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Am Hofe von Montefeltro herrschte Bestürzung. Es waren nächtlicherweile verschiedene geheimnisvolle Verhaftungen vorgenommen worden, und unter den Gefangenen befand sich der Neffe des regierenden Herzogs. Man sprach von einer Palastverschwörung, an deren Spitze Herr Gastone gestanden haben sollte, und sein Geschick bekümmerte alle Herzen, denn der junge tapfere Prinz, der unter den Augen der Montefeltriner aufgewachsen war, genoß das allgemeine Zutrauen, während man es dem Oheim noch immer nicht vergessen hatte, daß er vor dreißig Jahren an der Spitze einer fremden Söldnerschar, das Schwert in der Faust, in die Herzogsburg eingezogen war.
Um das mißtrauische, grüblerische Wesen des alten Herrn zu sänftigen, hatten seine Räte ihn erst kürzlich bewogen, ein junges Weib zu freien; aber die Hoffnungen, die sich an diesen Ehebund knüpften, sollten schneller verwelken als die zur Vermählung geflochtenen Kränze.
Schon beim Hochzeitsturnier hatte das Unheil begonnen, als der neuvermählte Herzog, der vor der jungen Gattin noch einmal die Kraft seines unbesiegten Armes hatte erproben wollen, von dem eigenen Neffen in den Sand gestreckt worden war, daß man an seinem Aufkommen zweifelte.
Zwar hatte die eiserne Natur des Herzogs sich wieder aufgerafft, und die Freudenfeste mußten ihren Fortgang nehmen, aber mitten hinein fiel die Entdeckung des Komplotts, und seitdem lebte der ganze Hof in Zittern. Der Herzog war finsterer und unzugänglicher als je, die junge Herzogin lag schwer erkrankt danieder, – aus Schreck, so hieß es, über die Gefahren, in denen der Herzog geschwebt hatte.
Ganz leise aber und nur in abgerissenen Andeutungen wurde noch etwas völlig anderes gemunkelt: daß Prinz Gastone in den Gemächern der Herzogin verhaftet worden sei und daß die schöne Fiordalisa schwerlich von ihrer Krankheit genesen werde.
Aus den verborgensten Räumen des Schlosses drangen unheimliche Gerüchte von Folter und Bluturteilen an die Öffentlichkeit und erregten im Volke einen dumpfen Schrecken.
Um jene Zeit hielt sich ein Fremder in Montefeltro auf, der, wie es hieß, aus dem fernen Osten gekommen war und der bei allen öffentlichen Vorgängen als stiller Beobachter gesehen wurde. Er aß kein Fleisch, ging stets in weißen seidenen Gewändern und sollte im Besitze magischer Geheimnisse sein.
Der Fürst ließ den Fremden vor sich rufen und sagte: »Ich weiß, daß man in deiner Heimat verborgene Wissenschaften und vielerlei geheime Künste kennt. Willst du dir meine Gunst erwerben, so nenne mir die schärfste und langsamste Qual, mit der ich einen Verbrecher zu Tode foltern kann.«
Der Fremde sah dem Fürsten ruhig ins Gesicht und antwortete ohne Besinnen: »Laß ihn die Größe seines Verbrechens erkennen und übergib ihn seinem eigenen Gewissen.«
Der Fürst lachte zornig auf. »Bei euch gibt es also ein Gewissen! Hierzulande weiß man nichts von einem solchen Ding. Die grauen Haare seines Oheims verspotten, das gilt dem Jüngling hier für ein Heldenstück, nicht für eine Schmach. Höre: ein Blutsverwandter hat mich in meinem Teuersten gekränkt, und ich kann nicht wieder froh werden, ehe die Beschimpfung gerochen ist. Ich habe über die größte Marter nachgedacht und keine gefunden, die meinem Zorn genugtut. Darum rief ich dich, denn ihr Männer des fernen Ostens steht den Geheimnissen der Natur näher.«
»So wirst du auch ferner keine finden, die dir genugtut,« entgegnete der Fremde. »Denn durch keine Marter kannst du das Verbrechen selbst oder den, der es begangen hat, aus der Welt schaffen. Darum ist es deiner Weisheit einzig würdig, zu verzeihen.«
»Daß ich das Geschehene nicht ungeschehen machen kann, weiß ich. Aber warum sagst du, ich könne den Verbrecher nicht aus der Welt schaffen? Hängt sein Leben nicht am Hauch meines Mundes?«
Der Fremdling schüttelte mit stillem Lächeln das Haupt.
»Wie? Ich, Gianpaolo, Herzog von Montefeltro, kann meinen Todfeind, der in meiner Gewalt ist, nicht aus der Welt schaffen?«
»Niemand kann das, o Herr,« antwortete jener gelassen.
