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Mittlerweile hatte Aurora ein Heftchen hervorgezogen, das sie dem Freunde mit den Worten übergab: »Sie werden, wenn Sie gelesen haben, das natürliche Gefühl billigen, das mich abhielt, meine Beichte mündlich abzulegen. Sie ist in diesen Blättern enthalten. – Und nun,« fügte sie mit feuchten Augen und zitternder Stimme hinzu, »nun lesen Sie, gleich, hier, an meiner Seite! Ich muß dabei sein, damit die Lektüre das ist, was sie sein soll, eine Unterredung zwischen uns, und ohne Qual des Harrens auf die Entscheidung. Lesen Sie, mein Freund, wir gehen beide einer schweren Probe entgegen.«
Heinrich nahm die Blätter zerstreut und bang, aber mit dem Lesen stieg seine Aufmerksamkeit, so daß er seine Gesellschaft, die sich still genug verhielt, bald ganz darüber vergessen hatte. Die Konfession war mit edlen Schriftzügen französisch abgefaßt und lautete im wesentlichen so: »Ich war ein armes Fräulein. Meine Eltern gaben mir eine sehr sorgfältige Erziehung und beschäftigten meine Einsamkeit mit Lektüre. Ich wuchs mit den großen Frauencharakteren der französischen Tragödie auf, und die römischen Lukretien und Virginien waren mir Vorbilder, welche mich für die Märtyrerkrone der Tugend schwärmen machten. Ach, leider war meine Imagination zu hoch gespannt, als daß ihre Gebilde nachher vor den Farbenmischungen der wirklichen Tageswelt hätten bestehen können. Meine Eltern starben fast zu gleicher Zeit, und ich sah mich allein. Mein Schwager nahm mich zu sich in die Hauptstadt, und in seinem Hause war ich nur umso verlassener, die Szenen der Wirklichkeit, von welchen ich so oft geträumt hatte, umbrausten mich hier; sie ließen mich leer und schienen mir nichtiger zu sein als alle meine früheren Träume. Ich verlebte meine Tage in dumpfer Erwartung; das eigentlich Wirkliche, meinte ich immer, werde erst nachfolgen, und jeden Morgen erwachte ich mit einer gewissen Neugier, ob sich nicht jetzt die Leere des äußeren Daseins für mich bevölkern würde. Diese Schilderung verrät es, daß mir die Liebe noch nicht bekannt war. Ich sah achtungswerte junge Männer um mich, aber mein Herz wurde sie nicht gewahr, das, von der Einbildung getragen, hoch über den Wolken wandelte.
»Mein Schwager war einer von den Menschen, die nach Umständen gut oder schlecht sind. Er hätte mich immer als eine arme Verwandte mit Güte behandelt und mich nichts von der Lauheit meines Schicksals fühlen lassen, wenn ich nicht – schön gewesen wäre. Aber meine heranblühende Jugend fiel ihm auf und führte ihn auf ein Projekt, das seinem Ehrgeiz wie seinen Bedürfnissen schmeichelte; denn weder seine Stellung noch sein Einkommen konnte seiner Sucht nach einer glänzenden Rolle genügen. Lang entging mir die vermehrte Rücksicht, die steigende Achtung, mit der er mich behandelte; auch die Andeutungen, die er sich entschlüpfen ließ, gingen spurlos an meinem unbefangenen Ohr vorüber.
»Endlich eines Tages – o, diesen Tag werd' ich nie vergessen! – kam er im Triumph nach Hause, der Fürst, erzählte er, sei sehr gnädig gewesen und habe ihm zugesagt, heute in seinem Abendzirkel zu erscheinen. Das ganze Haus kam in Bewegung und wurde mit Zubereitungen erfüllt; mich aber nahm er beiseite, um mir Vorschriften für mein Verhalten zu geben, und nun ging mir endlich ein Licht auf! Meine erste Empfindung war heftiges Erschrecken; ich warf mich ihm zu Füßen, ich bat, weinte, drohte. Er blieb kalt. Mein Mut, mein Stolz erwachte in seiner ganzen Kraft; ich legte mich zu Bette, und alle Bemühungen des Niederträchtigen, mich in die Gesellschaft zu bringen, scheiterten an meiner Festigkeit. Unglücklicher Heroismus! wie leicht zu beugen, wenn man die Mittel anwendet, welche die Dichter in der Regel nicht zu schildern pflegen. Seine Rache war so wohlberechnet als abscheulich. Der Prinz hatte das Haus unzufrieden verlassen, doch ohne eine Ahnung von meinem Widerwillen zu haben; Gott weiß, was er ihm für Entschuldigungen vorgeschwatzt haben mag. Von nun an behandelte er mich wie eine Magd, und das ganze Haus beeilte sich, in den neuen Ton einzustimmen. Welch ein Gefühl, sich von dem elenden Bedientengeschmeiße, das man sonst fast nur auf den Knien sah, mit Hohn und Verachtung behandelt zu finden, auf einen Befehl keinen Gehorsam, auf eine Bitte ein leeres ›Sogleich!‹ ohne Folge, auf eine Frage keine Antwort zu erhalten. Wenn ich aus Furcht vor unwilligen Blicken, aus Abscheu vor unwürdigen Reden nicht zu Tische kam, so brachte man mir kein Essen aufs Zimmer. Das hätt' ich nun zwar wohl verschmerzen können, aber die Demütigung, die Schmach! und diese eben da erleiden zu müssen, wo man zuvor Ehre und Ansehen genoß! Das wirkt.
»Aber es wirkte noch nicht genug. Man gab mir zu verstehen, eine erwachsene Person habe die Pflicht, für sich selbst zu sorgen, und könne niemand zumuten, sich mit ihr zu belästigen. Der Wink war so gegeben, daß er nicht mißverstanden werden konnte. Ich erwiderte, daß mir nichts übrig bleibe, als betteln, und wenn man sich nicht der Verwandtschaft halber bedenke, so werde ich die Erlaubnis auf der Stelle benützen. Nun wurde diese Saite nicht mehr berührt. Ich hatte keinen Menschen auf der weiten Welt, bei dem ich eine Zuflucht hätte finden oder auch nur suchen können. Ein kleines Gut, worauf sich mein ganzes Erbe beschränkte, war schon zu Lebzeiten meiner Eltern bestritten und wurde bis zum Austrag der Sache von den Gerichten verwaltet. Nicht einmal, was ich in Romanen immer noch als den letzten Trost gefunden hatte, nicht einmal ein alter ehrlicher Diener war im Hause, um mich durch Teilnahme und Zuspruch aufrecht zu erhalten. Ich war allein mit meinem Elend. Wie beneidete ich die armen Spinnerinnen und Nähterinnen, deren glückliche Niedrigkeit ihnen die Mittel gab, sich selbst zu ernähren und von sich selbst abzuhängen! Darauf war meine Erziehung nicht berechnet gewesen.
