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Sie hatte richtig gesehen, die Dämmerung ließ ihn gerade noch erkennen, daß es Nies war, der unentrinnbare Packan, welchem der Intendant seine Aufträge erteilte. »Verwünschter, boshafter Kobold von einem Zufall!« dachte er. »Das haben wir bei diesem lustigen Absegeln von der Festung doch nicht genug erwogen. Es ist klar, sie wissen nichts, sie halten mich immer noch für verfemt. Wenn sie kurzen Prozeß mit mir machen, ohne vorher oben anzufragen, so verbrennen sie sich zwar diesmal die Finger, diese Universitätskorporäle, die mich noch ihrem Stock untergeben glauben, aber zugleich werden sie auch mir das Spiel garstig verderben. Eclat! Ridicule! das sind die Gespenster, die er am meisten scheut. Lass' ich hier vor den Augen des Stuttgarter Publikums eine Szene mit mir aufführen, so ist zehn gegen eins zu wetten, daß er mich fallen läßt, ja es ist gar am Ende möglich, daß er, bei seiner Neigung, Mißgeschick wie Ungeschick zu strafen, ihren Irrtum sanktioniert und mich in meine Höhle zurückstößt. Die Art meiner Freigebung hat mir gezeigt, wie rechtlos ich bin; wenn er die Hand wieder von mir abzieht, so kostet es ein wenig Rechtsverdrehung, mir zu beweisen, daß ich vom Asperg entsprungen sei.«

»Was soll denn das alles bedeuten?« wiederholte Amalie ängstlich. »Unbesonnener, Sie werden doch nicht –«

Ehe sie den Satz vollenden konnte, der nur gar zu sehr dem Geleise seiner eigenen fliegenden Gedanken folgen zu wollen schien, hatte sich Nies vor ihnen aufgepflanzt. »Der Herr Intendant lassen Ihnen befehlen, hier stehen zu bleiben und sich bis auf weiteres nicht vom Fleck zu rühren,« herrschte er ihn mit dem patzigen Tone an, der schon so manchmal, obgleich noch in geziemendere Redensarten geformt, das Blut unseres Freundes kochen gemacht hatte.

Dennoch nahm sich Heinrich zusammen. »Mein lieber Nies,« sagte er freundlich, »melden Sie dem Intendanten, es liege im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten, daß er sich zuerst und unverzüglich an den Herzog wende; ich sei bereit, das Ergebnis hier abzuwarten.«

Diese begütigenden Worte gossen jedoch nur Öl in das Feuer, da er in seiner langen Abwesenheit von der Akademie eine der unumgänglichsten Formalitäten vergessen und sich an den Respektsansprüchen der rechten Hand des Intendanten schwer vergangen hatte.

»Was!« schrie der dicke Kürbis, indem er sich majestätisch auf die Zehen erhob. »Ich bin nicht mein lieber Nies, ich bin der Herr Adjutant! Tun Sie, was man Ihnen befiehlt, und merken Sie sich's, daß bereits Vorsorge getroffen ist, falls Sie nicht Order parieren.«

Er schoß hinweg, aber nicht auf den Intendanten zu, sondern mitten in den akademischen Zug hinein, wo, wie leicht zu erraten war, ihm Hilfskräfte genug zu Diensten standen. Schon hatte auch der Wortwechsel in der nächsten Umgebung bei der vorwärts drängenden Menge Aufsehen erregt, und eine Gruppe machte Miene, sich an dem Orte zu sammeln, der ihrer Neuigkeits- und Skandallust, auch auf die Gefahr hin, daß sie den Beginn des Feuerwerkes nicht zu sehen bekämen, eine Ausbeute verhieß.

»Daß ich ein Narr wäre!« sagte Heinrich. »Meint denn alle Welt, mich gefangen herumschleppen zu dürfen? Jetzt hab' ich's satt. Diesmal sollen sie mich nicht handfest machen!«

»Lassen Sie mich nicht schutzlos zurück!« rief Amalie. »Ich bleibe bei Ihnen, was auch daraus entstehen möge!«

»Nur mir nach!« sagte eine wohlklingende Stimme neben ihnen, so daß Amalie mit einem Schrei zusammenfuhr.

»Tony!« rief Heinrich. »Du Überall und Nirgends!«

»Still!« sagte der Zigeuner. »Ich bin schon lang bei Euch und hab' alles gehört. Vorwärts!«

Er rief quer aus der Allee hinaus, und die beiden folgten ihm, so schnell sie konnten, denn sie hörten Stimmen und Tritte hinter sich. Zu gleicher Zeit fiel ein Kanonenschuß, und jetzt begann ein Zischen, Knallen und Knattern, so daß Amalie erschreckt ihre Schritte beschleunigte, als ob das harmlose Geräusch der Raketen und Schwärmerkästen ein Werkzeug der Verfolgung wäre. Tony hielt auf einen der vielen Pavillons zu, die sich flügelartig von dem Hauptgebäude weit erstreckten und, früher zu mancherlei Zwecken bestimmt, jetzt großenteils verlassen waren. Dort wartete er. »Schnell um die Ecke!« rief er, als sie bei ihm angelangt waren. Sie setzten unter seiner Führung ihre Flucht eine geraume Strecke auf der Hinterseite des Pavillons und des Schlosses fort, von welchem ihnen bereits ein Teil beleuchtet entgegenstrahlte. Da sie sich ihm von der Seite näherten, so sahen sie trotz ihrer Eile das reizende Spiel, wie die Lichter weiter und weiter liefen und die architektonische Schönheit nach und nach in den beleuchteten Linien ihren Triumph feierte. Jetzt hob sich auch die Kuppel mit tausend hellen Augen in den Himmel empor, und Heinrich blieb einen Augenblick von dem Schauspiel ergriffen stehen.

»Dorthin!« gebot Tony. Sie verließen ihre Richtung abermals und wandten sich querfeldein gegen eine lange Wagenreihe, die, Stuttgart zugewendet, hinter den Schloßgebäuden auf ihre Besitzer oder Mieter wartete. Die Kutscher reckten sich teils auf ihren Sitzen, um die Beleuchtung anzusehen, teils standen sie in Haufen beieinander und schwatzten. Die Flüchtlinge schlüpften ihrem Führer nach zwischen zwei Wagen hindurch und befanden sich jetzt hinter der Wagenburg, wo sie den Verfolgern wenigstens für die erste Zeit aus den Augen waren. Allein Tony gab sich hiermit nicht zufrieden, sondern eilte rückwärts an den Wagen hinab, bis er mit seinen Freunden den letzten erreicht hatte. Der Wagen war verlassen. Tony musterte mit einem kurzen Blick die Bauart desselben und die Pferde, nickte zufrieden und sagte: »Hinein! schnell!«

Amalie bedachte sich ein wenig.

»Liebe Schwester,« sagte Heinrich, »ich muß mich um jeden Preis der Verfolgung dieser Einfaltspinsel entziehen. Wenn Sie mein Schicksal teilen wollen, so zögern Sie nicht.«

Sie ließ sich von ihm in den Wagen heben, er folgte, und Tony schlug die Türe hinter ihnen zu.