»Bei Christi Blut!« rief der Herzog mit heftiger Gebärde, »hier vor deinen Augen will ich ihn zerschmettern, gleich wie ich jetzt diese Lampe zerschmettre, daß sie nie wieder einen Schein gibt.«
Der andere sagte mit seinem ruhigen Lächeln: »Die Lampe hast du wohl zerschmettert, aber nicht das Licht, denn das Licht ist überall, wo es brennt, dasselbe Licht und existiert auch noch für sich im All. Du kannst deinen Gefangenen nicht töten, denn der Gefangene, den du töten möchtest, der – bist du selbst.«
»Mensch, du redest Tollheit.«
»Ich rede Wahrheit, Fürst, die dem Uneingeweihten Tollheit scheint. Der Gefangene ist dein Neffe, dein Bruder, dein Vater, dein Weib, und er ist du selbst.«
Der Herzog sah ihn eine Weile scharf an, dann verzog er höhnisch die Mundwinkel. »Mein Lustigmacher ist vor ein paar Tagen gestorben. Ich habe ihm keine Träne nachgeweint, denn er fing in letzter Zeit an, langweilig zu werden. Du kannst an seine Stelle rücken, ich sehe, daß du mir eine ganz neue Art von Unterhaltung bereiten wirst. Ich bin also selbst mein Neffe Gastone und habe mich selbst beleidigt, als ich mich ins Zimmer der Herzogin schleichen wollte? Ich brauchte nur mich selbst aus dem Wege zu räumen, so wäre der Frevel gesühnt.«
»Nicht also, Fürst, kein Frevel wird gesühnt durch Blutvergießen; ich hab' es dir schon gesagt, du müßtest die ganze Menschheit vernichten, denn die ganze Menschheit ist die Schuldige. Und auch dann würde, was dich kränkt, noch fortbestehen, denn, wie du vorhin richtig sagtest, das Geschehene kann niemals aufhören, geschehen zu sein.«
Jetzt wurde der Fürst nachdenklich. »So wunderlich deine Reden klingen,« sagte er nach einer Pause, »sie haben einen Kern von Wahrheit. Sprich weiter, erkläre deutlicher, was du sagen willst.«
»Erinnerst du dich des fremden Sängers,« begann der Morgenländer wieder, »der vor wenigen Wochen dir vor versammeltem Hofe die Taten des großen Alexander vortrug? Ich stand mit verhülltem Haupt unter dem Hofgesinde ganz unten an der Saaltür, nicht um den Sänger zu hören, sondern um dich zu sehen, denn ich wußte, du würdest mich einmal rufen lassen, und ich wollte deine Züge kennen lernen.«
Der Herzog nickte.
»Ich behielt dich fest im Auge,« fuhr der Fremde fort. – »Warum färbte sich dein Angesicht, als er die Schlacht bei Issos sang? Warum trieb dir Alexanders Großmut gegen die Familie des Darius Tränen in die Augen? Warum wurdest du bleich, als du vom Tode des Klitus hörtest? – Weil du selbst der Held dieser Gesänge bist.«
»Wie, ich bin Alexander der Große?«
»Du sagst es.«
»Und bin vielleicht auch der trunkene Klitus?«
»Du sagst es.«
»Ich bin der große Alexander, bin der Säufer Klitus, bin der heimtückische Prinz Gastone und bin zugleich ich selbst, Gianpaolo, Herzog von Montefeltro?«
»Du bist das alles,« antwortete der Weise.
»Und du – du bist ein Narr!«
»Höre mich, Fürst. Wenn du nicht die Großmut Alexanders in deinem Herzen fühltest, nicht seine Tapferkeit, wie könnte die eine dich begeistern, die andere dich rühren? Wie könntest du ein Lied verstehen, das von seinem Zorn und seiner Reue handelt, wenn nicht beides in dir wäre? In einem Menschenleben haben so wenig Dinge Raum, und doch umfaßt ein Menschenbewußtsein das Bewußtsein aller Lebenden und aller Toten. Du verstehst die Taten, die der Fürst von Montefeltro nie getan hat, durchschaust Dinge, die er nicht erlebte. Wie könntest du das, wenn du nicht in allen wärest und alle in dir? Betrachte jegliches Lebendige um dich her, und angesichts jegliches Lebendigen sage zu dir selber: Das bist du.«
Der Fürst versank in ein langes, grübelndes Schweigen. Plötzlich sagte er auffahrend: »Sprich weiter!«
Der Morgenländer begann wieder: »Eure Religion lehrt, daß alle Menschen Brüder seien. Das ist ein edles Wort, aber für die Menschlichkeit nicht genügend. Denn wenn euer Bruder euch erzürnt, so tötet ihr ihn, und euer heiliges Buch selber beginnt mit einem Brudermord. Ihr alle nennt euch die Abkömmlinge des Brudermörders. Wir aber lehren eine noch reinere und tiefere Lehre – wer die begriffen hat, der kann kein Böses mehr tun: alle Menschen sind ein und derselbe Mensch. Vor der höchsten Gerechtigkeit gibt es keine ungestraften Frevel: wenn du deine Hand erhebst gegen deinen Feind, so triffst du dein eigenes Angesicht, denn der Beleidiger und der Beleidigte sind Einer.«