»Ich begann jetzt ernstlich an die Flucht aus dieser Hölle zu denken, aber ach, wie passend fand ich den Volksausdruck von den Grenzen der Welt! Das Leben ist überall mit Brettern vernagelt, und das, was der jugendlichen Phantasie gar keine Schwierigkeit macht, ja gar nicht in die Augen fällt, das ist das einfach Unmögliche. Nur ein Ausweg war hier zu betreten, und er war mir willkommen. Meine Träume von dem männlichen Ideal nahmen eine andere Richtung, aus dem Helden ward ein Retter, und dieses Bild stand der Menschlichkeit bei weitem näher als jenes; ja ich hätte einem Soldaten, einem Taglöhner meine Hand reichen können. Wenn ich in stiller Nacht meine Pläne machte – o, wer hat je die Gedanken eines Mädchens belauscht! Das Schicksal, die Bestimmung des Weibes hat etwas Unaussprechliches, sich einem anderen Wesen, sich einem Manne ganz und gar zu eigen geben! Kann eine diesen Gedanken denken ohne Erröten, ohne banges Herzklopfen? Und vollends, wenn nicht Liebe diese Hingebung herbeigeführt hat, wenn der Beschluß dasteht als eine kalte Notwendigkeit, noch ohne Gegenstand! Der Preis war hoch, aber ich entschloß mich, ihn zu wagen. Der Gegenstand fand sich, und ich hätte mir kaum einen besseren wünschen können. Es war ein wackerer Mann unter meinem Stande, nicht zur Liebe, aber zur Achtung geschaffen; seinem Charakter war alles zuzutrauen. Ich sah, daß ich ihm nicht gleichgültig sei, und seine Ehrerbietung rechtfertigte mein Entgegenkommen. Schon hatte ich gegründete Hoffnung, durch ihn frei zu werden, und dünkte mich höher als eine Königin. Mein Schwager, so meinte ich, werde in meine Erniedrigung mit lachendem Munde willigen, aber das war nicht seine Absicht! Noch ehe das Verhältnis zu einer Verständigung gediehen war, wußte er den biederen Freund zu entfernen und dieser Maßregel den Schein zu geben, als ob sie von mir selbst ausgegangen wäre. Ein Moment, und er war mir unwiderbringlich verloren! Als meine arglosen Augen aufgingen, war es zu spät. Wenn es wirklich die Höllenstrafen gibt, welche die Kirche lehrt, so kann ich den Verräter manchmal bemitleiden; denn die Tage und Nächte, die ich nach dieser Entdeckung zubrachte, müssen ihm dereinst die härtesten hilflosesten Qualen zuziehen. In der bodenlosen Tiefe meines Elends sah ich den letzten Weg der Rettung vor mir, der mir jäh und schwindelnd aus der ewigen Nacht entgegenwinkte. Ich betrat ihn. Rechne mir, o du endlose Barmherzigkeit, diesen Versuch nach seinem Ausgang an, nicht nach meiner Absicht! Er mißlang, und schaudernd floh ich vom Abgrunde weg, die Religion, die mir streng und warnend an den Pforten der Ewigkeit erschien, führte mich wieder ins Leben zurück.
»Ach, hätte sie mir auch jenen tiefen Halt gegeben, der allein dem Leben einen Wert zu leihen vermag! Wie leicht hätt' ich den Hohn und die Verachtung der Menschen getragen, wie hätt' ich durch unerschütterte Geduld die Schläge des Unglücks, die Pläne der Bosheit gelähmt! Aber ich kannte den Glauben nur durch Überlieferung; ich hatte ihn nie geprüft, und noch jetzt erscheint er mir nur wie ein Instinkt, der mich bei bedeutenden Wendungen meines Geschicks ergreift. Dahin rechne ich auch den Mut, der mich antrieb und in den Stand setzte, für meinen Freund diese Bekenntnisse niederzuschreiben.
»Mein Schwager mochte fühlen, daß der Bogen für jetzt nicht stärker gespannt werden dürfe. Er ließ mich in Ruhe und behandelte mich gleichgültig, doch nicht unfreundlich. Ich hätte dieses so wenig empfunden, als ich jenes empfand, denn auf die gewaltsamste Aufregung war eine dumpfe Versunkenheit gefolgt, und die Tage gingen an mir vorüber wie an den Abgeschiedenen im Reich der Schatten. Doch auch dahin drangen endlich die Gerüchte, die das Land seit einiger Zeit in Bewegung setzten. Die fürstliche Regierung war in immer größeren Zwiespalt mit der Konstitution getreten; Eigenmächtigkeiten gegen die Gesetze, Gewaltschritte gegen einzelne waren geschehen. Eine gärende Unzufriedenheit bemächtigte sich der Gemüter. Schon führten die Stände eine entschiedenere Sprache, und Feindseligkeiten drohten auszubrechen, von welchen man nicht vorhersehen konnte, wie lang sie bloß auf dem Papiere geführt werden würden. Ich hörte von diesen Zuständen ohne Teilnahme, wie mir anfangs schien; aber eh' ich's gewahr wurde, hatten sie meine Seele eingenommen und waren ein Teil meines Denkens geworden. Denn der Mensch hat eine unergründliche Lebenskraft; was ihm auch begegnen mag, er stellt sich immer wieder her. Wenn der Schlag nicht zum Tod oder zum Wahnsinn geführt hat, so ist in irgend einem Punkte seines Wesens ein Lebensfunke zurückgeblieben, und wenn auch noch so klein und schwach, das Fünkchen glimmt fort, wächst, breitet sich aus und belebt die abgestorbenen Teile wieder; nicht lang, so lebt und webt das Individuum und bewegt sich seiner alten Organisation gemäß. Das mußt' ich bald empfinden. Es waren die alten Phantasien eines unbelehrten Heroismus, welche wieder erwachten; die großartigen Gestalten des geliebten Kothurns tauchten wieder vor mir auf, und die tiefe dumpfe Lähmung machte einer Anspannung Platz, die, unnatürlich wie sie war, mich auch jetzt noch einmal alle Grenzen der Wirklichkeit übersehen machte. Ich begann zu glauben, das Geschick habe die große Rolle in meine Hände gelegt, als Friedensengel zwischen dem Regenten und dem Lande aufzutreten; meine Ansprüche an das Leben waren vernichtet, und so wollte ich, aus Beweggründen, die schon manchen Märtyrer geschaffen haben, all mein Glück, ja meine Ehre einer großen Idee zum Opfer bringen, von der Mitwelt verkannt, von der Nachwelt angebetet werden. Ich Arme wußte nicht, daß man für den höchsten Gedanken nicht immer auch die höchsten Akkorde greifen darf; ich ahnte nicht, daß diese Rolle einer viel gewöhnlicheren Seele zu teil werden, daß diese festliche Arbeit einen weit werktäglicheren Gang nehmen sollte.
»Diese Stimmung traf mit erneuerten Versuchen meines Schwagers zusammen und wurde zum Teil durch sie erzeugt; denn auch ihm waren die politischen Konjunkturen, freilich aus ganz anderen Gründen, eine Aufforderung, sein Projekt wieder aufzunehmen. Aus der ersten leisen Andeutung – denn ich hütete mich wohl, ihn von meiner wahren Absicht auch nur etwas ahnen zu lassen – entnahm der verschlagene Kaufmann, daß seine Ware brauchbar zu werden beginne. Es bedurfte keiner weitläufigen Vorbereitungen. Ich wurde eines Abends auf einem Hofball so gestellt, daß der Prinz gerade auf mich zugehen mußte. Er redete mich sehr gnädig an, und nun bat ich vorgeschriebenermaßen um Verwendung in meiner Rechtssache. Diese wurde mit Freuden zugesagt: nur mußten zuvor die Dokumente vorgelegt werden, und dazu bedurfte es natürlich meiner mündlichen Erörterung. Wie es die Umstände doch fügen können, daß ein unerfahrenes Mädchen wichtige juristische Nachweise zu geben vermag!
»Mein Schwager ließ das Eisen nicht kalt werden, und der nächste Tag fand mich schon im Schlosse. Ich wurde in ein freundliches Kabinett geführt. Die halbgeöffnete Seitentüre zeigte mir den Fürsten im Gespräche mit dem berüchtigten, seither gestürzten Günstling. ›Laß sie nur räsonieren,‹ rief er, ›laß sie nur klagen! Ich will noch mit Skorpionen gegen diesen privilegierten Landschaden zu Felde ziehen. Sprengen will ich diese Hemmketten, und wenn auch mein Wagen in donnerndem Sturze bergab müßte.‹
»Der Inhalt der Unterredung war leicht zu erraten, obwohl sie bei meiner Ankunft abgebrochen wurde; denn der Minister, der, als er meiner gewahr wurde, sich alsbald empfahl, sagte; ›Eure Durchlaucht gehen den Weg Cäsars und aller großen Männer‹ – und verschwand, nachdem er mit der Stirne beinahe den Boden berührt hatte.