Heinrich war froh, ein Versteck für den Augenblick gefunden zu haben, aus welchem er, wenn die Verfolgung von ihm abgelassen haben würde, vielleicht durch die Vermittlung des Grafen sicher hervorgehen könnte. Diesen hätte Tony allenfalls zu finden gewußt, wiewohl er ihm lieber den saueren Gang erspart haben würde. Tony aber, der die Requisition ganz anders verstanden hatte, sprang auf den Bock und jagte im schnellsten Galopp davon. Geschrei und Laufen der Kutscher verfolgte die Flüchtlinge, die mit Sturmeseile über den weichen Boden hinflogen. Der tollkühne Zigeuner durchkreuzte mit unbegreiflicher Sicherheit ein Labyrinth von Anlagen und Alleen, lenkte dann dem Walde zu und fuhr mitten durch ein Wachtfeuer hindurch, das die frönenden Treiber unterhalten hatten, daß die Brände auseinander stoben und die Bauern schreiend in den Wald hineinsetzten.

Amalie umschlang ihren Gefährten krampfhaft. »Tony, du wirst uns verderben!« rief Heinrich zum Wagen hinaus.

»Nur ruhig!« ertönte es vom Kutschersitz, »ich war schon bei halsbrechenderen –« Der Rest seiner Worte verlor sich im Donnern der Räder und im Krachen des Wagens. Es ging eine Anhöhe hinunter und eine Strecke eben fort, dann wieder bergauf und wieder bergab, auf engen, aber fahrbaren Wegen, ohne weitere Gefahr, als daß die Räder das eine Mal über eine Baumwurzel hinkrachten und aufflogen, das andere Mal Büsche in den Wagen herein und den Fliehenden ins Gesicht schlugen. Endlich hielt der Zigeuner. »Horch!« sagte er, »es ist alles still, jetzt fängt uns niemand mehr so leicht. Nur noch den Berg da hinauf.«

»Aber was fiel dir ein,« rief Heinrich, »den Wagen wegzunehmen? Wie können wir's vor den Inhabern verantworten?«

»Was?« lachte der Zigeuner, »die Erdenwürmer, die bei dem lumpigen Spektakel da ihre Zeit verlieren, die wird man lang fragen. Sie sollen sich zu Fuß behelfen.«

Er trieb die Pferde wieder an und lenkte sie gegen eine steile Anhöhe.

»Aber langsam!« bat Heinrich.

Tony fuhr, da das Schnellfahren sich hier von selbst verbot, im langsamsten Schritt hinauf, und nun erst gewannen die Flüchtlinge, die bisher vor Schrecken stumm gewesen waren, ihre Sprache wieder.

»Wenn ich nur meinem Manne Nachricht senden könnte!« seufzte Amalie. »Indessen bin ich froh, daß ich Sie geborgen weiß. Wie konnten Sie aber auch die Verwegenheit haben, nachdem Sie von der Festung –« Sie stockte.

»Auch Sie halten mich für einen Entsprungenen!« rief er, »es wäre freilich kein Wunder, wenn ich in der Freude über diese Briefe Schlösser und Siegel zerbrochen hätte.«

Jetzt erst fanden die beiden so spät und so sonderbar vereinigten Freundesherzen Zeit, ihre gegenseitigen Mitteilungen auszutauschen. Amalie erfuhr, wie seine Befreiung mit den Briefen, die ihm die Freiheit erst wert machten, unmittelbar zusammengetroffen war. Er dagegen vernahm Lottchens Erlebnisse, von welchen er zu viel und zu wenig wußte, zum ersten Male in ihrem wahren Verlaufe, und es wäre schwer, die wechselnden Empfindungen zu schildern, die ihn während der Erzählung ihrer Schwester bestürmten. Scham und Reue behielten die Oberhand; er verglich sich mit der Geliebten, die ihm auch in seiner Entfernung von ihr die reinste Treue bewahrt hatte, und mußte sich sagen, daß er in der Verkennung des trefflichsten Mädchens einen schönen Teil seines Lebens verloren habe. »O, ich bin ihrer nicht wert!« rief er, als Amalie zu Ende war.

Der Wagen hielt, Tony sprang ab und öffnete den Schlag. »Wir sind auf einer Lichtung,« sagte er, »wo wir ohne Gefahr ausruhen und zuschauen können.« Die beiden Flüchtlinge stiegen aus.

Der Zigeuner deutete in die Ferne, und mit einem Ausruf der Bewunderung sahen sie den letzten und schönsten Teil des Festes, von dem sie auf eine so unerwartete Weise entführt worden waren. Die Solitüde stieg auf einer entfernten Anhöhe des Hügelrückens, dessen Krümmung der kühne Wagenlenker eingehalten hatte, beleuchtet aus dem Walde hervor, und in dem wunderbaren Lichte glaubten sie ein nie gesehenes Zauberschloß zu erblicken. Amalie setzte sich auf einen Baumstrunk, und Heinrich stellte sich neben sie, um ihr zur Stütze zu dienen. Es war ihm, als sähe er sein Luftschloß noch einmal in aller Pracht ihm zuwinken, und er blickte lächelnd von der trügerischen Herrlichkeit in den dunkelblauen Himmel, der ihm ein treueres, ein unzerstörbares Glück abspiegelte.

»Wo wenden wir uns jetzt aber hin?« fragte Amalie, wie aus einem Traum erwachend.

»Nach Illingen!« antwortete Tony. »So sagtet Ihr ja vorhin,« setzte er gegen seinen Freund hinzu.

»Nach Illingen!« rief Heinrich in seligem Vorgefühl. »Weißt du die Richtung, du Hexenmeister?« fragte er den Zigeuner.

»Gewiß,« sagte dieser, »mir ist jeder Schlupfweg bekannt.«

»Könnten wir nicht,« meinte Heinrich, »in einem Dorfe ein Fuhrwerk bekommen und dieses hier durch einen Burschen zurücksenden? Der Raub wird mir immer peinlicher.«

»Ich hab' nicht gern mit Schulzen zu tun,« war die trockene Antwort seines morgenländischen Freundes.

»Ist auch wahr!« rief Heinrich, »und ich noch weniger mit Amtssubstituten.«

»Ich bringe die Kutsche, wenn sie ausgedient hat, an ein Stuttgarter Tor, wo sie ihren Herrn schon wieder finden wird. Der muß sich eben derweil in Geduld fassen. Ein Stuttgarter Hauderer springt nicht gleich ins Wasser.«

Bei diesem Troste mußte sich unser gewissenhafter Freund beruhigen.

»Hier«, sagte Tony, »hat der Herzog unermeßlich viel Holz schlagen lassen, das alles in die Münze gekommen ist, und das Geld geht da drüben wieder in die Luft. Wenn er gewußt hätte, wie bequem er's uns gemacht hat!«

Heinrich sah ihn freundlich an. Der junge Zigeuner schien seine Schwermut abgelegt zu haben; offenbar hatte ihn der Dienst, den er seinem ehemaligen Gegner erweisen konnte, heiter gestimmt.

»Eine stattliche Summe mag in diesen paar Tagen aufgegangen sein,« bemerkte Amalie.

»Ob wohl die Landschaft Vorstellungen dagegen gemacht hat?« versetzte Heinrich. »Die scheint auf ihren Lorbeeren zu schlummern.«

Ein plötzlicher Gedanke kam Amalien; sie legte ihre Hand auf Heinrichs Arm: »Wenn Sie zum Vater kommen – haben Sie diesen Punkt schon gegen ihn berührt? Die Landschaft meine ich.«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Sprechen Sie doch vorsichtig davon, es ist eine empfindliche Saite. Seine Vorfahren saßen in der Landschaft; er selbst hat die Laufbahn ausgeschlagen, aber es würde ihn kränken, wenn er Ungleiches davon reden hörte.«

Heinrich dankte für den Wink und verhieß, sich in acht zu nehmen. Beide schauten noch einmal nach dem schönen Schauspiel hinüber, dann wandten sie sich, um wieder in den Wagen zu steigen.