»Mensch, ich verstehe dich nicht. Als ich den Qualen meines Feindes zusah, da freute ich mich und spürte keinen Schmerz, wie ich doch gemußt hätte, wenn ich eins mit ihm wäre.«
»Wahr. Aber wir besitzen auch geheimnisvolle, schmerzbetäubende Mittel; wem wir die eingeben, dem kann man den Arm abschneiden, die Zunge durchbohren, ohne daß er es empfindet. So lagst auch du in Betäubung und fühltest nicht, was an deinem Leibe geschah, als du den Gehaßten quälen ließest; aber erwache, so wirst du alle seine Schmerzen fühlen. Dieses Betäubungsmittel, dieses Nichtbewußtsein nennt man das Ich, aber glaube nur nicht, daß dadurch der Schmerz genommen sei, er wütet weiter, und an der Pforte des Bewußtwerdens erwartet er dich.«
Über diesen letzten Worten war der Fürst unruhig geworden. »Das klingt wie eines Tollen Rede,« sagte er, »und doch – es ist etwas darin, das mich zwingt, dir zuzuhören. Mach es mich fühlen und mit Händen greifen, daß ich eins bin mit meinem Beleidiger, wenn du nicht als ein Verrückter eingesperrt werden willst.«
»Was du verlangst, ist schwer, aber ich werde suchen, dich zu befriedigen. Setze dich und sieh mir unverwandt in die Augen.«
Der Herzog tat, wie ihm geheißen war. Sobald er die Blicke fest in die ruhig glänzenden Augen des Morgenländers gesenkt hatte, legte sich der Sturm in seiner Brust. Er fühlte eine geheimnisvolle Macht, die ihn fest und tief umspann und über sich selbst hinausrückte. Aber er wehrte sich, er wollte sich losreißen von dem Banne dieser glänzenden Augen, um sein Ich, das er wegschwinden fühlte, festzuhalten. Doch die Augen gegenüber ließen ihn nicht mehr los, sie rückten gegen ihn heran und bohrten sich wie mit blinkenden Widerhaken in die seinigen. Ihr Glanz wurde immer mächtiger, sie vergrößerten sich und rückten näher zusammen, bis sie nicht mehr zwei waren, sondern nur noch ein einziges, eine runde durchleuchtete Kugel von ungeheurer Größe und unerträglichem Licht wie eine strahlende Himmelssphäre.
Der Herzog machte noch einen Versuch, die seinigen zu schließen, aber er vermochte es nicht, und bald konnte er auch nicht mehr wollen. Sein Ich war auf den engsten Punkt zusammengezogen. Dann verlor er auch das Körpergefühl und das Bewußtsein seiner Person. Allmählich schwächte sich die Lichtempfindung, bis sie ganz geschwunden war und eine graue Dämmerung ihn umfing, worin gar nichts zu unterscheiden war.
Aber dennoch war etwas Geistiges in ihm wach geblieben, und dieses dehnte sich über den ganzen Weltraum aus. Dann schien es ihm, daß ein Kopf sich über ihn neigte, und daß eine Stimme ihm ins Ohr raunte, doch die Worte verstand er nicht.
Erst nach längerer Weile verdichteten sich die Elemente seines Wesens wieder zu etwas Festem, Körperhaftem, das sich um einen Zentralpunkt sammelte. Das Ichgefühl kehrte zurück, aber es war ein von dem früheren ganz verschiedenes. Er fühlte leichte, jugendliche Glieder, und ein innig-leidenschaftlicher Wille führte ihn. Es schien ihm, als eilte er nach einem Ort, wohin heftige Sehnsucht ihn zöge. Eine Gartenmauer tauchte vor ihm auf, die er geschmeidig wie eine Katze zu erklettern glaubte.
»Dort bei den Cypressen steht sie,« sagte eine Stimme neben ihm. Da sprang er hinab und schloß eine weibliche Gestalt, die sich ihm entgegen bewegte, in die Arme. Sie lag an seiner Brust, als wäre sie mit ihm zusammengewachsen, Lippen preßten sich auf Lippen, und er fühlte zwei eiskalte zitternde Hände, die sich um seinen Hals verschlangen.
Das alles geschah dem traumentrückten Herzog so wirklich und überzeugend wie nur je ein Ereignis seines eignen Lebens. Er war sich völlig klar über das Verhältnis, in dem sein neues Ich zu diesem Mädchen stand. Auch daß sie ihn Gastone nannte, entsprach der Vorstellung, die er von sich und den Dingen hatte. Er war ja der junge tapfere Prinz, von dessen Ruhm die Lieder sangen, und sie seine Fiordalisa, seine ihm verlobte Braut, die er binnen wenigen Wochen vor den Altar führen sollte. Nur ihre eiskalten Hände und das Zittern ihrer Glieder waren ihm befremdlich.
»Was fehlt dir, was bekümmert dich?« glaubte er zu fragen, während aus seinem Munde abgerissene, lallende Laute kamen.