»›Ah, meine holde Supplikantin!‹ rief der Prinz und eilte auf mich zu, ›tauschen wir die Rollen aus! Nehmen Sie die gebietende Miene an, die Ihnen gebührt. Sie sehen den Demütigsten aller Bittenden vor sich.‹
»›Dann ist dies hier nicht am Platze,‹ versetzte ich, indem ich lächelnd meine Schrift zerriß. ›Aber eine Bitte habe ich doch, gnädigster Herr, eine große, schwere Bitte, und was Sie mir darauf antworten, das wird für unser Verhältnis entscheidend sein.‹
»Nun begann ich mit großem Feuer von den Zuständen des Landes und von der Versöhnung mit seinem Volke als dem Pfande der Übereinstimmung unserer Seelen zu sprechen. Ach, es war ein Meisterstück jugendlicher Beredsamkeit, auf das ich mit Stolz und Beschämung zurücksehe. Ich will es hier nicht wiederholen.
»Er ließ mich ungestört ausreden. Erst hörte er verwundert zu, dann warf er den Kopf in den Nacken und biß sich in die Lippen, ein schneidender Hohn zuckte um seinen Mund, und als ich geendigt hatte, erwiderte er kurz; ›Ich glaubte, Sie wären gekommen, mir etwas anderes zu sagen. Also ohne Umstände; können Sie mich lieben?‹
»›Nein,‹ sagte ich empört.
»›Adieu.‹
»Er ließ mich bis an die Türe gehen und setzte dann hinzu: ›Ich wundere mich, wie schlecht man Sie instruiert hat. Ich bin doch wahrlich nicht der Mann, unter dem eine – daß ich sage, ein Weiberregiment aufkommen kann; ich habe keine Lust, das traurige Beispiel meines Vetters *** *** zu wiederholen.‹
»Ich wandte mich um. ›Sie wissen nicht, wie sehr, wie tief Sie mich kränken!‹ rief ich und brach in einen Strom von Tränen aus.
»Er schien bewegt. ›Beruhigen Sie sich,‹ sagte er und nahm mich bei der Hand: ›ich will ja gern glauben, daß ich Ihnen Unrecht getan habe. Nun gut, gut! es war Ihr Ernst; glauben Sie mir, daß ich diese Gesinnung schätze. Aber überlassen Sie den Männern, was nur Männer verstehen, und mischen Sie sich nicht in solche Dinge; ich weiß schon, was ich zu tun habe. Daß ein so liebliches Kind sein eigenes schönes Element verkennen kann. Ihre Aufgabe ist federleicht: Sie haben nichts als zu lieben, und ob Sie das können oder nicht, das überlegen Sie in einer ruhigeren Stunde.‹
»Er gab mir den Arm und führte mich an die Türe, wo er mich freundlich auf die Stirne küßte.
»Ich kam betäubt nach Hause und ließ mich den ganzen Tag nicht außerhalb meines Zimmers sehen. Ich war in der sonderbarsten Verfassung. Ach, ich liebte ihn! Er hatte mein Herz gewonnen in demselben Augenblick, wo er es so schmerzlich mißverstand. Wie dies kommen konnte, weiß ich nicht zu sagen. Es gibt Ereignisse im inneren Leben, die keine Seelenlehre vollkommen abzuleiten vermag. Seine Liebenswürdigkeit, die Hoheit seines Wesens, meine Demütigung, das Gefühl, daß ich wert gewesen wäre, besser von ihm gekannt zu sein – alles das reicht nicht hin, diese plötzliche wunderbare Erschütterung zu erklären. Genug, ich wußte, daß ich ihn liebte. Es war meine erste Liebe, und mein Herz taumelte zwischen Abscheu und Wonne hin und her. Aber mein Stolz erhob sich gebieterisch über alle anderen Gefühle, und ich beschloß, dieses Geheimnis in der Brust zu begraben, als ein süßes Gift, das mir, ohne Ausweg zehrend, bald den erwünschten Tod bringen sollte.
»Es sollte noch anders kommen. Mein Schwager, der jenen Vorgang nur halb erfuhr und gar nicht verstand, zeigte zu meinem Erstaunen nicht den geringsten Verdruß, er glaubte das Eis nun einmal gebrochen und hielt das kleine Mißverständnis nur für eine vorübergehende Störung. Auch als er seine Täuschung einsah, beharrte er in seiner verdachterregenden Freundlichkeit und schien seinen Plan völlig aufgegeben zu haben. Bald genug zeigte es sich, welchen wohlangelegten Schlag er bis zuletzt aufgespart hatte. Ein Freier trat plötzlich auf, der widrigste und verhaßteste von außen und von innen, der mir in der ganzen Welt hätte begegnen können. Schon längst, bei gleichgültiger Bekanntschaft, war er mir zuwider gewesen, und mit welchem Haß und Ekel ich ihn jetzt empfing, brauche ich nicht zu sagen. Desto entzückter schien mein Schwager über diese Partie, welche mich über meinen Rang erhob und mir einen ehrenvollen Schutz gegen jede Nachstellung, jede schmähliche Notwendigkeit versprach. Je mehr es ihm Ernst mit diesem Zureden zu sein schien, umso höher stieg meine Verzweiflung. Jetzt hatte ich alle Ansprüche auf seine Hilfe verloren, jetzt hatte er das Recht wieder, die alte Litanei von Belästigung, von unbilligen Ansprüchen anzustimmen, und er machte einen grausamen Gebrauch von seinem Rechte. Alles drängte mich zu der Heirat, die ich verabscheute; mußte ich sie ja noch für ein Glück halten, denn – mein guter Ruf war schon verloren! Die Welt wußte nur eine Deutung für jenen Besuch im Schlosse, und das war ihr nicht zu verargen. Zwar konnte mir dieses Gerücht in den höfischen Kreisen nicht eben sonderlich schaden, aber der freie Adel dachte nicht durchgängig so, und auch meine bürgerlichen Bekannten zogen sich zum Teil mit stiller Verachtung, mit vorsichtigem Widerwillen von mir zurück. Ich war von der ganzen Gegenwart abgeschnitten, und die Zukunft lag pestartig vor mir. Meine Lage war jetzt ganz das Gegenteil von jener früheren; hatte ich damals in einer Heirat meine Rettung gesucht, so suchte ich jetzt Rettung vor der Heirat in – Erlassen Sie mir eine weitläufige Schilderung!
»Wenn ich heute auf jene Zeit zurücksehe und meine Gefühle, meine Leiden von damals abwäge, so möchte ich behaupten, der Schritt wäre mir leichter geworden, wenn ich den Fürsten nicht geliebt hätte. – Da ich mit diesen Worten etwas Paradoxes gesagt habe, so will ich sie ohne weitere Erörterung stehen lassen.
»Meinem Schwager übrigens war das ganz gleichgültig. Er hatte seinen Zweck erreicht und triumphierte, aber ganz im stillen. Ja, so weit wußte er die Verstellung zu treiben, daß ich fast das erste Wort auszusprechen genötigt war; wenigstens gab er einem Seufzer, einem halben Ausruf diese Deutung und stellte sich an, als ob er sehr erstaunt darüber wäre. Mit kaltem Lächeln ließ er mir die Wahl, und ich – ich wählte! Festen Mutes, aber mit wankender Stimme gab ich meine Erklärung ab. Er versprach, die ehrenvollsten Maßregeln einzuleiten, die ich ihm unbekümmert überließ; auch hielt er, nach seinen Begriffen von Ehre, vollkommen Wort. Schon am folgenden Tage kam er sehr vergnügt und sagte, er bringe mir einen Gemahl, den bequemsten, lenksamsten, den ich mir wünschen könne. Diese Nachricht setzte mich in neue Verwirrung; ich war aber sogleich aufgeklärt, als er den Ehekontrakt hervorzog, worin dieser Gemahl sich anheischig machte, mich gleich nach der Trauung zu verlassen, niemals auf meinen Besitz Anspruch zu machen und die Residenz, ja das Land ohne meine Erlaubnis nicht zu betreten. Ich geriet nicht einmal in Erstaunen, als ich den Namen meines verhaßten Freiers las – denn dieser war es – und nun dahinter kam, daß alles eine längst abgekartete Sache sei; die Entdeckung war ohne Wert für mich, und mit stumpfer Ruhe unterzeichnete ich den Kontrakt, den mein Schwager wieder zu sich nahm, um mich ganz in seiner Gewalt zu haben. Er hatte mich, wie ich nachher erfuhr, sehr teuer verkauft. Den ansehnlichsten Teil der Rente behielt er für sich, mit der Verpflichtung, für meinen standesgemäßen Unterhalt zu sorgen; um eine schöne Abfindungssumme hatte mein Amphitryo seinen Namen feil getragen, und ein bescheidenes Nadelgeld blieb dem abgehetzten Opfer dieser Kabale.