Tony fuhr jetzt mit mäßiger Geschwindigkeit und wagte sich, da es hinter ihnen ruhig blieb, auf breitere Fahrwege. Das sanfte Schaukeln des Wagens wiegte unseren Freund in wonnige Träume seines bevorstehenden Glücks; der Gefahr entronnen und der Freude so nahe, befand er sich in einer ganz eigenen Art von Wohlgefühl. »Nein, ich hab' es nicht verdient, noch so glücklich zu werden!« rief er sich immer wieder zu. »Was soll ich ihr sagen? Wie entgegentreten?« wandte er sich zu seiner schweigenden Freundin. »Angst und Seligkeit überfallen mich, wenn ich daran denke.«

»Sie kehren zu ihr zurück,« erwiderte Amalie lächelnd, »das ist ja wohl die beredteste Erklärung. Noch eine kurze Geduld! Wir sind ja auf dem Wege –«

»Nach Illingen!« rief er in seligem Jubel. »Auch wir,« sagte er, indem er ihre Hand faßte, »sind uns nicht mehr fremd. Ich begrüße eine teure Schwester in Ihnen.«

Sie erwiderte innig den Druck seiner Hand. »Ich kann Ihnen nun wohl gestehen,« entgegnete sie, »daß ich gleich von Anfang an eine gewisse Teilnahme für Sie gefühlt habe, die ich freilich nach meiner Art verbarg. Habe ich das Zerreißen Ihres Verhältnisses durch eine schweigende Kälte wenigstens befördert, so tue ich jetzt alles, um die lieben Fäden wieder zu knüpfen. Ich glaubte Lottchen zu einfach für Sie, bis der Brief des herrlichen Mädchens kam. Auch an ihr hab' ich gelernt, daß Leiden und Entsagung die besten Taucher sind, um die Perlen und Edelsteine aus dem Menschenherzen zu Tage zu bringen. Ja,« fuhr sie unter Tränen fort, »es scheint eine Sonne auf dieses Herz, welche selbst die härteste Rinde zuletzt sprengen kann.«

»Meine gute Schwester!« sagte Heinrich bewegt, »unsere Verwandtschaft gibt mir ein Recht, Sie zu fragen, was Sie so verändern oder vielmehr Ihr verborgenes schönes Gemüt so herauskehren konnte. Gönnen Sie mir das Geheimnis dieser Entpuppung. Ich kann Ihnen nicht aussprechen, wie hold und lieb Sie geworden sind. Und die Folge dieser Umwandlung, Ihr Entschluß, der Ihnen aus dem Urgrund alles Guten belohnt werden möge, sich eines verlassenen und vergessenen Gefangenen anzunehmen! Denn Ihre Sendung hat mir Leben und Hoffnung zurückgegeben. – Sagen Sie mir, welch ein Engel hat das alles so gelenkt?«

Sie wandte sich schnell und erstaunt zu ihm herum. »Hahn,« rief sie, »der unvergleichliche Mann! Wissen Sie es denn nicht? Sie haben ihm ja von mir gesagt, und daß Sie selbst gegen diesen zuverlässigsten aller Menschen kein unschönes Wort über meine Schwester ausgesprochen haben, das hat mich so von neuem für Sie gewonnen.«

»Wie?« rief Heinrich, »und dieser würdige Freund ist durch mich veranlaßt worden, Ihre Bekanntschaft zu suchen?«

»Ich begreife Sie nicht,« war ihre Antwort, »das sollten Sie doch wissen. Er hat Ihnen ja meinen Brief zugeschickt.«

»Von ihm also war der Brief überschrieben? Der seltsame Mensch nahm sich nicht Zeit, auch nur eine Zeile, die mich aufgeklärt hätte, beizulegen.«

»Das sieht ihm gleich,« sagte sie lächelnd, »er begnügte sich, den guten Samen auszusäen, den er dann in frommem Glauben sich selbst überlassen konnte. Das ist seine Art, etwas als unnütz beiseite zu lassen, worüber andere ihr ganzes Leben hinbringen.«

»Nun fange ich an,« sagte Heinrich, »den Zusammenhang klar zu sehend. Also deshalb nannte Sieger den Brief eine Seelenspeise? Ja, er hat ihm den rechten Namen gegeben, obgleich er unter der Handschrift des frommen Freundes etwas ganz anderes vermutet haben mag. Wunder über Wunder! Was ein zufällig hingeworfenes Wort für Folgen haben kann! Auch hier komme ich ohne alles Verdienst zu einer Ernte, deren Saat ich ahnungslos ausgestreut habe. Und so ist denn mein Tröster in der Gefangenschaft auch Ihr geistlicher Vater geworden?«

»Er hat das Wort ausgesprochen,« erwiderte sie, »das mir Frieden brachte; er hat mein verkümmertes Erdenschicksal an jenes unsichtbare Reich angeknüpft. Ihm verdanke ich eine Glückseligkeit, auf die ich für dieses Leben verzichtet hatte, ach, die mir dann auch in jenem nicht geworden wäre! Jetzt erst, wenn ich an meinen früheren Zustand zurückdenke, sehe ich ein, wie viele Menschen, die sich sogar für religiös, für christlich halten, in Worten hinleben, ohne einen Atem von dem Geist, der im Worte ruht. Glauben Sie nicht, daß ich mich einem kleinlichen Buchstabendienst ergaben hätte; ich bin entfernter davon als je. Die große Geistesfreiheit unseres Freundes läßt auch mir zu, die göttliche Pflanze in meinem Boden und nach meiner Art wachsen zu lassen. Auf eines freilich dringt er als unerläßlich, Sie wissen es, und es ist auch mir die Hauptsache. Sie mögen nun darüber lächeln, aber aus den Früchten meines neuen Lebens sehen Sie am besten, was ich geworden bin.«

»Nimmermehr!« rief Heinrich mit Feuer, »wie wenig kennen Sie mich, wenn Sie glauben, ich könnte über Sie lächeln. Ich segne diese Umwandlung und wüßte keine, die Ihnen besser und natürlicher stünde. War es ja doch eine ähnliche Gedankenverbindung, die mich antrieb, in den Gesprächen mit Hahn Ihrer zu erwähnen.«

»Wirklich?« sagte sie, »also von Ihrer Geisteshöhe herab haben Sie den bescheidenen Weg erkannt und gebilligt, der meiner geistigen Beschaffenheit angemessen ist?«

 