Da schlug es wie Stimme des Gerichts in seine Ohren: »Nimm Abschied auf ewig von ihr, du wirst sie niemals wieder in die Arme drücken. Ihre Brüder – der Herzog – man entreißt sie dir.«
Der Schläfer stöhnte wild auf.
»Wer kann es wagen? Habe ich nicht ein Schwert? Wissen sie nicht, wie ich heiße?«
»O stille, Prinz, stille! Einer kann es wagen, einer, der alles kann, der Herzog selbst. Dein Oheim wirbt um sie, sie ist die Braut des Herzogs.«
Ein Schrei der Wut rang sich aus der Brust des Träumenden. Seine Blume, seine Fiordalisa dem Herzog, seinem Oheim, dem alten Mann! War das der Lohn für die Siege, die er ihm erfochten hatte, für die Narben, die er um seinetwillen trug?! Hatte nicht der Alte noch erst kürzlich die Verlobung des Neffen mit einer Landestochter gebilligt, weil sie den Zwecken der Politik entsprach? Und nun kam er selbst, der unersättliche Greis, der alles an sich riß, was ihm gefiel, und streckte die Hand nach seinem Kleinod aus. Durfte der Herzog so aller Ehre und Treue vergessen, wo gab es dann noch eine Sohnes- und Untertanenpflicht, die heilig war?
Diese Vorstellungen folgten sich mit Blitzesschnelle im Geiste des Träumers, und er war so völlig eins mit seinem neuen Ich, daß jener Oheim ihm als der hassenswerteste aller Menschen erschien.
»Ich leide es nicht,« röchelte er mit wuterstickter Stimme. »Fiordalisa folgt mir – ich führe sie fort – weit fort –«
»Umsonst, Prinz, Ihr seid von Spähern umstellt, und Fiordalisa ist die Gefangene ihrer Brüder, bis der Herzog sie heimführt.«
»Das soll er nicht! Eher strecke ich ihn tot zu Boden. Ich rufe mein Kriegsvolk, ich stürme die Burg – Blut soll fließen, sein Blut.« Er ballte die Fäuste, und seine Zähne knirschten wild aneinander.
»Ergebt Euch, Prinz, die Macht ist sein. Seht Eure Fiordalisa, die im Schmerz erstarrt, und sagt ihr Lebewohl, ihr seid einander auf ewig verloren.«
Mit lautem Schluchzen streckte er die Arme nach der Geliebten aus. Da ertönte ein Pfiff durch die Dunkelheit, und aus der Ferne rief eine gedämpfte Stimme: »Trennt euch! Ihr seid belauert, sie kommen!«
»Bleib, bleib,« stammelte der Träumende und wollte die Geliebte festhalten, aber seine suchenden Arme griffen in die leere Luft. Fiordalisa war verschwunden, er stand in Nacht und trostloser Einsamkeit. Schon vernahm er Tritte und Waffenklirren in seiner Nähe, und er tastete wild nach seinem Schwert. Aber die Stimme, die sein Leben regierte, raunte ihm dringend zu: »Tor, du bist ja waffenlos. Fort, fort, verkrieche dich in dem Gebüsch, sie dürfen dich nicht finden, sonst ist es um euch beide geschehen.«
Wer das gesehen hätte von den Kämmerern draußen im Vorzimmer, wie in diesem Augenblick der Herrscher von Montefeltro auf höchsteigenen Knien sich hinter den Fenstervorhang verkroch, der ihm als eine scharfe, seine Glieder ritzende Dornenhecke erschien!
Dann umspann ihn tiefe, drückende Finsternis. Er wußte wenig von sich, nur daß ihm das Beste genommen und daß sein Leben wertlos geworden war. Jene Stimme sprach noch immer auf ihn ein, er verstand nicht, was sie sagte, aber es war, als ob alles, was er dachte, von der Stimme ausginge, als ob sie ihm eingäbe, was unmittelbar darauf geschehen mußte. Und dennoch folgten sich die Ereignisse auf das natürlichste, jeder Vorgang entsprang aus einem andern wie das Küchlein aus dem Ei.
Er fand sich in der geschmückten, von Kerzen strahlenden Kirche. Weihrauch und Blumenduft drangen verwirrend auf ihn ein. Dicht umgaben ihn die Reihen der Höflinge in Festgewändern, die im Mittelschiff Spalier bildeten; in den Seitenschiffen drängte sich die Menge Kopf an Kopf. Vor dem Altar stand die Braut, er sah sie neben dem Herzog niederknien und den Ring empfangen, der sie zur Herzogin machte.
Sieh, wie schnell sich ein Weib ergibt, wenn eine Krone zu gewinnen ist, flüsterte eine häßliche Stimme in ihm, und er gab einen dumpfen, grollenden Zorneslaut von sich wie ein gereizter Löwe.
Aber nun kehrte sie ein ganz entstelltes Gesicht herüber, und ihre angstvollen Augen schienen zu sagen: Vergib mir, ich konnte ja nicht anders. – Vor diesem Blicke schwand der Groll, und die heiße, unbezwingliche Liebe quoll mächtiger als je empor.