»Die unheilige Zeremonie wurde bei Nacht begangen. Ich darf mir das Zeugnis geben, daß ich den Altar nicht beleidigt habe; eine tiefe Betäubung, die mich nichts hören noch sehen ließ, ersparte mir diese Schuld. Auch habe ich auf die Frage des Priesters nichts geantwortet, man nahm es nicht so genau. Ein bereitstehender Wagen entführte den Bräutigam auf Nimmerwiedersehen; er begab sich nach dem Haag, das er später mit Paris verwechselt hat. Ein anderer Wagen wartete an der entgegengesetzten Kirchentüre auf mich, um mich nach Hofe zu bringen. Ich nahm mich zusammen, denn nun begann meine Rolle.
»So gewöhnlich endete ein Geschick, das einer rühmlicheren Lösung vielleicht nicht unwert gewesen wäre. Ich bin am Schluß und kann das übrige kurz zusammenfassen. Meine Herrlichkeit dauerte nicht viel länger, als mir jeder Eingeweihte hätte voraussagen können. Der geistreiche, vielerfahrene Prinz achtete die Frauen nicht und hatte wenig Grund, sie zu achten; die Männer wie die Frauen lieben eigentlich nur einmal, und in der Regel ist die erste Liebe eine Täuschung, die über das ganze Leben entscheidet. Wenn die Liebe jener Zeiten, von welchen uns die Dichter erzählen, keine Fabel ist, so muß sie einen eigenen Gott gehabt haben, der die Führung der Glücklichen übernahm, der aber seitdem sein Szepter niedergelegt hat. Ich habe mich viel umgesehen in den Geheimnissen der großen und kleinen Welt, und mancher Schleier hat sich mir gelüftet, ich entdeckte überall wenig Glück, und auch dieses wenige ließ mich zweifelhaft, ob es nicht ein Schein sei, über den die erste gründliche Probe richten würde. Lächeln Sie über diese Reflexionen! Ich wollte es der ganzen Menschheit gönnen, wenn sich nur mein eigenes und einzelnes Schicksal in denselben abspiegelte. – Aber auch unsere Freundschaft ist vielleicht nur ein Schein.
»Ich selbst besaß zu wenig Elastizität, um meine Eigentümlichkeiten zu verleugnen; ich ahnte nicht einmal, wie notwendig die sei. Die Liebe bedarf solcher persönlicher Wahrzeichen, sie braucht sie als die Gefäße eines verklärenden Kultus. Ach, die Liebe freilich! Aber ich war nicht geliebt. Ich fluchte ihm nicht, als ich wieder vom Schauplatz abtrat, ich hatte ihm früher geflucht; seit ich aber einsah, daß er die geringste Schuld an meinem Unglück trug, daß er nur wählen durfte unter den Opfern, die ihm freiwillig dargebracht wurden, suchte ich und suche noch heute jenen Fluch durch tägliche Gebete und Segenswünsche zu vertilgen.
»Die letzten Tage meiner sinkenden Macht benützte ich noch, um meinem Schwager zu vergelten. Es bedurfte keiner Erfindung, um ein ansehnliches Sündenregister zusammenzustellen. Sein Sturz brachte mich wieder in den Besitz jenes wichtigen Dokuments, und er lebt jetzt in einer entfernten Stadt von meinen Almosen. Und ich! – um mein ganzes Lebensglück betrogen, umgeben von einem leeren Menschenschwarm, den mein Rang, mein Reichtum und mein nie ganz erloschenes Ansehen um mich versammelt hat, setzte ich bis jetzt ein trauriges Dasein fort. Die Ideale meiner Jugend hab' ich weggeworfen; an ihre Stelle ist eine kalte Lebensansicht getreten, die, genau betrachtet, gar keine Grundlage hat. Ich mache mir kein Gewissen daraus, meinen wohlfeil und doch so sauer erworbenen Reichtum zu genießen, er bietet mir die tausend kleinen Surrogate der Glückseligkeit, und während er sonst seinen nach wahrhaft menschlichen Zwecken so schwer zu berechnenden Weg durch die Kanäle des gesellschaftlichen Verkehrs gegangen wäre, setzt er mich nun in den Stand, unmittelbar an Ort und Stelle der Menschheit die Hand zu bieten, zu erfreuen, zu lindern, zu trösten, und unermüdlich in dieser Beschäftigung, erlange ich in ihr das einzige Gefühl, das mit dem Glück verglichen werden kann.
»Längst hatt' ich auf alles andere verzichtet. Und nun sollte mir noch ein Spätsommer der Freundschaft, ein Schimmer der Jugend zu teil werden, reicher, als ich ihn je verlangt, ja, ich will es offen sagen, schöner als ich ihn verdient habe. Ich mag mir nicht mit eitlen Hoffnungen schmeicheln, es ist einer von den kurzen späten Tagen, wo eine flüchtige Frühlingserinnerung von der heraneilenden Nacht verschlungen wird, und, ich fühle es, diese Entdeckungen haben ihn noch schneller hinabgeführt. Ich begehre es nicht zu ändern. Mit bescheidenem Dank hab' ich ihn genossen, den vorübergehenden schönen Lohn, den mir ein nicht ganz ungütiges Schicksal für meine früheren Leiden zugedacht. Mag auch diese Aufrichtigkeit mir verderblich sein, ich war sie meinem Charakter, ich war sie der Arglosigkeit meines Freundes schuldig, und wenn er hinfort scheu vor meiner Begegnung zurückweicht, der letzte Akt meiner Freundschaft, ich weiß es, die Art, wie ich seine Achtung verlor, wird mir einen Teil dieser Achtung erhalten.« –
Hier schlossen die Bekenntnisse der unglücklichen Frau. Heinrich hatte sie tief bewegt gelesen und war mit einer schwer zu beschreibenden peinlichen Verwirrung am Schlusse angelangt. Er schien noch immer zu lesen, während rastlose Gedanken sich in seiner Seele stritten. Zuerst schien es ihn zu drängen, ihre Hand zu fassen, sie seiner Achtung, seiner unverbrüchlichen Freundschaft zu versichern, aber – es handelte sich um mehr als das! Wollte er alle Folgerungen dieser sophistischen Freundschaft mit unterschreiben? Er fühlte sein Herz zugeschlossen, die aufkeimende sonderbare Neigung, von einer so reinen Nebenbuhlerin berührt, von einer so schweren Beichte niedergedrückt, war verdorrt, verschwunden, und eine öde leere Empfindung nahm ihre Stelle ein. Wäre eine so beispiellose Offenherzigkeit einer weiblichen Seele nicht einer völligen Absolution würdig gewesen? Er gestand es zu, aber die einzige Lossprechung, die hier genügen könnte, die Absolution der Liebe, war ihm versagt, und so mußte er sie wieder versagen. Diese herbe Enttäuschung führte ihn auf hundert Gedanken, deren jeder ein Todesurteil war; sie machte ihn streng gegen die Sophismen, die er leicht von den Zwangsmitteln der Not unterschied; sie machte ihn streng gegen den Genuß von Schätzen, die ein echter Stolz weggeworfen hätte, statt sie einem schwer in Anspruch genommenen Lande zu entziehen; sie erinnerte ihn an die öffentliche Meinung, die er keine Ursache hatte, gering zu schätzen, denn er besaß Freunde, deren Achtung sein Leben schmückte, und dies gab den letzten Stoß! Nun fiel ihm auf einmal bei, daß diese Frau ihn vor den Augen des Volkes, vor den Augen der einstigen Geliebten durch die Straßen der Stadt geführt hatte, und er glaubte einen Kunstgriff hierin zu sehen, der ihm die weiteren Schritte dadurch erleichtern wollte, daß der erste einmal unwiderruflich geschehen war. Er hatte vielleicht Unrecht, aber das menschliche Herz, zumal das Herz einer Frau, selbst einer so aufrichtigen, hat Falten, von welchen es oft selbst nichts zu wissen scheint. Eine stille Bitterkeit stieg in ihm auf, gegen alle Welt, gegen sich selbst, den unbedachtsamen Nachtwandler im hellen Sonnenlichte, am meisten aber gegen die schöne Frau, die doch vielleicht eine andere Wirkung von ihrer Konfession erwartet haben mochte. Er legte die Blätter nebenhin und sah stumm vor sich nieder.
