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Mare

Es gibt Augenblicksbilder, flüchtig gesehene Erscheinungen des Lebens, die eine unverlöschliche Spur in der Seele zurücklassen.

Ein solches Bild begegnete mir jüngst, als ich an einem trüben Novembermorgen mit ein paar deutschen Freunden von Venedig nach Chioggia fuhr. – Nichts Traurigeres als die Lagune an einem traurigen Tage. Die zahllos zerstreuten Inseln sahen, in Nässe und Nebel begraben, wie lauter Orte der Verdammnis aus. Ein niedriger, bleigrauer Himmel hing über einem bleigrauen Meere, und die rostroten Streifen, welche, die flachen, von der Flut bedeckten Sandbänke bezeichnend, sich weithin durchs Wasser zogen, gaben dem melancholischen Bilde noch eine besonders düstere, fast möchte ich sagen tragische Färbung.

Unsere Schiffsgesellschaft bestand zumeist aus schweigsamen Chioggioten mit schweren Holzschuhen, Mützen, worauf der Schimmel wuchs, und goldenen Ringen in den Ohren. Ein Weib in venezianischer Tracht, einem vielgeflickten, grünlich schillernden Schal, der einst schwarz gewesen, mit Spuren von Schönheit im edel geschnittenen Gesicht saß unter ihnen und zählte gierig wieder und wieder eine Handvoll Centesimi, die allerkleinste Münze des Landes; sie erschien mir wie das lebendige Sinnbild des tiefen Elends, zu dem die einstige Beherrscherin der Meere herabgesunken ist. Nur im hinteren Schiffsraum suchte ein Haufe junger Bursche die traurige Monotonie des Tages durch Gesang und lautes von Gestikulationen begleitetes Sprechen zu bekämpfen.

Sie sangen mit vollen wohlgeübten Stimmen das melodische Schifferlied:

» Vieni sul mar,
Vieni a vogar
 …,«

in dem sich wie in einer sanft gleitenden Gondel alle Zauber der venezianischen Sommernacht wiegen.

Aber unter diesem Himmel verfingen die Zauber nicht. Die graue, unbegrenzte Wasserfläche mit den schwarzen Fahrzeugen, die darüberstrichen, hauchte eine Trostlosigkeit aus, vor der man sich nicht retten konnte. Es war, als schwämme man zwischen Särgen einer feuchten grau umflorten Ewigkeit entgegen, über der die goldene Erdensonne niemals wieder scheinen sollte.

Wir glitten so nahe an San Clemente hin, daß das tierische Brüllen der dort eingeschlossenen weiblichen Irren uns zerreißend in die Ohren schlug. Nur in der Nähe von Menagerien hört man sonst ähnliche Laute. – Wie ein Riesengiftpilz schwamm die Insel des Grauens, auf der kein Hälmchen grünt und jeder Fußbreit mit den trostlos kahlen Backsteinbauten übermauert ist, auf dem Wasser. Ihr schwarzes Gittertor müßte die Aufschrift tragen: » Lasciate ogni speranza,« denn keine von den dort Eingemauerten kehrt jemals aus dem traurigen Asyl ins goldene Leben zurück. Und wie unheimlich weit sie sich ausdehnt, diese Veste des Wahnsinns – sie ist wohl zweimal so groß wie das gegenüberliegende San Servilio, das die männlichen Geisteskranken beherbergt. Woher das auffallende Überwiegen des weiblichen Geschlechtes unter den Heerscharen des Wahnsinns? Wirkt die unaufhaltsame Dekadenz, der dieser schöne Menschenschlag verfallen ist, im weiblichen Organismus rascher und verheerender? Oder ist es der ökonomische Ruin des Landes mit seinem Gefolge von häuslichem Elend, das schwerer auf dem Gemüt der Frauen lastet?

Der Anblick unseres kleinen Dampfers mußte in diesen Lebendigtoten den Drang nach Freiheit geweckt haben, Köpfe wurden an den Fenstern sichtbar, Hände streckten sich durch die Gitter, und in dem unartikulierten Geheul, mit dem wir begrüßt wurden, konnten wir die Rufe: Oh andemo! Andemo! unterscheiden.

» Vieni sul mar,
Vieni a vogar
«

schallte es in grausamem Hohne aus dem Hinterraum unseres Schiffes zurück, während wir ins Weite schwammen.

Ein großes schwarzes Schifferboot, von zwei Männern gerudert, kreuzte unsern Weg. Darin saß unbeweglich ein Weib im schwarzen Schal, der ihr Brust und Schultern verhüllte, und neben ihr ein Mann, den der zugeknöpfte Überrock und eine gewisse offizielle Haltung als Angestellten kenntlich machten. Das Boot kam aus der Richtung von Chioggia und fuhr eben hart an einer der Inseln – es war, wenn ich nicht irre, San Piero in Volta – hin, da gellte vom Strand der laute Schrei einer Kinderstimme: » Mare! Im venezianischen Dialekt für madre. Mare! Mare!«

Es klang so schrill und herzdurchdringend, daß alle Blicke sich nach jener Seite wandten.