»Fior–da–lisa!« stöhnte der Schläfer qualvoll in abgebrochenen Lauten.
Da erbrausten gewaltige Orgeltöne, die Schar der Höflinge setzte sich in Bewegung und schwemmte ihn wie eine Welle hinter den Neuvermählten zur Kirche hinaus.
Dort wurde sie hingeführt, und er mußte es geschehen lassen! Daß er sich nicht auf den gekrönten Bräutigam werfen und ihn in Stücke reißen konnte! Die ohnmächtige Wut preßte ihm ein Brüllen aus wie einem verwundeten Raubtiere. Er wand und krümmte sich in seiner Pein, er knirschte mit den Zähnen, grub sie in die geballten Fäuste, bis seinem grimmigen Schmerz allmählich die bestimmten Vorstellungen entschwanden und ihn ein grauer Ozean von Jammer, das Elend der ganzen um ihr Glück betrogenen Menschheit, umfing.
Erst als die Stimme wieder zu reden anhob, formten sich neue Bilder in seinem Geiste.
»Unglücklicher, was hast du getan! Du hast deinen Herzog und Oheim verwundet. Da tragen sie ihn ohnmächtig hinaus.«
Alsbald sah er sich in einer festlichen Arena voll schön geschirrter Rosse und geharnischter Reiter, er erkannte die teppichbehangene Tribüne mit den geschmückten Damen, darunter sie in herzoglichem Pomp, seine bleiche abgepflückte Lilie, und sein Herz zog sich in einem neuen, noch nie gefühlten Mitleidsweh zusammen bei ihrem Anblick. Durch die Reihen der Damen ging eine erschrockene Bewegung, sie drängten sich alle nach vorn und spähten ängstlich über die Balustrade, denn unten wurde eben der neuvermählte Herr von dem bestürzten Hofgesinde wie leblos aus den Schranken hinausgetragen.
Was war geschehen? Hatte er ihn absichtlich töten wollen, war's nur die blinde Wut der Verzweiflung gewesen, daß er ihn mit diesem wuchtigen Stoß in den Sand gestreckt hatte, um ihm das Küssen und Kosen zu vertreiben? Gastone wußte es selber nicht, er war vom Roß gesprungen und starrte zu der Tribüne hinauf, wo Fiordalisa zitternd von ihren Damen weggeführt wurde.
Schnell wechselte das Bild.
Es war Abend. Eine Zofe der Herzogin streifte an ihm vorüber, sie lud ihn mit den Augen nach einer Stelle im Garten und flüsterte ihm dort eine Botschaft zu. Fiordalisa wollte die Verwirrung, die des Herzogs Unfall erregt hatte, benutzen, um ihn zu sprechen; sie war allein in ihren Gemächern und erwartete ihn. Ihrem Rufe konnte er nicht widerstehen. Er wollte hören, was sie ihm zu sagen hatte, und dann weit hinweg fliehen, sie niemals wiedersehen. Oder nicht? Was wollte er denn? An sich reißen, was ihm von Rechts wegen gehören sollte, was ihm mit Gewalt entrissen worden war? Er wußte es selber nicht; schwindelnd folgte er dem Mädchen über Gänge und Treppen und hatte schon die Tapetentür erreicht, die ins Zimmer der Herzogin führte, als sich ein schwerer Arm auf den seinigen legte. Ha, da stand er schon wieder auf seinen Füßen, der schreckliche Greis, er hatte seine Ohnmacht abgeschüttelt und sah ihn aus starren, unheildrohenden Augen an.
Im nächsten Augenblick war der Prinz von den Wachen umringt, entwaffnet und gefesselt. Dann lag er allein in einem dunkeln Gefängnisloch. Doch nicht lange, so vernahm er Schritte, die schwere Eisentür ging knarrend auf, Fackelschein fiel in das Verlies, und der Herzog erschien auf der Schwelle. Zwei Knechte begleiteten ihn, scheußliche Gestalten, wie von der Natur zum Henkershandwerk geschaffen.
»Bleibe fest,« raunte ihm die Stimme zu. »Er wird dich fragen, ob du aus eigener Kühnheit oder geladen den Weg zu Fiordalisas Zimmer gefunden hast. Sei standhaft und rette die Herzogin.«
Der Träumer straffte jeden Nerv zum Widerstand. Er murmelte mühsam unverständliche Worte. Ein dumpfes, furchtbares Ringen ging in seinem Geiste vor sich, der nicht zu denken vermochte und sich doch bewußt war, daß er eine Antwort finden mußte, um die Geliebte zu retten. Es war ihm, als stritte er sich mit der Zofe, die als Zeugin gegen ihn vorgeführt würde, und als nennte er sie eine Lügnerin.
»So schreib es dir selber zu, wenn ich schärfere Mittel anwenden muß,« hörte er die Stimme seines Oheims sagen, und kaum gedacht, war schon das Entsetzliche zur Wirklichkeit geworden.