Aurora, welche jeder seiner Bewegungen mit haftenden Augen gefolgt war, sank mit einem tiefen Seufzer in die Ecke des Wagens und verhüllte das Gesicht. Keines von beiden sprach ein Wort mehr. Der Kutscher, der sich mehrmals umgesehen hatte, fuhr langsam nach der Stadt zurück.
Der Wagen hielt vor einem erleuchteten Gebäude; Heinrich erhob sich; Aurora machte eine unverständliche Gebärde; er ergriff ihre Hand, hielt sie lang, ungewiß, was er sagen sollte, und stürzte dann plötzlich hinaus. Mechanisch folgte er dem Menschengedränge, das nach dem erhellten Hause strömte, und erst drinnen ward er gewahr, daß er sich im Theater befinde. Unwillig wollte er zurück, obgleich er eigentlich nicht wußte, wie er die nächsten Stunden zubringen sollte, als auf einmal das Zauberwort »Emilia Galotti«, das er von einem der Mitdrängenden hörte, ihn vorwärts trieb, es paßte wunderbar zu seinen heutigen Erlebnissen.
Das Trauerspiel hatte schon begonnen, als sich die Türen hinter ihm schlossen. Er war eine Weile aufmerksam, sank aber bald in einen Strudel von zerstreuten Gedanken zurück. In den Zwischenakten hörte er bang und verwirrt auf die Reden der Nachbarn, ohne doch einen Sinn davon aufzufassen. Zuletzt vernahm er von Bühne und Parterre nichts mehr als ein Schwirren, Rauschen und Sprechen, dem er sich zu entreißen nicht die Kraft hatte; er stand wie gebannt bis zu Ende, und das Stück blieb ihm so fremd, als ob es in einer unbekannten Sprache gespielt worden wäre.
Der Vorhang fiel, das Publikum erhob sich, und dieses Geräusch brachte ihn zu sich selbst. Indem er sich zum Fortgehen anschickte, wagte er einen schüchternen Blick nach der Galerie zu werfen, ob Aurora wohl zugegen sei. Sie war nicht da, aber in der Loge nebenan sah er wiederum – Lottchen! und zwar in der Gesellschaft jenes jungen Edelmannes, den er früher im Hause ihres Schwagers kennen gelernt hatte.
Der Baron war eben beschäftigt, ihr den Mantel umzulegen, und tat dies mit jener Vertraulichkeit, die oft so viel sagt und so wenig bedeutet. Auch das noch! Unser Freund, dem alle Furien im Nacken saßen, machte, daß er hinauskam. Draußen blieb er in einem Menschenknäuel stecken, was den sonst gemäßigten und duldsamen jungen Mann fast unsinnig machte; aber er mußte ausharren, und die Püffe und Stöße, die er den unschuldigen Nachbarn in seiner Wut austeilte, wurden ihm mit Wucher zurückgegeben. In diesem Gedränge wurde er ganz nach hinten getrieben und war der letzte, der ins Freie kam. Die Wagen waren schon alle abgefahren; nur einer stand noch da, an welchem Heinrich vorüber mußte, und zum dritten Mal war es Lottchen, die ihm sein böser Genius zeigte. Sie stieg eben ein, von dem Baron unterstützt, der ihr sodann folgte. Der Kutscher hieb auf die Pferde, und in donnerndem Trabe flog der Wagen davon, aber nicht nach dem Hause, wo Lottchen wohnte, sondern nach einer ganz anderen Seite. Heinrich eilte unwillkürlich nach und sah noch, wie der Wagen zum Tor hinausfuhr, und hörte, wie der Lärm der Räder in nächtlicher Ferne nach und nach verhallte. Ein kaltes Kopfnicken sandte er nach; dann preßte er mit den Händen das Herz zusammen, um nicht laut zu stöhnen; aber unaufhaltsame Tränen stürzten ihm aus den Augen.
Hätte er gewußt, welchen Bedrängnissen das unschuldige, liebliche Mädchen entgegenfuhr, wie hätte er alle Kräfte angestrengt, um den Wagen aufzuhalten und sie in die Arme zu nehmen, nach welchen ihre stille Sehnsucht begehrte! – Er wußte es nicht, und nachdem er seinen Tränen zornigen Einhalt getan hatte, ging er, betäubt von so vielen Schlägen, fast gedankenlos hinweg; nur ein unartikulierter Laut verriet zuweilen, wie das unbegreifliche Ereignis in ihm wühlte.
O Vierge Marie,
Pou moi priez Dieu!
Französisches Volkslied.
Ja, es war wirklich Lottchen, das blonde Pfarrtöchterlein von Illingen, das er heute am Fenster, im Theater und zuletzt im Wagen gesehen hatte! Das gute Kind war der Einförmigkeit des väterlichen Hauses, die sie doch früher nie empfunden, und einem heimlich nagenden Gram entflohen; wenigstens glaubte sie dies zu erreichen, als sie dem guten Vater die Erlaubnis abschmeichelte, eine Woche bei der lang entbehrten Schwester zubringen zu dürfen. Es war nicht ihr einziger Wunsch, sie trug noch einen anderen im Herzen, den sie aber dem Vater wie der Schwester sorgfältig verbarg. Nach langem Harren und manchem vergeblichem Blick aus dem Fenster wurde ihr endlich dieser Wunsch, ach, auf eine grausame Weise, gewährt. Sie sah den Mann, an dem ihre Seele hing, mit einer anderen vorüberfahren, und, als ob es an diesem Schmerz nicht genug gewesen wäre, sie mußte auch noch an ihm irre werden; denn das, was ihm seit Wochen ein Geheimnis war, das hatte das Mädchen, hierin der weiblichen Natur keineswegs ungetreu, schon während eines fünftägigen Aufenthalts erfahren. Dieser eine Blick war genügend, ihr jeden Wunsch eines nochmaligen Zusammentreffens zu benehmen und das Heimweh zu steigern, das seit dem ersten Tage ihres Hierseins in ihrem Herzen eingezogen war.
Sie mußte es bitter bereuen, daß sie auch nur auf kurze Zeit die friedliche harmlose Heimat verlassen hatte, wo alles klar und eben war. Hier war es nicht so; sie konnte nicht heimisch werden. Schon fünf Tage war sie in diesem Hause und wußte immer noch nicht, wie sie dran sei. Ihr Schwager beharrte in seiner rücksichtsvollen Höflichkeit, aber die Ehrenbezeugungen, womit er sie überhäufte, waren ohne Wert für sie, weil ohne Wärme, ja sie wurden dem ungewohnten Kinde lästig; die schweigsamen Spielpartien, die nach vornehmer Art fast jeden Nachmittag stattfanden, waren ihr fremd und langweilig, und ihre Schwester behielt ein unheimliches rätselhaftes Wesen, aus welchem sie auf keine Weise herauszutreiben war. Jeder Blick, jedes Wort der Liebe prallte von diesem Felsen zurück. Wenn man nur einigermaßen darüber klar gewesen wäre, auf welchem Fuße man mit ihr stehe! Aber der Expeditionsrat schien es selbst nicht zu wissen; auch schien er kein Organ für diese Rechnungsart zu besitzen. Das arme Lottchen mochte ihr zuliebe tun und reden, was sie wollte, sie wußte nachher niemals, ob sie's ihr zu Danke gemacht oder ob sie angestoßen habe. Ein kleines Versehen, das dem guten Kind auf dem glatten Boden der Gesellschaft widerfahren konnte, wurde ebenso aufgenommen wie die freundlichste liebevollste Hingebung. Sie verzweifelte nach und nach, und als sie den Freund auf jener verhängnisvollen Spazierfahrt gesehen, so fehlte wenig, daß sie zum Zimmer und Haus hinaus und atemlos bis in die Heimat gelaufen wäre. Aber eine Zusage band sie: es stand ihr noch eine unwillkommene Ehre für den Abend bevor.