Heinrich sah sie ungewiß an; er glaubte eine Empfindlichkeit und einen Anklang von dem alten Ton aus diesen Worten herauszuhören. »Bleiben Sie lieb, Schwesterherz, bleiben Sie gut!« erwiderte er. »Nehmen Sie mir's nicht übel, aber das war ein Splitterchen von der alten harten unverdaulichen Schale. Nur heraus damit, daß der edle Kern vollends frei wird! Der wird Ihnen aufs mindeste eingeben, mich als einen Irrenden mit Freundlichkeit zu ertragen. Wäre es aber wirklich so, daß Sie mir eine umfassendere Erkenntnis zugestehen müßten, so wissen Sie ja, es gibt einen inneren Zwang, in welchem alle gleich sind, wie es auch eure Lehre vom Reiche Gottes sagt. Lassen Sie mich nicht wiederholen, was ich alles mit Ihrem Beichtvater durchgesprochen habe; er hat mich auch zuletzt gewähren lassen müssen. Vor allem geben Sie keiner Empfindlichkeit Raum, und« – setzte er hinzu, indem er sanft ihre Hand faßte – »vergessen Sie nicht, was die erste aller christlichen Tugenden ist; ja, wir alle, wer wir auch seien und was wir auch glauben mögen, bedürfen der Demut vor allem.«

Amalie drückte ihm lächelnd die Hand. »Dank, lieber Bußprediger! Sie wissen uns zuletzt mit unseren eigenen Waffen zu schlagen. Nun, ich will mir`s ja gefallen lassen, daß Sie was Besonderes haben wollen; aber mich wird es nicht von meinem Glauben abbringen.«

»Es sind auch schlechte Glaubensgesinnungen, liebe Amalie, die einander irre machen können.«

»Schau!« rief ihr Wagenlenker herein. Sie hatten die Wälder weit hinter sich und hielten auf einem kahlen Bergvorsprung mit vielfach zerrissenem Boden, über welchen ein ziemlich breiter Weg ins Tal hinunter führte. »Da drunten,« sagte Tony, »kommen wir auf die Landstraße.«

»Der Wagen muß vor Tag in Stuttgart sein,« versetzte Heinrich. »Fühlen Sie sich stark genug, den Weg von Vaihingen an vollends zu Fuß zu machen?« fragte er Amalien.

»Ich habe mich völlig erholt,« antwortete sie, »den Weg durch das Tal weiß ich von alten Zeiten her, und die Nacht ist so hell, daß wir nicht irre gehen können.«

Tony, der jetzt ein vorsichtiger Kutscher geworden war, sperrte ein Rad, und so ging es langsam den Berg hinab.

»Was blinkt denn da im Tale?« fragte Heinrich im Hinunterfahren. »Blinder Freund!« rief Amalie neckend, »haben Sie das Wasser nicht schon längst erkannt, das da unten fließt?«

»Die Enz!« rief er frohlockend, »wie nah dem Ziele meiner Hoffnungen!«

Stumm vor Freude und Erwartung setzten sie die Reise fort, bis Tony vor den Toren von Vaihingen zum letzten Mal die Rosse anhielt. »Nun sieh zu, Freund,« rief Heinrich, »daß du den Wagen mit guter Art wieder heimgibst.« – Er bat ihn ferner, nach Stuttgart zum Expeditionsrat zu gehen und ihm die Ereignisse dieser Nacht zu erzählen; seine Frau, sollte er ihm melden, sei in Begleitung ihres Schwagers nach dem Vaterhause abgegangen.

Tony versprach, alles treulich zu bestellen. Heinrich umarmte ihn beim Abschied, und Amalie bot ihm dankend die Hand. »Tony,« sagte unser Freund, »du solltest dies unstete Leben verlassen und vielleicht das Land ebenfalls. Die Welt ist weit und man kann manches Mißgeschick darin vertummeln. Es wäre schade um dich. Denk auf was Gescheites, ich will dir stattliche Empfehlungen verschaffen.«

Tony schüttelte den Kopf, während er den Kutschersitz wieder bestieg. »Mit dem Fortfliegen ist`s aus,« sagte er, »die Flügel sind lahm.«

»Und ich weiß doch einen Arzt, der sie wieder heilen könnte,« rief Heinrich. »Sollte so viel Treue und Anhänglichkeit nicht auch ein bißchen Erwiderung verdienen? Oder weißt du nicht einmal, wo sie ist?«

»Die Feddricho?« versetzte Tony zögernd, »die ist wieder in Allerheiligen.« – Er wandte den Wagen und fuhr in die Nacht hinein.

»Der arme Junge!« sagte Heinrich zu Amalien und erzählte ihr, während sie das Städtchen auf der Seite des Schlosses umgingen, von der treuen Liebe des Zigeuners.

»Man muß dem braven hübschen Jungen gut sein,« versetzte sie. »Aber was mein Mann für Augen machen wird, wenn wir ihm einen Zigeuner als heimlichen Botschafter zusenden!«

»Das ist der Witz des Außerordentlichen,« sagte Heinrich, »daß es am Ende auch die regelmäßigen Naturen ergreift, sie mögen sich sträuben, wie sie wollen. Ich möchte die geheime Audienz mit ansehen.«

Sie hatten die schlummernde Stadt im Rücken und gingen durch ein schmales Wiesentälchen, in dessen Mitte ein Bach sanft durch die stillen Schatten hinrauschte. Eine kleine Stunde mochten sie gegangen sein, als Heinrich stehen blieb. »Hier,« rief er, »war es, wo sie mir die ersten Veilchen brach. Arme Blümchen! Sie sind lang verwelkt.«

»Dafür wird sie Ihnen jetzt eine Rose reichen,« sagte Amalie, »die keinem Welken unterworfen ist.«

»In welcher Leere hab` ich mein Leben hingebracht!« klagte er. »Es ist mir, als wär` ich erst gestern weggeritten. Wie viel liegt zwischen diesem Gestern und Heute und ist doch lauter Nichts.«

»Das Heute folgte nicht so schön auf das Gestern,« sagte Amalie, »wenn nicht ein langer trüber Traum dazwischen läge. Wie es mit der Zukunft werden soll, läßt sich freilich nicht voraussagen, aber ihr habt einander wiedergefunden, und das ist die Hauptsache. Irdische Rücksichten, die mir sonst wichtig waren, fechten mich jetzt wenig an. Gott wird für seine Kinder sorgen, die er wunderbar für einander behalten hat.«

»Gute, Holde, Himmlische!« rief Heinrich. »Ihr Vertrauen läßt Sie nicht zu Schanden werden. Sie wissen nur, daß ich frei bin; das andere hätt` ich Ihnen längst sagen sollen, aber ich vergaß es im Wirbel unserer Flucht.«

Er teilte ihr die Neuigkeit seiner Berufung mit, und sie sagte freudig: »So sind meine Wünsche schon im voraus erhört.«

»Lassen Sie uns eilen!« rief er, »ich kann`s nicht mehr erwarten.«

Sie beflügelten ihre Schritte und kamen an das Gartenpförtchen. Es war geschlossen. »Gottlob!« sagte Amalie, »daß der Augenblick, dem ich so froh und so bang entgegensehe, noch ein wenig hinausgeschoben ist. »Mein Vater, o mein Vater!« rief sie und brach in bittere Tränen aus.

Er zog sie sanft auf dem Wege fort. »Sie fühlen sich mit einem höheren, ernsteren Vater versöhnt,« sagte er, »und scheuen sich, vor diesen zu treten? O, wie wird der herrliche Greis voll Liebe und Milde sein!«

Sie mußten einen Umweg durch das Dorf nehmen. Als sie gegen die Kirche einbiegen wollten, sahen sie hinter einem Fenster zur ebenen Erde Licht und hörten Stimmen an der Türe, die soeben geöffnet wurde.