Die Knechte hatten sich auf ihn gestürzt, sie schnürten ihm die Arme fest, und vor den kalten, grausamen Augen des Herzogs wurden ihm unter unsäglicher Pein die Glieder auf der Folter auseinandergerenkt. Angstschweiß quoll von des Träumers Stirn, stöhnende, gräßlich gurgelnde Laute kamen aus seinem Hals, aber über all der Qual schwebte siegreich die große, allmächtige Liebe.
Für dich, Fiordalisa, für dich! –
Dann verwirrte sich sein Bewußtsein, und gleich darauf fand er sich allein, der Qual entrückt, bei verlöschender Ampel, mit gebrochenen Gliedern auf einer harten Lagerstatt.
»Nun ruhe,« sagte die Stimme, und oben an der Decke löste sich etwas Schweres ab, das langsam auf ihn niedersank und ihn mit einem dichten Geflecht umspann. Ein Fluch gegen den Tyrannen war sein letzter Gedanke, dann entschlief er ohne Traum.
*
Als der Herzog wieder zu sich kam, war der Rest des Tages und eine ganze Nacht verflossen, und ein neuer Tag brach soeben an. Der Mann aus dem Morgenlande war verschwunden, und er selber war wieder der Herzog von Montefeltro. Aber er war es nur durch den Dienst seiner Wachen und den Gruß seiner Hofleute. In seiner Seele war noch der Traumwille durch das wache Bewußtsein hindurch tätig und versetzte ihn in den allerwunderlichsten Zwiespalt, denn noch immer haßte er diesen Herzog Gianpaolo, der er nun wieder selber war, und zugleich peinigte ihn die unerträgliche Empfindung, sich selbst in den Gegenstand seines Hasses verwandelt zu finden. Es tat ihm leid, nicht mehr der junge Gastone mit seiner Liebe und seinen Schmerzen zu sein, und die ganze Welt erschien ihm alt und kalt. Er wußte nicht, wohin er gehörte, noch was er wollte.
Erst nach vielen Stunden wuchs er allmählich wieder in sein altes Ich zurück, aber er konnte seine alten Leidenschaften nicht mehr empfinden, und seine Energie war gänzlich aufgehoben. Das Geschehene erschien ihm in einem völlig andern Licht, und je mehr er sich die Zustände, die er soeben durchgemacht hatte, zurückrief, desto unmöglicher wurde es ihm, auch nur noch eine Spur von Groll gegen seinen Neffen aufzubringen.
Als er mit sich ins reine gekommen war, ließ er den Morgenländer aufs neue rufen. »Es ist dir gelungen,« sagte er, »mich auf Stunden zu dem zu machen, den ich haßte, und ich sehe jetzt, seine Schuld wiegt federleicht gegen seine Leiden. Wohlan, er werde frei, und die ganze Strafe falle auf die Verführerin.«
»Herr,« antwortete jener, »du bist gerecht und weise, aber ehe du ein Urteil sprichst, tue noch einen letzten Blick in das Wesen der Dinge.«
Er ließ ihn niedersitzen und versetzte ihn durch festes Anblicken und Streichen über die Stirn aufs neue in den Zauberschlaf.
Diesmal schloß sich der magische Kreis noch viel schneller um den Herzog als das erste Mal, und als die Stimme wieder zu murmeln begann, fühlte er seine Glieder von einem langen faltigen Gewand umflossen und seine Brust in einen hohen Schnürleib eingezwängt. Sein Kinn deuchte ihm glatt und seine Haare in lange Flechten aufgewunden.
Es war gut, daß keiner seiner Hofleute ihn sehen konnte, wie er züchtig dasaß, bemüht, die Spitze des Fußes unter dem vermeintlichen langen Gewande zu verbergen.
»Was machst du, Fiordalisa?« fragte der Magier laut.
»Ich sticke,« antwortete der Herzog mit einer hohen und feinen Stimme, und er bewegte die Hände zierlich und vorsichtig, als ob er mit Bedacht seidene Fäden durch einen Stickrahmen zöge.
»Woran denkst du?« fragte die Stimme weiter.
»An Herrn Gastone,« kam die leise, zögernde Antwort, und ein verklärtes Lächeln ging über die Züge des greisen Herrschers. Er fühlte sich ganz zum Weibe geworden. Ein dumpfer Zustand umgab ihn, in dem jeder Wille aufgehoben und jede Bewegung durch den Zwang der Sitte gehemmt war.
Die Zeit schien endlos unter den Stichen seiner Nadel, sie brachte keine Taten, keine Ereignisse. Nur wie ein fernes Licht schien in diese Dämmerwelt der Name des Verlobten, von dessen Ruhm ganz Montefeltro widerhallte. Um ihn drehten sich die Gedanken der Braut in einer stillen, stetigen Bewegung; das ganze Leben war nur ein Warten auf die Zukunft, die sie von ihm empfangen sollte.