Der Baron war noch immer der unermüdliche Hausfreund. Er hing an Amalien mit einer beharrlichen Ausdauer, welche ihm durch nichts belohnt wurde. Es war, als ob er auf keine Weise davon abzubringen wäre, die Naturgeschichte dieses seltsamen Geschöpfes zu studieren, und so schien er, im Widerspruch mit der Leichtigkeit seines geistigen Gewichtes, doch auf der anderen Seite wieder jenen grundfleißigen Forschern zu gleichen, die ihre undankbaren Bemühungen den starren Hieroglyphen zugewendet haben. Lottchens frischer Jugendreiz brachte einige Verwirrung in diese Studien, und er wußte sehr gewandt zwischen beiden Schwestern seine Huldigungen zu verteilen, welche von Amalien mit unverändertem Gleichmut, von Lottchen aber mit verlegener Freundlichkeit aufgenommen wurden. Auch hier stand das arme Mädchen wieder auf einem unbekannten und unsicheren Boden: ein reines Gemüt, offen wie Gottes blauer Himmel und allen Künstlichkeiten fremd, wußte sie Konvenienz und Herzlichkeit wenig zu unterscheiden. Eine Sprache, die so innig schien, mußte doch, so kam es ihr vor, von Herzen gehen, und dieses Herz verdiente doch einige Anerkennung. Es schmeichelte vielleicht nicht einmal ihrer Eitelkeit – oder, wenn dies unmöglich scheinen sollte, so blieb dieselbe doch sehr im Hintergrunde – daß ein Mann, dessen Äußeres keineswegs zu übersehen war, daß ein Edelmann sie solcher Auszeichnung würdigte; nein, ihrer redlichen Seele war dieses Hingeben eine Schuld, die sie nicht unabgetragen lassen konnte. Allzu schlicht erzogen, wußte sie nichts von dem weiblichen Königsrechte, sich durch keine Unterwerfung bestechen, durch kein Opfer irgendwie verpflichten zu lassen. So war sie, die alles anders nahm und alles anders gab, nach und nach in ein Netz von kleinen, unwillkürlichen Zugeständnissen verstrickt worden, das, als sie es endlich mit Schrecken bemerkte, ihr den hiesigen Aufenthalt noch unheimlicher machte. Denn in diesem Punkte war der junge Mann nichts weniger als verwahrlost; mit hinreichender Feinheit verstand er sich dieser Zugeständnisse zu bemächtigen und dabei fühlbar zu machen, daß es solche seien; rasch wußte er kleine Blößen der Gutherzigkeit zu benutzen und immer neue Folgerungen darauf zu bauen, welche, wenn einmal jene zugegeben waren, nicht mehr mit rechtskräftigen Gründen abgewiesen werden konnten. Wenn aber seine schöne Beute die Tyrannei dieser Folgerungen empfand und das Netz zu zerreißen drohte, so ließ er wieder Züge sehen, die er recht eigentlich ihrem Herzen abgelauscht hatte, und die alle Gegenwehr dieser Güte und Unschuld wieder auf einige Zeit entwaffnen mußten. Eine solche Diversion war die Einladung zum heutigen Trauerspiel, wobei er ein doppeltes Opfer brachte, ein Opfer des Geschmacks und des Standes, und die von den beiden Frauen angenommen worden war, von Amalien der Ehre wegen, die sie nicht zu verschmähen schien, von ihrer Schwester aus Anteil an der Dichtung, die sie einst von einem geliebten Munde hatte loben hören, und mit einer daran geknüpften Hoffnung, die sie nun seit ihrem unerwarteten und unerwünschten Eintreffen mit heimlichem Jammer von sich stieß.
So vergingen die Stunden bis zum Abend in traurigem Stillschweigen. An Amalien war seit jenem Anblick, den sie mit Lottchen zusammen gehabt, eine eisige Kälte fühlbar, um deren Ursache das Mädchen nicht fragen mochte, wenn sie auch Zeit dazu gefunden hätte, vor der Bemühung ihr leise weinendes Herz zur Ruhe zu bringen. Nun ergab sich aber eine unvorhergesehene Verwicklung. Der Expeditionsrat kam nach Hause, über Frost und Hitze klagend, und obgleich er wenig aus seiner Unpäßlichkeit machte, so mußte er sich doch zu Bette legen. Amalie war also genötigt, seiner Pflege wegen zu Hause zu bleiben. Lottchen fügte sich gern in dieses Hindernis, ja, es war ihr, soweit sie die Krankheit als ungefährlich betrachten konnte, sogar willkommen, denn sie hatte nun alle Lust zum Theater verloren. Sie äußerte gegen Amalien ihre Bedenklichkeit, allein hinzugehen. Möglich, daß es dieser mißfiel, eine Verzichtung, die sich von selbst verstehen sollte, in eine bloße Bedenklichkeit verwandelt zu sehen; aber durch ihre niederschlagende Art, alle Anreden aufzunehmen, hatte sie das arme Mädchen schüchtern gemacht, irgend etwas, und wär' es auch das Notwendigste und Vernünftigste gewesen, geradezu vorzubringen. Genug, sie gab eine lakonische Erwiderung, welche eher so zu deuten war, als mißbillige sie es, daß Lottchen ihre Zusage zurücknehme.
»Aber ich sollte doch zu Hause bleiben, um dir an die Hand zu gehen,« sagte Lottchen, die gar zu gern einen Grund gehabt hätte, mit ihrem Herzen ungestört zu sein.
»Ich brauche niemanden, das darf dich nicht abhalten,« versetzte Amalie mit jener tonlosen Gleichgültigkeit, der es unmöglich ist, ihren wahren Sinn abzugewinnen.
In diesem Augenblick der Ratlosigkeit hörte man einen Wagen vorfahren. »Gott, es ist der Baron!« rief Lottchen, die ans Fenster gesprungen war; »er kommt mit dem Wagen!«
»So?« sagte Amalie trocken.
»Sprich, Schwester, was soll ich tun?«
»Das steht dir frei, das ist deine Sache,« versetzte jene; »nur wünsche ich nicht, daß du meinetwegen zu Hause bleibest.«
So abgewiesen, ging Lottchen halb trotzig, halb gehorsam auf ihr Zimmer, um den angefangenen Anzug zu vollenden.
Der Baron konnte, so sehr er Meister seiner Mienen war, doch kaum seine Freude verbergen, als er hörte, daß er mit dem Mädchen allein sein sollte. Hätte Amalie von Anfang an schärfer zugesehen, hätte sie ihm nicht so oft während ihrer Spielpartien freie Hand gelassen, gewiß, sie wäre vorsichtiger und wachsamer gewesen.