»Gott, das ist des Vaters Stimme!« rief Amalie und zog ihn hinter die Ecke des Nebenhauses, wo sie sich zitternd an ihn anlehnte.

»Geht nur nach Hause, Herr Schulmeister!« hörten sie die klare, freundliche Stimme sagen, »ich werde zur Beruhigung des Kranken noch da bleiben.«

Die Türe wurde wieder zugemacht, und sie sahen einen Mann mit einer Laterne die Gasse hinuntergehen.

»Kommen Sie,« sagte Amalie, »jetzt spricht er dem Kranken Trost ein. Lassen Sie uns am Fenster lauschen, daß ich seine liebe Stimme zuerst von weitem höre und mich so wieder angewöhne.«

Sie traten an das Fenster. Die Spalten des geschlossenen Ladens ließen nur den Lichtschimmer durch, gestatteten aber keinen Blick in die Stube. Doch konnte man jeden Laut vernehmen. Eine Totenstille herrschte, nur zuweilen von einem tiefen Atemzug des Kranken unterbrochen. Endlich sprach die Stimme des alten Pfarrers: »Erleichtert Euch das Herz. Was habt Ihr mir noch zu sagen?«

Ein herzzerschneidendes Ächzen folgte auf diese Anrede, dann hörte man eine tiefe Stimme, die von Zeit zu Zeit in ein Gemurmel heruntersank, abgebrochene Worte ausstoßen: »Ein schweres Geheimnis,« klang es, »das mich nicht sterben läßt. – Ach, und doch will´s nicht über die Lippen!«

»Es ist eine Beichte, die uns nicht anzuhören gebührt,« sagte Heinrich und wollte Amalien fortziehen, als sie nach einem unverständlichen Geflüster einen Schrei des Schreckens vernahmen.

»Das war der Vater!« sagte Amalie angstvoll, »ihm ist etwas geschehen. Brechen Sie die Türe ein!«

Heinrich hielt sie fest an der Hand, denn er hörte den Greis wieder sprechen, aber schwere Worte waren es, die ihn mit Geistergewalt an das Fenster bannten. »Haben Sie's gehört?« sagte er schaudernd.

Amalie schüttelte den Kopf und drückte sich fester an den Laden hin.

Der Kranke nahm wieder das Wort. Seine Stimme klang unserem Freunde bekannt. Er schien sich erholt zu haben und sprach zusammenhängender von seiner Herkunft, seinem Wander- und Jugendleben. Als er aber an den letzten, schweren Rest seiner Mitteilungen kam, schien ihn die innere Bewegung zu überwältigen; er stockte und stammelte und brachte seine Beichte oft wieder so geheimnisvoll flüsternd hervor, daß nur einzelne Sätze vor das Fenster zu den Lauschenden drangen.

»Sie wissen nicht,« hörten sie ihn sagen, »daß auch ich Soldat war. – Es war ein Fluch, der fortgewirkt hat. O wie ist die Hand Gottes so schwer! – Sein Sohn wußte von allem nichts, und doch hat die Rache des Herrn seinen Arm gegen mich bewaffnet. – Ach, und ich war ein junger Bursche, dem man's nicht so hart hätte anrechnen sollen! – Hören Sie!« sprach die Stimme nachdrücklich weiter, aber die folgenden Worte wurden ganz leise geflüstert. Endlich kam es wieder etwas vernehmlicher. »Er wollte den anderen Tag verreisen,« hörten sie sagen. »Ich hatte die Nachtwache – eine Galerie gegen den Schloßgarten hinaus – er begab sich zeitig zur Ruh'« – so tönte es unheimlich in abgebrochenen Sätzen heraus. Dann kamen die Worte wieder lauter und rascher, unter Beklemmungen und Beängstigungen hervorgestoßen. »Alles war still,« sagte er. »Ich stand mit dem Rücken gegen den Garten gekehrt, hatte das Gewehr auf den Boden gestellt und sah einem wunderlichen Schatten nach, der an den Wänden fortlief. Da packt's mich an den Armen, entreißt mir die Waffe, und wie ich aufschaue so sind vier Männer in schwarzen Larven um mich her. Der eine setzt mir ein Messer an den Hals, der andere hält mir einen schweren Beutel vor. ›Keinen Laut!‹ sagten sie, ›du hast die Wahl.‹ – Drei gingen hinein, der vierte blieb, mich zu bewachen. O mein Herr und mein Gott! Ich hätt's verhindern sollen! Was lag an meinem Leben, wenn ich Lärm gemacht hätte! Nicht der Mammon blendete mich, aber die Furcht. O, ich war noch so jung. Und doch hab' ich den Mammon behalten!«

Man konnte deutlich hören, wie sich der Sterbende ächzend im Bette wälzte. »Nach einer Weile,« fuhr er mit matter Stimme fort, »kamen sie wieder heraus. Einem hatte sich die Larve verschoben, ich erkannte ihn –«

»Ich will den Namen nicht wissen!« rief die Stimme des Pfarrers mit Heftigkeit. »Ich will ihn nicht wissen! Nimm ihn mit in die Grube!«

Der Sterbende flüsterte wieder: – »Gleich darauf wurde ich abgelöst,« sagte er. »Auf dem Weg zur Kaserne hört' ich's schon laut werden – laut im Schloß und in der Stadt. Ewige, himmlische Barmherzigkeit! – Er sei am Schlagfluß gestorben!«

Mit diesen abgebrochenen Worten schloß die geheimnisvolle Beichte, auf welche ein tiefer Seufzer des Pfarrers folgte. »Ja, und nachher,« hörten sie seine Stimme sagen, »kam das Gerücht noch viel sonderbarer. O, daß ich weiß, wozu die Religion herhalten muß!«

»Wir haben genug gehört!« rief Heinrich und zog Amalien hastig am Arme fort. »Haben Sies verstanden! Ahnen Sie?«

Sie antwortete nicht, aber ihre stummen Gebärden bejahten es.

»Lassen Sie uns diese schauerliche Bestätigung halbvergessener Gerüchte begraben!« sagte er, »sie ruhe stumm bei den tausend blutigen Geheimnissen, die in Grüften und Archiven modern! Die Tat schläft im Grabe und die Zeit ist längst darüber hingegangen. Welche Entdeckung! Kommen Sie, es drängt mich, dieses traurige Geheimnis an einem treuen, reinen Herzen zu vergessen.«

Dich liebt' ich immer, dich lieb' ich noch heut,
Und werde dich lieben in Ewigkeit!

Uhland.

Die Türe des Pfarrhauses war offen geblieben, als der Vater zu dem nächtlichen Krankenbesuche ging. Die unerwarteten Gäste stiegen leise die Treppe hinauf. Durch die Türe des Wohnzimmers blinkte Licht, und sie traten unhörbar hinein. Da fesselte sie der Anblick des Mädchens, das im Sorgenstuhle des Vaters, mit dem Köpfchen rückwärts auf der Lehne ruhend, schlummerte. Ein Licht stand neben ihr auf dem Tische, und in der herabgesunkenen Hand hielt sie ein Buch, über welchem sie, den Vater erwartend, eingeschlummert war.

»Der Herr gibt's den Seinen im Schlaf,« sagte Amalie leise.