Unter dem Gemurmel der fernen Stimme erwachte in dem Schläfer allmählich das deutlichere Bewußtsein seines Ichs. Als Fiordalisa erkannte er sich im Frauengemach, von dienenden Mädchen umgeben, die ihm den Stickkorb reichten, das Garn wickelten und der Errötenden zuflüsterten, daß soeben Prinz Gastone am Haus vorüberreite. Der Träumer machte eine Bewegung, wie um ans Fenster zu eilen, aber die Stimme bannte ihn sittsam auf dem Stuhle fest. Er fuhr fort, die Fäden zu ziehen, und um jeden Stich der kunstfertigen Nadel tanzten entzückende Bilder der kommenden Seligkeit.
Jetzt aber murmelte die Stimme stärker und stärker, und das friedliche Traumleben erhob sich mit einem Male zu stürmischen Wellen. Ein Bruder erschien, der mit väterlicher Gewalt bekleidet war, und kündigte der Braut Gastones an, daß sich ein neuer Freier gefunden habe, ein größerer, der ihr eine Herzogskrone auf den schwarzen glänzenden Scheitel setzen, sie zur Stammmutter eines regierenden Hauses machen wollte.
»Du kennst ihn, Fiordalisa, diesen andern,« sagte die Stimme, die ihre Gedanken lenkte, und im Nu stand es vor ihrer Seele, wie sie jüngst dem Herrn des Landes, den sie sonst nur aus der Ferne mit scheuer Ehrfurcht betrachtet hatte, unter der Kirchentür begegnet war. Ganz nahe war er da an ihr vorbeigeschritten, auf einen Kämmerer gestützt, mit Pagen, die ihm die Mantel schleppe trugen.
Plötzlich hatte einer der Kämmerer ihm etwas zu geraunt, worauf er den Kopf drehte, und unter grauen buschigen Brauen hatte ein rascher Blitz wie unter einem Wettergewölk hervorgeflammt. Und dieser Blitz hatte der Braut seines Neffen gegolten! Dann war er weitergeschritten, ruhig und majestätisch, Fiordalisa aber war jenes Tages an allen Gliedern zitternd nach Hause gekommen, und eine dunkle Furcht vor den begehrenden, tyrannischen Augen des Greises war ihr seitdem in der Seele geblieben. Jetzt wußte sie, warum sie vor diesen Augen gezittert hatte.
Was half's, sich auf das gegebene Treugelöbnis berufen? Vor dem Willen des Herrn lösten sich alle Eide, und kein Widerspruch konnte aufkommen, wo Er sich herabließ, zu werben. Über ihr Haupt hinweg wurde über sie verfügt wie über eine leblose Sache.
»Gastone! Gastone!« wimmerte der Träumer und streckte die Arme hoffnungslos nach dem verlorenen Glücke aus.
Er fühlte, wie die Ereignisse über ihn hingingen, ihn wie in einen dunklen Gang hinunterzogen. Er empfand denselben Trennungsschmerz wie Tags zuvor, nur noch zerreißender und angstvoller, denn er fühlte sich wie gefesselt. Sein Widerstand war nur wie ein verzweifeltes Stoßen gegen dumpfe Kerkerwände.
Dann schien es ihm, als würde er mit prunkhaften Frauengewändern angetan und vor den Altar geführt, um die Hand des aufgezwungenen Bräutigams zu empfangen. Diesen aber sah er nicht, er sah nur durch einen Nebel hindurch die geliebten Augen Gastones mit stummem Vorwurf auf sich gerichtet, dann schwächte sich das Ichgefühl, und er empfand nur noch einen dumpfen Zustand unendlichen Elends.
Noch einmal rief das Gemurmel der Stimme den Schläfer zum Bewußtsein zurück. Er fand sich in einem mit Gobelins behangenen Schlafgemach, wo auf hohen bronzenen Kandelabern feierliche Wachskerzen brannten. Über teppichbelegten Stufen erhob sich der mit einer goldenen Krone geschmückte Alkoven, den schwere damastene Vorhänge verhüllten. Frauen waren beschäftigt, ihm das Brautgeschmeide aus den Haaren und vom Busen zu lösen.
Und jetzt erblickte er auch sein altes Ich, den herzoglichen Bräutigam, mit Fiordalisas Augen: durch den Korridor, zu dem die Türe offenstand, kam er herangeschritten, eine hohe, ehrfurchtheischende Gestalt mit eisengrauem Haupt und wallendem weißem Barte, Diener mit Fackeln in den Händen schritten ihm voran.
Entsetzen nahm dem Schläfer den Atem. Immer näher der Schwelle kam die Gestalt, unabwendbar wie das Verhängnis, schrecklicher als die Vernichtung. Da mit einem erstickten Schrei auf des Magiers Geheiß erwachte der Herzog.
*
Viele Tage vergingen, während deren niemand den Herrscher in seinen Gemächern sprechen durfte. Er saß unbeweglich, die Augen starr auf einen Punkt geheftet; wenn jemand das Wort an ihn richten wollte, winkte er den Störer unwillig mit der Hand hinweg. Der Hof geriet in Unruhe und Verwirrung, die Staatsgeschäfte stockten.