Lottchen kam und sagte mit einer Verstimmtheit, die ihrer Schwester zu spät auffiel, »guten Abend«, der Wagen fuhr ab, und nach einigen Augenblicken saß sie an der Seite ihres vornehmen Beschützers in der Loge. Gepeinigt von den Schmerzen um ihren Freund, verlegen unter den vielen fremden Gesichtern, die sich nach ihr umsahen, gedrückt unter den vielen geputzten Gestalten, wußte sie seine Galanterien kaum zu erwidern. Der Vorhang ging auf, und das Drama beschäftigte sie eine Weile, aber die haarscharfen Schrauben und Spitzen des Dialogs drangen ihr nicht ins Herz, und als ihr bei einer zufälligen Wendung Heinrich ins Auge fiel, war sie für die übrige Fabel so gut wie verloren. Er sah verstört aus und stand starr wie eine Bildsäule. Sie sah ihm genauer ins Antlitz; seine Augen gingen nicht auf die Bühne, sie gingen nirgends hin. Was mochte er haben? Diese Frage beschäftigte sie während des ganzen Stücks, und sie hatte Mühe, in den Zwischenakten ihrem Begleiter die schickliche Aufmerksamkeit zu erweisen. Destomehr nahm diesen das deutsche Trauerspiel in Anspruch, zu dem er mit so geringen Erwartungen gekommen war. Es schien ihm, als ob hier seine eigene Angelegenheit verhandelt würde, und mit ungemeiner Spannung folgte er den Intrigen des schlauen Ministers, dessen rasche Geistesgegenwart er bewunderte, während er dachte, der Dichter hätte nicht nötig gehabt, ihn so schlecht zu machen. Ein verwegener, wahnsinniger Gedanke stieg in ihm auf, den er immer wieder zu unterdrücken suchte; aber es war, als ob Marinelli ihm alle Zweifel wegscherze, er konnte nicht widerstehen, und wie verzaubert oder trunken stand er endlich auf, um draußen seinen Bedienten zu rufen und zu unterrichten. Selten wohl hat eine Dichtung so toll, so verkehrt gewirkt! Er sprach mit dem Bedienten, schickte ihn zum Wagen und ließ den Kutscher kommen, gab diesem ausführliche Befehle, war zwei halbe Akte abwesend, und als er zurückkam, hörte er eben, wie Emilia von ihrem jugendlichen warmen Blute sprach; mit einem leichten Lächeln wandte er sich zu seiner Nachbarin, aber diese sah ins Parterre und hatte nicht acht gegeben. Er ließ sie gewähren und dachte über seinen Plan nach. Nun wollte ihm doch bang werden, aber er mochte den Schritt nicht widerrufen, er fürchtete sich vor dem unterdrückten Spotte seiner Dienerschaft. Lottchen indessen hing mit unverwandten Blicken an ihrem Freunde; sie konnte sich nicht satt sehen. Er war schöner, voller geworden, seine Haltung hatte etwas Feineres als sonst; ach! da fiel ihr ein, in welchem Umgang er sich dies erworben habe, und ein Seufzer dehnte ihr die Brust bis zum Zerspringen aus.
Das Stück war zu Ende, ihr Beschützer legte ihr den Mantel so langsam als möglich um, und sie verließen die Loge. »Das Stück hat im ganzen ziemlich kurz gedauert,« sagte er draußen und wollte nach der Uhr sehen. Ciel! er hatte sie verloren. Er rief laut und lang, daß alle Vorübergehenden es hörten, nach seinem Bedienten und schalt, als dieser nicht kam, mit gut gespieltem Grimm auf den armen Teufel, der schon seit einer Viertelstunde im Galopp voraus war. Das gute Landmädchen, besorgt um die kostbare Uhr, die sie noch vor kurzer Zeit gesehen hatte, erbot sich, ihm suchen zu helfen. Sie suchten in der Loge und im Gang, und fanden nichts. Inzwischen hatte sich das Publikum fast verloren, der Baron machte sie selbst darauf aufmerksam und ergab sich mit gezwungenem Lächeln in sein Schicksal. »Was ist die Zeit in Ihrer Nähe?« sagte er.
Sie stiegen ein, und der Wagen fuhr fort. Lottchen, zwischen einer anziehenden Erzählung ihres Begleiters, der mit rasch eingestreuten Fragen ihre Aufmerksamkeit beisammenhielt, zwischen den Gedanken an Heinrich und den Nachwirkungen der Tragödie, soviel sie davon gesehen hatte, geteilt, merkte erst spät, wie lang die Fahrt schon daure. Der Wagen war sehr tiefsitzig, und sie mußte sich erheben, um aus dem Fenster zu sehen. Der Baron kam dieser Bewegung zuvor, sah auf der anderen Seite hinaus und rief so laut, daß der Kutscher ihn hören konnte: »Höll' und Teufel! die Pferde sind läufig geworden!« Und wirklich flog in diesem Augenblick der Wagen wie vom Sturm geführt dahin. Lottchen tat einen angstvollen Schrei; er zog sie sanft auf ihren Sitz zurück, bat sie, ja nichts Verzweifeltes zu tun, sondern ruhig den Ausgang des Abenteuers abzuwarten, und versicherte, daß der Kutscher seinesgleichen in der Welt nicht habe, daß ihm noch nie ein solcher Streich widerfahren sei, daß es gewiß keine Gefahr haben werde, und dergleichen mehr. Sein Gleichmut in dieser mißlichen Lage beruhigte das arglose Mädchen einigermaßen. Dazwischen rief er von Zeit zu Zeit den Kutscher an und erhielt jedesmal eine tröstliche Antwort. »Die Racker,« sagte der Bursche endlich lachend, »lassen sich links und rechts führen, wie's beliebt, nur halten wollen sie ums Teufels willen nicht.«
»Sie sind zu lang im Stall gestanden,« fügte der Baron hinzu, »wenn sie sich müd' gelaufen haben, so werden sie schon gut tun.«
»Ach!« jammerte Lottchen, »meine Schwester! mein Schwager! Wie werden sie warten! Was werden sie denken!«
»Das ist noch das geringste!« rief der Baron noch kläglicher, »die sind bald und leicht aufgeklärt. Ich bin in weit größerer Verlegenheit: ich habe auf diesen Abend Revanche bei einer Spielpartie zugesagt, und wer wird an eine solche Entschuldigung glauben?«
Der Zeit nach zu urteilen, hatten sie in toller Eile einen sehr bedeutenden Raum zurückgelegt, als die Pferde auf einmal langsamer gingen. Lottchen fuhr ans Wagenfenster und bemerkte, daß sie von der Fahrstraße abgekommen waren und mitten im Walde einen steilen Berg hinanfuhren. »Gottlob!« rief sie, »die Gefahr ist vorüber; aber wo sind wir denn?«
Der Baron rief den Kutscher herbei, der abgestiegen war und neben den Pferden herging, und befahl ihm, nähere Auskunft über den Vorfall zu geben.
»Wir waren,« erzählte der Mensch, »schon an des Herrn Expeditionsrats Haus gekommen, und ich wollte eben anhalten, als einer mit einer Laterne vorübergeht; den reitet der Teufel, daß er sie plötzlich in die Höhe halten muß, der Schein fällt den Bestien in die Augen, und mir nichts, dir nichts brechen sie durch und davon, als ob sie brennendes Stroh im Leibe hätten. Da war nichts zu halten; fast hätten sie mich vom Bock 'runtergerissen. Ich kann noch jetzt nicht begreifen, wie wir um die Ecken herum und zur Stadt hinausgekommen sind. Der gnädige Herr und das gnädige Fräulein,« setzte er lustig hinzu, »haben's erst so lang nicht gemerkt.«
Eine sehr unangenehme Empfindung stieg bei diesen Worten in Lottchen auf, sie suchte sie zu unterdrücken und sagte: »Da müßten wir der Richtung nach im Schönbuch sein.«
»Ohne Zweifel,« versetzte der Baron, ihren Irrtum begierig ergreifend, und fragte den Kutscher: »Hast du schon nach Stuttgart eingelenkt, Johann?«
»Gewiß, gnädiger Herr! Ich denk', wir werden bald wieder drunten sein.«
»Ja, ja, ganz recht!« wandte sich der Baron zu Lottchen, »sehen Sie, dort geht eben der Mond auf! Er steht uns gerade entgegen, also waren wir nach Westen gefahren und kehren jetzt nach Osten zurück. Kein Zweifel, wir haben die rechte Richtung.«
Dies leuchtete ihr ein, aber sie wußte freilich nicht, daß sie schon vom Theater an in einer und derselben Richtung gefahren waren und sich auf einer den westlichen Wäldern gerade entgegengesetzten Seite befanden.