»Still, o still!« flüsterte Heinrich. Ihm war, als könnte die holdselige Erscheinung, die wie auf einem leichten Nachen im Meer des Schlummers dahinschwebte, vor einem lauten Worte schwinden. Er sah und konnte sich nicht satt sehen. Wie voll und schön war sein Mädchen geworden! Welche Hoheit wohnte in diesem unschuldigen Antlitz, das im Schlummer offen vor dem Auge Gottes lag und keine Regung verriet, die sich hätte zu verbergen wünschen müssen. Er blickte auf die blonden Locken, sie waren wirklich etwas dunkler geworden, und von der Stirne zog sich eine leichte Falte zwischen die Augen hinein, die ihm mit einem tiefen Weh durch die Seele schnitt; aber in ihrem ganzen Wesen atmete ein sanfter Friede, welcher Balsam in seine Trauer goß. Der Schmerz hatte in diesem lieblichen Angesichte gewaltet, aber seine Arbeit hatte keine Zerstörung hervorbringen können; eine neue, seelenvollere Schönheit war an die Stelle der einstigen Kindesfröhlichkeit getreten. Selbst die Falte war nicht entstellend; es war mit ihr eine schöne Würde, eine sinnende Wehmut auf diese Stirne hingehaucht. Er hätte sie tausendmal küssen mögen, doch er gönnte der Lieblichen den holden Schlaf.

»Still, o still!« flüsterte Heinrich

Ein Engel aber schien ihr zuzuflüstern, wer in ihrer Nähe sei; eine leichte Röte trat auf ihre Wangen, ihre Brust hob sich höher, und ein himmlisches Lächeln verbreitete sich über ihr Angesicht. Wem konnte es gelten? Sie war ja sein, war noch die Seine.

Da vergaß er alle vergangenen Trübsale und auch das letzte Grausen dieser Nacht. Er konnte sich nicht bezwingen, er zog Amalien in seine Arme und küßte sie mit stürmischer Freude. In diesem Augenblick verriet eine rasche Bewegung und ein leiser Ausruf das Erwachen der Schläferin; sie saß aufgerichtet da und schaute mit starren Blicken auf die beiden Gestalten, die wie Geister ihrer Träume vor ihr schwebten und nun mit ausgestreckten Armen zu ihr hintraten. Ein Freudenschrei rang sich aus ihrer Brust; sie wurde bleich, zwei große Tränen standen in ihren Augen. »Träume ich immer noch?« rief sie.

*

Minute auf Minute war den Liebenden in seligem Rausch vergangen, nur von Amaliens stillfließenden Tränen gezählt, als die Ankunft des Vaters ihre Seelen wieder auf die Erde zurückrief.

Er trat gebeugt herein; sein furchenvolles Angesicht schien frisch geackerte Zeugen des tiefsten Seelenleidens zu tragen. Verwundert sah er auf Lottchen und ihren Freund, da fiel sein Auge von ihnen auf Amalien, die aus der Ecke aufgestanden und zögernd näher getreten war. Er hielt sich die Hand vor die Augen, als wollte er deutlicher sehen. »Amalie! Schmerzenskind!« rief er aus, und sie lag laut weinend zu seinen Füßen. Mit jugendlicher Kraft hob er sie vom Boden und drückte sie lang an seine Brust.

»Vater!« rief sie, »so hätte ich längst kommen sollen!«

»Du konntest nie zu spät kommen,« sagte er und erschöpfte sich in Liebkosungen. Dann trat eine Wolke auf seine Stirne; er schien an etwas Schweres zu denken, das er für einen Augenblick vergessen hatte. Er setzte sich zitternd in seinen Stuhl. »Ich bin sehr müde,« sagte er, »sehr angegriffen. O diese Freude! Komm her, du Trost der Tage, die mir nicht gefallen, daß ich dich in den Armen halte.«

Sie kniete vor ihm nieder und legte das Haupt in seine Hand. Ein unterdrücktes Schluchzen schien ihr den Busen sprengen zu wollen. Der Greis spielte selig mit ihren schwarzen Locken; jetzt erst verriet er, wie sehr sie sein Liebling gewesen war. Und diese Frau, der edelsten Leidenschaften fähig, durch ein tückisches Schicksal in allen Lebenshoffnungen verkümmert, war sie nicht glücklich? Trug dieser einzige Augenblick nicht eine ganze Erdenseligkeit mit wucherischem Segen nach?

»Ich habe meinen Joseph wieder gefunden!« sagte der Vater lächelnd zu Lottchen, die wie ein verklärter Engel zusah, »und mein Benjamin ist ohne Neid im Vaterhause. Nein, meine Kleine grollt nicht ob der lang verhaltenen Liebe, die nun mit einem Male durch alle Schleusen bricht.«

»Sie hat an ihrem eigenen Teil Glück zu zehren,« sagte Amalie durch Tränen lächelnd. Sie erhob sich, und beide Schwestern führten den Freund, der still beiseite gestanden war, dem Vater zu.

»Ist der Trotzkopf wieder da?« rief dieser kindlich froh. »Was will er denn?«

»Ihren Segen, Vater, und Ihre Tochter.«

Der Greis legte seine Hände auf ihre Häupter. »Zum zweiten Male,« sagte er, »füg' ich euch zusammen, zum zweiten Male scheiden soll euch nur der Tod.«

Er schloß den Sohn in die Arme. »Du hast richtig geahnt,« sagte er. »Ich hätte dich nicht auf den unglückseligen Ritt ausschicken sollen. Aber es war Gottes Wille; seine Pflanzen sollen nicht bloß im Sonnenschein reifen. Und bleibst du jetzt bei mir? Ich lasse dich nicht so bald wieder.«

»Vielmehr muß er schleunigst wieder fort!« rief Amalie rasch einfallend und machte Vater und Schwester mit den Begebenheiten des Tages bekannt. Heinrich ergänzte ihre Eröffnungen. Er müsse unverweilt seinen Beruf antreten, sagte er, und habe keine Zeit, die Schwierigkeiten, die durch Tonys hilfreiches Ungestüm noch vermehrt worden seien, von hier aus beizulegen. Auf der nächsten Station jenseits der Grenze werde er dem gräflichen Freunde schreiben, daß er sogleich auf seinen Posten geeilt sei, um alle unangenehmen Folgen dieses Abends abzuschneiden. »Aber, Vater, ohne Lottchen geh' ich keinen Schritt!« setzte er mit entschiedenem Tone hinzu. »Die Welt kann mir nicht ins Herz, aber sie kann mir störend zwischen meine Lebenspläne greifen. Sie hat uns schon einmal getrennt; sie soll es nicht wieder! Und haben Sie nicht selbst gesagt, zum zweiten Male solle nur der Tod uns scheiden? Was auch kommen mag, ich weiche nicht von hier, bis Sie uns verbunden haben.«

Der Alte sah ihm sinnend in das Angesicht. »Dir geschehe dein Wille!« rief er endlich entschieden. »Ihr sollt noch diese Nacht getraut werden und gleich von der Kirche weg abreisen. Sendet nach dem Schulmeister und dem Schulzen, daß die der Trauung als Zeugen beiwohnen. Den ungewöhnlichen Akt will ich beim Konsistorium vertreten.« – Er schritt in großer Bewegung durch das Zimmer.

»So plötzlich?« sagte Lottchen beklommen.

»Wenn es nach der gewöhnlichen Weise ginge,« erwiderte der Alte, »so würde doch auch zuletzt ein Tag kommen, wo du das Vaterhaus verlassen müßtest und deinem Manne folgen.«

Auch Amalie redete der Schwester ermutigend zu, und diese schmiegte sich schüchtern an den Freund.