Ein kleiner, etwa achtjähriger Junge war aus einem der elenden Häuschen am Uferdamm herausgestürzt und rannte schreiend und mit den Armen winkend auf das Wasser zu, das sich hier in einer seichten Bucht landeinwärts schmiegt.

Ein paar Weiber waren hinter ihm her und suchten ihn zurückzuhalten, doch er riß sich verzweifelt los und, immer » Mare! Mare!« rufend, sprang er geradeaus ins Wasser und watete durch Schlamm und Tang nach der offenen Lagune hinaus. Die Flut stieg ihm allmählich bis zum Hals, aber er ließ nicht ab, sondern rang sich mit Armen und Beinen durch das Wasser, dem Fahrzeug mit dem schwarzgekleideten Weibe nach, indem er mit der letzten Kraft seiner Lungen » Mare! Mare!« schrie.

Er konnte nicht richtig schwimmen, er zappelte bloß im Wasser und mußte ertrinken, wenn niemand beisprang. Die Weiber kreischten untätig am Ufer; von unserem Dampfer, der weiterfuhr, schrie ihm die Mannschaft zu: »Kehr' um, du Narr, kehr' um!«; aber er hörte und sah nichts als das schwarze Boot, das ihm die Mutter entführte. Schon versank er bis über den Mund, seine Kleider sogen sich voll und zogen ihn hinunter, er verwickelte sich in den treibenden Tang und schnappte mit vorgequollenen, krampfhaft gerollten Augen nach Luft, aber noch immer strebte er mit den Ärmchen weiter hinaus, und noch immer hörte man den gurgelnden Ruf: » Mare!«, als endlich am Strand zwei Männer einen Kahn flott machten, um zu Hilfe zu eilen.

Wir fuhren schon weit und sahen nur noch aus der Ferne, wie sie glücklich zur Stelle kamen und eine triefende, zappelnde Last in ihren Nachen zogen.

Das schwarze Boot mit dem verhüllten Weibe glitt unaufhaltsam, lautlos wie eine Totenfähre, San Clemente zu. Die darin saß, war ein armes Weib aus San Piero in Volta, das wegen Geistesstörung zu seinen Eltern nach Chioggia zurückgebracht worden war und heute von dort als unheilbar nach der Insel der Lebendigtoten übergeführt wurde.

Ihr Knabe hatte sie erkannt, wie sie, in ihren schwarzen Schal gewickelt, in Begleitung eines Beamten der Anstalt teilnahmslos an ihrem Hause vorüberfuhr, und war, da sie seinem Rufen taub blieb, in der Verzweiflung ins Wasser gesprungen, um ihr nachzuschwimmen.

So erklärte mir die Frau im geflickten Schal, die einzige von der ganzen Schiffsgesellschaft, die dem Vorgang mit Teilnahme gefolgt war, denn unsere Chioggioten hatten die ganze Zeit über gleichgültig weiter geraucht.

Ich habe nie etwas Tragischeres gesehen als dieses verzweifelnde, untersinkende Kind und diese Mutter, die ihr eigenes Fleisch und Blut nicht mehr erkannte, die an seiner Todesangst vorüber stumpf und abgestorben ins Leere sah.

In diesem Bilde lag das ganze Maß von Jammer, das in der Menschenseele Raum hat, vor allem in der Kinderseele, die von keiner Resignation wissen kann.

Kinderschmerzen sind stärker, konzentrierter, zerreißender als die Schmerzen der Erwachsenen, sie enthalten in einem kurzen Augenblick eine Ewigkeit von Qual, nur daß sie selten auf die Dauer dem Gemüt eine Furche eingraben. Ich zweifle nicht, daß dieser kleine Junge sich schnell genug – vielleicht noch schneller als ein deutsches Kind im gleichen Falle – über seinen Verlust getröstet haben wird. Vielleicht spielte er schon nach einer Stunde wieder ganz lustig unter seinen Kameraden mit den Kieseln und Muscheln am Strand. Die Natur des Südens erlaubt ihren Kindern kein langes Trauern und Grämen. Schnell pflanzt sie über Leid und Tod das Banner der Freude wieder auf; das sollten wir auch an jenem Morgen erfahren, denn als wir uns Chioggia näherten, erhellte sich der Horizont mit einem Ruck, als ob ein Vorhang weggezogen würde. Die Sonne brach hindurch, der Himmel rückte hoch hinauf und wurde leuchtend blau. Hunderte fischender Möwen ruhten als weiße Punkte auf der glitzernden Flut. Die gelbroten Segel standen körperlos wie farbige Visionen gegen den Himmel, die weiße Häuserreihe von Palestrina schimmerte in blendendem Lichte, das auch San Piero in Volta umfloß, und bald darauf war die ganze Lagune nur noch ein einziges, unübersehbares Silbergeflimmer.

In meiner Erinnerung aber blieb das Bild des halbertrunkenen Knaben unverwischbar zurück, es sieht mich mit vorgequollenen Augen an, wie ein Bild der verzweifelnden Menschenseele selbst, wenn ihr das Liebste fühllos weggerissen wird, und wie aus den Tiefen der Dinge heraus ruft eine Stimme voll namenlosen Jammers: » Mare! Mare!«


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