicht reuen; ich weiß ja selbst, ich hätte länger leben können, aber ich wollte einmal glücklich sein. Mir war's, als dürfte ich sie nicht fortlassen, ehe ich ihr alles gestanden hätte. Aber konnte ich das Abscheuliche über die Lippen bringen, konnte ich ihr sagen: Ich habe dich arme, zarte Blume ja nur an die Brust gesteckt, damit du hier verwelken sollst. Ich schwieg aus Feigheit und aus Schonung, und mit der brennenden Lüge zwischen uns schied sie hinüber.
Du weißt, wir pflegten in jüngern Jahren von der Höhe unserer materialistischen Weltanschauung herab über den Gedanken der Fortdauer nach dem Tode zu lachen. Jetzt schleicht er sich mir bisweilen ahnungsweise in den dunkeln Grund der Empfindungswelt ein. In jener Zeit beherrschte er mich mit eisigem Schrecken. Jetzt, dachte ich, ist ihr alle Wahrheit offenbar, und wie stehe ich in diesem Augenblick vor ihr. Ich wußte nicht, wo mich vor ihr und vor mir selbst verbergen. Furcht vor dem Wiedersehen zwang mich, die Pistole, die ich schon an die Stirn gesetzt hatte, wieder aus der Hand zu legen. Ich wagte die Leiche nicht mehr anzurühren, ich überließ sie fremden Händen, und nur gezwungen, von den Freunden geleitet, folgte ich ihrer Bahre.
Welch eine Rückkehr in mein verödetes Haus! Es fiel mir ein, daß dies das Ziel war, worauf Deine Pläne hingearbeitet hatten. Jetzt stand ich da, wie Du mich sehen wolltest, frei, als der Besitzer eines großen Vermögens. Aber was nun mit mir selber anfangen? Ich irrte in den leeren Zimmern umher wie ein Verbrecher auf der Stätte seiner Tat. Da brachte mir die Wärterin, die das Sterbezimmer reinigte, einen Zettel, den sie unter Lores Kopfkissen gefunden hatte. Er enthielt nur zwei Worte, von Lores Hand geschrieben, die mich zur Fassung mahnten. Ich glaubte, ihre liebliche Stimme noch einmal zu hören, die aus einer andern Welt herüber tönte. Und plötzlich kam mir eine Erleuchtung: ich riß die Polster aus dem Bett, und zwischen Gestell und Matratze fand ich noch ein ganzes Päckchen solcher Zettel eingeklemmt. Sie waren gleichmäßig zugeschnitten und sauber gefaltet, wie jedes Blatt, das aus Lores Hand kam. Sie schrieb sie in ihren letzten Lebenstagen in den wenigen Minuten, wo ich mich aus dem Zimmer entfernte. Was sie schrieb, darüber soll kein fremdes Auge hingehen; es gehört auf ewig nur ihr und mir.
War sie hellsehend in ihren letzten Stunden, oder waren mir Worte entschlüpft, die ihr meine ganze Qual enthüllten? Sie sah mit ihren sterbenden Augen jede Falte meines Innern und las mein ganzes Leben rückwärts und vorwärts. Jeder Zettel gab Antwort auf die Gedanken, die mich folterten. Daß ich meine Freiheit der Berechnung geopfert hatte, war ihr von je bewußt gewesen, aber sie hatte nie an ihrem Siege gezweifelt. Jetzt wußte sie auch, daß ich die Kranke, dem Tode Verfallene gewählt hatte, um die Fessel nicht ewig zu tragen. Und dennoch vergab sie und hatte nur holde Worte für mich, denn sie wußte auch, daß dann die Liebe gekommen war, die große, alle Frevel tilgende, die ihren Besitz auf ewig festhalten wollte. Diesen Trost, daß sie auch mit sehenden Augen noch die Meine war und sich glücklich pries bis zum letzten Atemzug, wollte sie mir noch von jenseits des Grabes zusenden.
Ja, sie war glücklich in ihrer Unschuld und ihrer allverstehenden Liebe. Aber ich? Vor mir steht die Macht, deren Dasein wir so getrost geleugnet hatten: die ewig gerechte Weltordnung. Torheit, zu glauben, daß es dafür einer außerweltlichen Lenkung bedürfe. Die Vergeltung wächst aus der Schuld so sicher, wie aus dem Keime die Frucht. Ich ahne eine große Harmonie des Weltganzen, in deren Rhythmus alles Gute und Gesunde lebt. Der Frevel, die Willkür, die kleinen niedrigen Zwecke sind nur ein Aus dem Takt fallen, und über den Frevler weg stellt die gestörte Harmonie sich wieder her.
Mit Dir, Schwester, will ich nicht hadern, Du bist nur ein Kind Deiner Verhältnisse. Aber mit mir selber habe ich Abrechnung zu halten. Ich kann Lores letzten Wunsch nicht befolgen und ins Leben zurückkehren, von dem Geschenk ihrer Vergebung belastet, um wieder Anteil zu nehmen an dem Getriebe. Aber fürchte darum keine blutige, Aufsehen erregende Katastrophe. Ich will still und tapfer vor ihren Augen stehen, die noch immer auf mich gerichtet sind. Ich will den durchbrochenen Rhythmus im Dienst des Ganzen wiederherstellen.
Ich reise nach Bombay, um das kleine Häuflein europäischer Ärzte zu verstärken, das dort an den Pestspitälern um Gegenmittel gegen die furchtbarste aller Seuchen ringt. Ob ich lebe oder sterbe, ihr werdet nicht wieder von mir hören. Vollstrecke Du die Verfügungen, die auf inliegendem Blatte enthalten sind, und genieße, wenn Du kannst, die Vorteile, die sie Dir bieten.
Lebe wohl!