Heinrich fühlte sich betäubt von dem schnellen Umschwung seiner Schicksale, von der plötzlichen Erfüllung seiner Wünsche. Sein vergangenes Leben zog vor seinem inneren Auge vorüber. Indem er Lottchen im Arme hielt, sah er sich wieder in jene Zeit zurückversetzt, da er den ersten verhängnisvollen Abschied von ihr genommen hatte. Er sah sich wieder reisefertig, zu Pferde, unter dem Fenster des Liebchens halten und sah ihr weißes Tuch zum Abschied flattern. Da tauchte auch eine vergessene Gestalt empor, eine Gestalt, die erst vor kurzem noch auf eine so traurige Weise in seine Erinnerung zurückgerufen worden war. »Vater,« sagte er, »wenn Sie nichts dagegen hätten, so möchte ich bitten, auch jenen Schmied zur Trauung rufen zu lassen. Er könnte vielleicht uns nachher über die Grenze führen.«

Der Greis wandte sich ab und stützte das Haupt auf die Hand. »Der ist nicht mehr zu haben,« sagte er nach einem langen Schweigen, »ich kam soeben von seinem Sterbebette.«

»Großer Gott!« rief Heinrich unbedachtsam, wurde aber von Amalien, die sorgend und zurüstend durch die Zimmer ging, noch zu rechter Zeit am Arm ergriffen und erinnert. Der Schmied also war jener Beichtende gewesen, sein alter Reisebegleiter, der unglückliche Vater unglückseliger Söhne! Er schwieg und sah in einen Knäuel von Verhängnissen hinein, die ihn schaudern machten. Die liebende Genossin, ängstlich an seinen starren Blicken hängend, strich ihm über die Stirne und brachte ihn in die Gegenwart zurück. Er sah sie mit wehmütiger Zärtlichkeit an. In diese Augen mußt du forthin schauen, sagte sein Herz zu ihm, da wird alles verworrene Leid und alle Bangigkeit verschwinden.

Amalie trat mit den gerufenen Zeugen ein. Unser Pilger sah andere Gestalten, jugendlichere, welche die Ämter der alten Bekannten führten. Der greise Pfarrer erhob das kummerschwere Haupt und redete sie an; dann begab sich der stille Hochzeitszug in die Kirche.

Der ehrwürdige Diener derselben, der heute nacht seine Tochter aus den Armen senden sollte, trat festen Schrittes in den Altar. Zwei silberne Leuchter brannten darauf. Das Brautpaar stellte sich vor ihn, etwas rückwärts auf der linken Seite die beiden Männer, auf der rechten Amalie. Es lag eine Feierlichkeit in diesem nächtlichen, sang- und klanglosen Gottesdienst, wie sie nur in den heimlichen Versammlungen des ersten Christentums und verfolgter Konfessionen gefunden werden konnte. Eine tiefe Stille herrschte durch das Gotteshaus.

Da hörte man das rasche Rollen eines Wagens, und alle wandten sich betroffen um. Der Ton entfernte sich auf dem Wege nach der Grenze, und Heinrich, durch dieses Zeichen gemahnt, wünschte mit banger Ungeduld schon ebenfalls dorthin unterwegs zu sein.

Der Vater und Priester begann zu reden und sprach über die Textesworte. »Sie soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne anhangen,« wenige nachdrückliche Worte. Er ermahnte seine Kinder, in der fremden kalten Welt, fern vom Vaterhause, einander alles zu sein, auch durch Leiden sich umso fester aneinanderschließen zu lassen. »Und wenn schwere Ungewitter kommen,« fuhr er fort, »wenn Gott euch zu zürnen scheint, und ihr seid euch keines auffallenden Vergehens bewußt, so vergesset nicht, daß ihr Eltern und Voreltern hattet, die vielleicht ungestraft gesündigt haben. Ich kannte einen frommen Mann, der seine Armut hergab, um die unbezahlten Schulden seines Vaters zu tilgen. Als der letzte saure Groschen abgetragen war, legte er sich zufrieden hin und starb. Da mag es ihm wohl gewesen sein. So auch ihr! Der Herr ist gnädig und sucht die Kinder nicht immer heim um der Väter willen, aber eben darum seid nicht ungestüm in euern Wünschen, verzichtet auf manche Erdenfreuden und helft die alte Schuld des unglücklichen Geschlechts bezahlen. Und wenn euch eine Freude zu Teil wird, so denket wiederum dabei an das Vaterhaus zurück, denkt, daß ein treues Herz, das ihr hier verlassen, sie mit seinem Segen für euch erfleht habe. Ihr geht hinaus in die Welt und werdet mich nicht mehr sehen; aber ich bin, wie ein Höherer, der zu den Seinen sprach, siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.«

Er hielt inne, um seine Bewegung zu unterdrücken; dann verlas er mit fester Stimme die Liturgie und gab die Hände der Liebenden zusammen.

Die Trauung war geendet, und er trat vom Altar herunter, um die Tochter zu umarmen. Sie klammerte sich laut schluchzend an ihn an. Amalie umschlang sie von der anderen Seite.

Eine stumme, lange Umarmung. Der Wagen fuhr an das Kirchentor und schreckte sie auseinander. Die beiden Zeugen, von welchen einer die Neuvermählten über die Grenze führen sollte, verließen die Kirche. Langsam folgte das Paar, durch einen stummen Wink des Greises gemahnt. An der Türe blickte Lottchen zurück; sie sah den Vater, an den Altar gelehnt, in Amaliens Armen und flog auf ihn zu. »Noch einen einzigen Kuß, Vater!« rief sie, »nur einen kleinen Teil, Schwester, laß mir von seiner Liebe!«

Er bog das Haupt nach ihr hin; sie drückte sich an ihn an und war kaum loszureißen.

Amalie winkte zur Abfahrt und reichte den Scheidenden die freigebliebene Hand. Heinrich trug die halb bewußtlose Braut hinaus, der Wagen rollte fort, und Amalie blieb mit dem Vater am Altar zurück.

Wiedersehen in der Heimat

Heimatliche Natur! Wie bist du treu mir geblieben!
Zärtlich pflegend, wie einst, nimmst du den Flüchtling noch auf.
Und die Pfade rötest du mir, es wärmt mich und spielt mir
Um das Auge, wie sonst, Vaterlandssonne! dein Licht.

Hölderlin.

Herbstschüsse knallten vom Neuffen herüber, und die sonnige Heiterkeit der Landschaft war von jener eigentümlichen Färbung gedämpft, die wir eine elegische nennen dürfen, ohne damit bloß die Stimmung anzudeuten, die das Menschenherz der Natur willkürlich aufzudringen liebt; sondern es war jenes leise Weh, das die Mutter der Wesen fühlt, jener Blick der Führung, welchen Himmel und Erde nicht verleugnen können, wenn sie ihre große Abschiedsfeier zusammen begehen. Die Berge der Alb, mit ihren Wäldern im wunderbaren Todesschmucke prangend, sahen auf einen kleinen ländlichen Friedhof herein, wo zwischen Kreuzen und spärlichen Grabsteinen ein Mann in tiefes Sinnen verloren stand. Er blickte auf eines der bescheidenen Denkmale, dessen verschiedene Inschriften seltsam gegeneinander abstachen; denn während die Vorderseite mit einem frommen Bibelspruche geziert war, hatte auf der Rückseite ein ossianischer Klageton Platz gefunden, und sprach von Tagen, die vorüber sind. Der Wanderer lächelte; er dachte an den Kampf, den er einst mit seinem Vormund führte, als es galt, seinen Eltern diesen Grabstein zu setzen; er erinnerte sich, welche Mühe es ihn gekostet hatte, seine damalige Geschmacksrichtung bei einer Inschrift zu behaupten, die freilich besser auf ein Heldenpaar von Morven, als auf einen alten Pfarrer und seine ihm nachgestorbene treue Gattin paßte. Mit ganz anderen Gefühlen las er jetzt die herzlichen Worte auf der Vorderseite; sie versetzten ihn wieder in die Tage der Jugend, der Heimat, und sein ruhiges Auge war von einem Glanz überflogen, der mit dem Ausdruck der Landschaft übereinstimmte.