Der Berg war erstiegen, und die Reise ging auf ungebahnten Waldpfaden, die den Wagen von einer Seite zur anderen warfen, weiter, bald eben, bald ziemliche Anhöhen hinab und wieder hinauf. Der Baron befahl dem Kutscher ein Mal übers andere, er solle doch sehen, daß sie wenigstens einen Ort erreichen; aber dieser schien von allem, was man ihn hieß, das Gegenteil tun zu müssen: sie kamen zu keiner Menschenwohnung, und die Wildnis wurde eher dichter und unwegsamer. Hätte Lottchen genauer hingesehen oder mehr davon verstanden, so würde das Nadelholz, das jetzt häufig mit den Buchen abwechselte, ihr verdächtige Aufschlüsse über die Gegend und über die Entfernung von der Hauptstadt gegeben haben. Sie war, wie der Kutscher auf dem Bock vor sich hin murmelte, sie war schon so weit von Stuttgart weg, daß sie dort keinen Hahn mehr nach ihr krähen hören konnte.
Je mehr die Tannen zunahmen, desto breiter und weicher wurde der Weg. Lottchen, die oft genug vergebens nach Stuttgart gefragt hatte, überließ sich endlich ihrem Verhängnis, da sie zugeben mußte, daß sie jetzt doch jedenfalls zu einer ungewöhnlichen Stunde nach Hause kommen würde. Von der langen Angst und den Stößen des Wagens erschöpft, legte sie sich in die Ecke und ließ sich zur Ruhe wiegen; doch konnte sie nicht schlafen und dachte mit halboffenen Augen ihren Sorgen nach. Da bemerkte sie, daß ihr Begleiter, leise lauernd, näher rückte und sich über sie herabbeugte; aber im Augenblick, wo er sie küssen wollte, stieß sie ihn heftig zurück und bat ihn um Gottes willen, ihre hilflose Lage nicht zu benützen, wenn sie nicht argwöhnen sollte, daß er das ganze Abenteuer mit böser List absichtlich angestellt habe.
Er beteuerte bei allen Heiligen, er sei so unschuldig wie das Kind im Mutterleibe, erklärte aber den Zufall für so wunderbar gütig, und führte so zärtliche Reden, daß das Mädchen ihm mit sehr beklommenem Herzen zuhörte. Sie rückte weg und duckte sich, so gut sie konnte, in ihr Eckchen. Ein zweiter Angriff ward wie der erste zurückgeschlagen, ein dritter ebenso, aber als die Szene leidenschaftlicher zu werden drohte, nahm sie sich zusammen und sagte: »Wir sind hier allein, und ich kann auf keine Hilfe hoffen, denn Ihr Kutscher wird für solche Bedrängnisse taub sein. Ich habe nur eine Waffe, sie ist meiner und Ihrer unwürdig. Zwingen Sie mich nicht dazu! So wahr Gott lebt, wenn Sie's nicht anders haben wollen, gnädiger Herr, ich kratze Ihnen die Augen aus!« – Zum ersten Male, seit der ganzen Bekanntschaft, hatte sie »gnädiger Herr« gesagt, was in diesem Zusammenhange sehr komisch ließ und den jungen Edelmann zum lauten Lachen brachte. Sie ließ sich aber dadurch nicht verwirren, sondern fuhr mit großem Ernste fort: »Öffnen Sie mir augenblicklich den Wagen, oder ich schlage das Fenster entzwei! Lassen Sie mich hinaus! Ich will lieber im wilden Walde verkommen, als länger so bei Ihnen sein.«
Da sie sich auch wirklich anschickte, diese Worte durch die Tat zu bekräftigen, so bot er Frieden und gab ihr sein aufrichtiges Ehrenwort, nichts mehr, solang sie sich in diesem Wagen befinde, gegen ihre Ruhe vornehmen zu wollen. Überhaupt fing er seinen verzweifelten Einfall zu bereuen an: die tiefe Bestürzung, der hohe Ernst und das ganz verwandelte Wesen der Jungfrau zeigten ihm, wie wenig er zu hoffen habe. Er warf sich mürrisch und verdutzt in seine Ecke und schien endlich zu schlafen. Auch Lottchen, die seinem Ehrenworte vertrauen zu dürfen glaubte, überließ sich nach so vielen Erschütterungen einem späten Schlummer, der nicht weiter gestört wurde.
Ein dumpfes Gerassel erweckte sie. Sie fuhr auf und sah im dämmernden Morgenlichte, wie die ermüdeten Rosse den Wagen langsam durch einen gepflasterten Torweg zogen. Auch ihr Entführer hatte sich ermuntert und blickte verlegen zu ihr herüber. Sie sah ihm in die überwachten Augen und fand ihn ganz fremd und verändert: sie konnte gar nichts mehr von dem entdecken, was ihr sonst an ihm gefallen hatte; er kam ihr garstig und abscheulich vor. So gewiß ist es, daß jede blinde Leidenschaft, jede trübe Glut bei einem reinen Mädchen die entgegengesetzte Wirkung hervorbringt, daß nur natürliche, freie Entwicklung der Neigungen die Liebe zu einem heiteren, reuelosen Ziele führt.
Ein Diener kam herbei und öffnete den Wagenschlag. »Du hier, Friedrich?« rief der Baron mit erheucheltem Staunen. »Wo sind wir denn?«
Andere eilten herzu. »Willkommen, gnädiger Herr!« riefen sie, »willkommen auf Ihrem Schlosse!«
»Nun versteh' ich die gescheiten Bestien erst!« sagte der Kutscher lachend, »sie hatten das Heimweh. Wie sie nur den Weg so gut gefunden haben?«
Da fiel es der Jungfrau wie Schuppen von den Augen. Sie stieß den Baron, der inzwischen ausgestiegen war und ihr heraushelfen wollte, zurück und rief: »Also ein abgemachtes Bubenstück war es! Aber es wird noch Gerechtigkeit zu finden sein in Württemberg, ich hoffe es. Ich will, ich befehle, daß Sie mich ohne Verzug in diesem Wagen nach dem nächsten Städtchen bringen lassen – denn weiter mag ich mich Ihren Helfershelfern nicht anvertrauen – und ich verspreche Ihnen, daß Ihr Vergehen keine schweren Folgen haben soll; aber hüten Sie sich, so lieb Ihnen Ihr Kopf ist, die Sache weiter zu treiben. Ich bin in Ihrer Gewalt, wenn Sie ein Verbrechen begehen wollen; unentdeckt wird es nicht bleiben, und die Gesetze werden ein armes, schändlich mißhandeltes Mädchen rächen. O mein Vater! mein alter Vater!« rief sie, und ihr Zorn schmolz in eine Flut von Tränen hin.
Der junge Mann war bestürzt bei diesem Auftritt: ein solches Ende seines unüberlegten Streiches hatte er nicht erwartet; er erkannte die Jungfrau gar nicht wieder, die ihm erst so leicht in die Schlingen seiner Artigkeiten gegangen war. Gescholten wie ein Knabe, stand er vor seinem Gesinde und hatte nicht den Mut, irgend etwas Entscheidendes zu tun. Endlich faßte er sich und bat sie mit sanften, bescheidenen Worten, nur jetzt kein Aufsehen zu machen; das Mißverständnis werde sich ja geben; es solle alles geschehen, was sie wolle; nur keinen unverzüglichen Aufbruch solle sie verlangen, denn die Pferde seien nicht im stande, schon wieder Dienste zu leisten, und sie selbst bedürfe der Ruhe sehr. Mit einer geschickten Wendung hob er sie bei diesen Worten aus dem Wagen und wollte sie triumphierend über den Hof geleiten; aber sie hatte sich ihm schon wieder entrissen und rief heftig: »Nicht einen Augenblick will ich mit Ihnen unter einem Dache sein! Was Sie mit List angefangen haben, mögen Sie mit Gewalt vollenden, aber mit meinem Willen soll nichts geschehen, was einer Beistimmung ähnlich sieht; ich rufe alle diese Leute zu Zeugen auf!«