Der Prinz, der schon früher aus dem Gefängnis geholt worden war, wurde nur noch lässig auf seinen Zimmern bewacht und hätte mit Leichtigkeit entfliehen können, wenn ihn nicht der stärkste Magnet gehalten hätte.
Endlich ließ der Herzog den Inder wieder zu sich rufen und hatte eine lange Unterredung mit ihm. Alle Leidenschaften, die ihn erst wachend, dann träumend bewegt hatten, waren aus seiner Seele geschwunden; die Personen, deren Innenleben er durchlebt hatte, verblaßten für ihn ebenso wie sein eigenes Ich.
»Soll ich dir sagen, wie mir zu Mute ist, Sohn der Morgensonne?«
»Sprich, Herr!«
»Mir scheint, ich sehe wie durch einen Schleier die Wahrheit. Hinter diesem Schleier steht die ganze Menschheit als ein einziger Leib. Prinz Gastone, die schöne Fiordalisa sind Glieder davon wie du und ich. Wer sie verletzt, der verletzt uns beide mit und verletzt die ganze Menschheit.«
Der Inder neigte sich tief. »Das ist, o Herr, die Wahrheit, die ich dir zeigen wollte, die eingeschlossen ist in dem Satze: Das bist du.«
Der Herzog versank in Nachdenken. Plötzlich sagte er lebhaft: »Vielleicht wenn du mich in das Seelenleben des Straßenräubers versetzt hättest, den ich neulich hängen ließ, so wäre mir auch die Sache des Straßenräubers als eine gerechte und gute Sache, seine Richter als Schurken und Mörder erschienen.«
»Wenigstens hättest du erfahren, welch mächtiger Zwang, welch eine Kette von inneren und äußeren Gewalten, Leidenschaften, Zufällen, unglücklichen Einflüssen der Geburt und der Verhältnisse ihn seinem Schicksal entgegentrieben.«
Wieder schwieg der Herzog. Nach einer Weile begann er langsam: »Wie soll ich nun ferner richten und strafen in einer Welt, wo alle recht haben? Ich habe erkennen gelernt, ich bin aus meinen Grenzen herausgetreten. Ein Wissender kann nicht mehr Herrscher sein.«
»Du sprichst es aus,« antwortete der Morgenländer mit einer neuen, noch tieferen Verbeugung. »Der Knecht diene, der Krämer feilsche, der Krieger schirme das Reich, und der Fürst regiere, ein jeder hat seinen zugewiesenen Kreis, denn es ist gut, daß Ordnung auf Erden sei. Aber ein Erkennender hat nichts mit allem diesem gemein. Was für die andern hohe Tugend in ihrem Kreise ist, das wäre für den Erkennenden Frevel und Torheit. Heute, o Herr, bist du ein Erkennender geworden. Du hast von dem Lichte, das allen scheint, aber nur von wenigen wahrgenommen wird, einen Strahl aufglänzen sehen, und du kannst nun nicht mehr in die Finsternis zurück.«
»Laß mich das volle Licht finden. Weihe mich in die tiefsten Geheimnisse eurer Lehre ein. Ich will nicht mehr und ich kann nicht mehr Ich sein, und ebensowenig kann ich ein anderer sein. Laß mich alles schauen, wissen, erkennen, nichts mehr fühlen, nichts mehr wollen, nichts mehr leiden, zeitlos und ichlos sein wie du.«
»Herr, was du verlangst, geht über meine Macht. Das volle Licht wird nur von wenigen Vollendeten geschaut. Ich selbst stehe nur als ein armer Suchender und Einlaßbittender auf der Schwelle des Vorhofs. Aber ich habe einen Lehrer, der zu den großen Erleuchteten gehört. Er weiß zur Stunde schon von dir, wenn er gleich Tausende von Meilen entfernt ist, denn er hat in jedem Augenblick Kunde, wo ich bin und was ich tue, ja er hört alle unsere Reden. Dieser sieht in voller Helligkeit den Weg, den ich selbst nur tastend suche.«
»Wohlan, so führe mich zu deinem Lehrer. Meine Staaten gebe ich in Gastones Hand, er soll Herzog sein an meiner Statt und soll durch seine Liebe Fiordalisa für die geopferte Blüte ihrer Jugend entschädigen.«
»So gelobe mir, keine tierische Kost mehr zu berühren, hülle deine Glieder in ein fleckenlos weißes Gewand, laß dein Volk, deine Schätze, deine Siege, deinen Namen selbst zurück und folge mir.«
An demselben Tage noch verschwand der Herzog Gianpaolo auf immer aus seinen Staaten.
Statt seiner führte nun Herr Gastone an der Seite der schönen Frau Fiordalisa das Szepter. Der neue Herrscher schaltete schlecht und recht, je nach Umständen und Leidenschaften, gerade so wie es vordem der alte getan hatte, und die Montefeltriner waren bei ihm nicht besser noch schlechter bestellt.
Von Gianpaolo aber und dem Brahmanen, der ihn entführte, hat man in Montefeltro niemals wieder vernommen.