In tiefes Sinnen verloren betrachtet Heinrich den Grabstein seiner Eltern.

Er erschrak ein wenig, als er zu seinen Füßen eine Stimme vernahm. »Ja, ja!« rief es aus dem Boden herauf, »der Grabstein ist wohl das Anschauen wert; unter dem liegt ein so braver Herr, wie es wenig mehr gibt, und die Frau desgleichen.«

Es war der Totengräber, der eben eine frische Schlafstätte bereitete. Er sah erst eine Weile, nachdem sich der Fremde gegen ihn gekehrt hatte, von seiner Arbeit auf, blickte ihn an, ließ den Spaten fallen, schlug die Hände zusammen und rief: »O Herr mein! Das ist ja unseres alten Pfarrers sein Heinrich, der vor mehr als zehn Jahren das Land verlassen hat!«

Er schwang sich, ein Mann stark in den Sechzigen, mit jugendlicher Leichtigkeit aus der Grube, um dem Ankömmling derb in die Hände zu schlagen. »Wie?« rief dieser, »Ihr kennt mich noch, Meister Totengräber?«

»Das will ich meinen! O, der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten! Das war noch eine Pfarrerin! Gott hab' sie selig! Da war's noch gut, arm und krank sein, solang die im Pfarrhause saß! Und der Herr, in Worten und Werken streng nach der Bibel! Das war ein anderer als der jetzige. – Nun, es ist noch ein junger Herr, ich will ihm gerade nichts Übles nachgesagt haben, aber im Christentum ist er nicht so fest beschlagen, ich glaube er hat's mit dem Kant.«

»Mit dem Kant!« rief der Fremde, laut lachend. »Was wißt Ihr denn von dem?«

»Der ist der Antichrist!« erwiderte der Totengräber, »sonst weiß ich weiter nichts von ihm.«

»Das wär' auch genug! Wer hat Euch denn das gesagt?«

»Der alte Schulmeister, und der weiß es vom alten Spezial, und der ist ja ein Gelehrter.«

»Er scheint sich die Gelehrsamkeit wohlfeil zu machen,« erwiderte der Fremde mit scharfem Ton. »Ich sag' Euch, Mann, der Kant ist ein Mensch, so gut wie wir, und hat weder Hörner noch Pferdefuß.«

»Habt Ihr ihn denn gesehen?« fragte der Totengräber etwas ungläubig.

»Ja, in Königsberg, wohin ich ein paar junge Herren zum Studieren begleitete.«

»Ach du Herr mein!« rief der Totengräber, »am End' ist er gar auch so einer geworden. O Herr, denkt an Euren gottesfürchtigen Vater und bewahret Eure Seele!«

Der Fremde drückte ihm freundlich die Hand und sagte: »Ich habe mich dem Manne, der Euch und dem Schulmeister und dem Spezial ein Dorn im Auge ist, weder verschworen, noch verschrieben; aber ich kann's nicht leiden, wenn man mehr oder weniger als einen Menschen aus ihm macht.«

Der Alte schien sich zu beruhigen. Da der Gottesacker samt dem Kirchlein mitten im Dorfe lag, so schrie er über die niedrige Mauer hinüber, und bald war der Fremde von alten Bekannten umringt. Die Schulzenfrau sagte ihm, er sei recht tüchtig gewachsen, die Schulmeisterin bewunderte seine feine Wäsche, und jedes hatte etwas zu fragen und zu erzählen. Er erfuhr die Annalen des Dorfes seit der Zeit, da er es verlassen, und erzählte dagegen von seiner eigenen Lebensgeschichte, was er sie wissen zu lassen für gut hielt. Er ertrug es freundlich, daß ihm die Absicht, den Gräbern seiner Lieben einen verschwiegenen Besuch zu machen, vereitelt worden war; da man ihm aber auch auf die Länge keine Einsamkeit gönnte, so wollte er sich eben losmachen, als näher denn von den Weinbergen her Schüsse fielen und gleich darauf ein Jagdhorn ertönte.

»Eine Jagd?« fragte er.

»Der Karl Herzog jagt heut in unserem Wald,« sagte die Schulzenfrau.

»Unsere jungen Bursche müssen treiben seit vorgestern,« setzte der Totengräber mit unzufriedener Stimme hinzu.

Der Fremde nahm Abschied von seinen Freunden, die ihn ungern entließen. Er müsse die Jagd und den Herzog sehen, entgegnete er ihren dringenden Einladungen. Während er sich mit eiligen Schritten entfernte, blickten sie ihm nach und redeten zusammen, was nicht alles aus so einem Herrn, den man einst auf dem Arme getragen, werden könne.

*

»Fürwahr, er hat wenig gealtert. Er ist doch in der Mitte der Sechzig und sieht noch ganz aus wie vor elf Jahren, da er mich durch den Park von Hohenheim führte. Schau, wie sein kleines Hütchen noch immer so keck auf dem Haupte sitzt! Und wie er sich straff auf dem Pferde hält! Die blauen Augen blitzen noch von Lebensmut und Lebenslust. Wer nennt mir das Gefühl, das seine Erscheinung einflößt? Ich weiß mich so frei und unabhängig von diesem Herzog wie nur ein Franzose oder ein Engländer, und dennoch schlägt mein Herz bei seinem Anblick, und was er mir zuleide getan hat, ist alles vergessen. Ob er mich wohl noch kennen mag?«

Der Gegenstand dieses stillen Selbstgespräches hielt zu Pferde inmitten seiner Jäger und schoß, obwohl lässiger als ehemals, unter das Wild, das auf einen freien Platz zusammengetrieben worden war. Endlich gab er das zuletzt entladene Gewehr zurück, und nachdem er seinem Gefolge Erlaubnis, zu schießen, erteilt hatte, ließ er einen vergnüglichen Blick über die Zuschauer hinschweifen. Deren war eine beträchtliche Zahl aus den benachbarten Orten versammelt, um ihren Landesherrn zu sehen, mit welchem sie bei solchen Gelegenheiten manches freie Wort wechseln konnten. Sie wurden verstärkt durch eine muntere Knabenschar, die sich trotz alles Warnens und Drohens zweier Lehrer nach und nach zwischen die Schützen einzudrängen wagte. Der Herzog bemerkte dies mit Lächeln und winkte einen von den kleinen Zuschauern, der sich gerade neugierig nach ihm umsah, herbei. Der Knabe stand mit abgezogener Mütze vor ihm und sah ihm gar aufrichtig in die Augen.


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