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Er stutzte, aber es fiel ihm bei, daß es ihre Gewohnheit war, den Leuten mit Märchen und Flunkereien in die Quere zu kommen und sie zu verblüffen. Daher versetzte er gleichfalls lachend: »Doch wohl nur im Traume?« – »Versteht sich, daß es ein Traum war!« antwortete sie, indem sie ihn bedeutungsvoll ansah. »Es wird nächstens an der Zeit sein, die Augen zu schließen und den alten Traum fortzusetzen.«
»Also, gute Nacht meine Gnädigste!«
»Nein!« rief sie, plötzlich ausbrechend, »nein, mein Freund, Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich ennuviere! Dieses Zeremoniell! Diese abgeschmackten Fratzen! Wozu denn? Wenn ich doch nur wüßte wozu? Er hat doch Witz und Geist! Warum hat er sich denn so ein steifes Leben zugerichtet? O, daß ich hexen könnte! Ich möchte mich in einen Vogel verwandeln, und wenn ich mich unter der Hefe des Pöbels, wenn ich mich zeitlebens unter den Sperlingen umhertreiben müßte!«
»Da möcht' ich noch eher raten, das Genre der Bachstelze zu ergreifen,« sagte Heinrich unwillkürlich.
»Keine schlechten Witze! Ich bin wirklich unglücklich, ich bin sehr unglücklich. Ihr seid noch der einzige Mensch hier – ach geht, und Ihr seid auch nur ein halber!«
Sie hatte ihn heftig am Arm gefaßt und dann wieder weggestoßen. Jetzt trat sie zu ihm und sagte mit dem zärtlichsten Tone: »Kommt, wir wollen das Räuberhandwerk ergreifen! In die böhmischen Wälder! Oder lieber auf den Schwarzwald, wo's noch lustiger ist! La bourse ou la vie!«
Sie hatte sich an ihn angelehnt und sah schelmisch an ihm empor. Indem sie sich rückwärts beugte, öffnete sich das ausgeschnittene Kleid über der Brust und ließ ihn in einen blendenden Himmel schauen, so daß er vor Überraschung fast die Augen schloß. Es war ein Augenblick. Er hatte ihre Hand ergriffen. »Ma vie!« rief er und drückte einen feurigen Kuß darauf.
Sie konnte ihm kaum noch die Hand entreißen, als die Gräfin von Hohenheim wieder ins Zimmer trat. Franziska schien zerstreut und hatte nichts bemerkt. Die Stunde schlug; der Lehrer wurde von den Damen gnädig entlassen. – Es war ihm, als ob tausend Raketen um ihn zischten, und in verworrenen Gedanken ging er aus dem Schlosse.
Sie war ein wildes keckes Blut,
Als sollt's ein Knabe werden.
J. G. Fischer.
Und unter verworrenen Gedanken zerging ihm der Sommer und ein großer Teil des Winters, der zu Anfang des Februar mit einem kurzen Schnee und einigen Regengüssen Abschied nehmen zu wollen schien.
Der Geburtstag des Herzogs war diesmal feierlicher als gewöhnlich begangen worden, und noch immer wiegte sich der Hof in mancherlei Freuden der Nachfeier. Die gelinde Jahreszeit gestattete schon Lustbarkeiten im Freien, aber auch Abends im geschlossenen Saal entzündete sich der bunte Glanz, und unter der Maske wagte sich das Leben mit seinem Haß und seiner Liebe freier zu bewegen. So war auf den nächsten Abend eine Redoute angesagt, zu welcher außer dem Hofe nur wenige Glückliche den Zutritt haben sollten. Heinrich war nicht unter diesen, und doch hatte er tausend Gründe, die es ihm unmöglich machen wollten, wegzubleiben. Durch die Festlichkeiten war der Unterricht bei dem Fräulein seit geraumer Zeit unterbrochen worden, und es schien ihm, so wenig er Schuld daran trug, als hätte er seine Pflichten verletzt. Er wußte, sie war unzufrieden, und diese Krankheit wuchs immer mehr, so daß sie selbst ihn zuletzt mit fühlbarer Gleichgültigkeit behandelt hatte: wie konnte er nun die Aufgabe abweisen, die ihm von der Freundschaft, vom Gewissen, und wie diese zarten Behörden alle heißen mögen, gestellt wurde! Er mußte sich von ihrem Zustand überzeugen, er mußte sehen, ob sie eines Trostes bedürftig sei. So treffen wir ihn denn auf einem Gange, den er nicht unter der Eingebung der Weisheit Salomonis angetreten hat.
An geheimen Mitteln und Wegen fehlte es nicht, um auch ungeladen zu dem Feste zu kommen, wo er gewiß war, mit ihr zusammenzutreffen. Vorsichtig hatte er sich zwei Maskenanzüge verschafft, um sich mit deren Hilfe aus jeder Verlegenheit zu ziehen. Schon war er als Zitherschläger gekleidet; als solcher wollte er vor sie treten, wenn er erst die nötige Kunde und Sicherheit erlangt haben würde. Er warf eine braune Mönchskutte über die malerische Tracht und eilte fort, da seine Uhr ihm sagte, daß die glänzenden Räume nunmehr gefüllt sein würden.
In einem spärlich beleuchteten Gange, wo man die Musik leis und fern vernahm, stieß er auf zwei Zigeunermasken, deren Aussehen und Haltung ihm täuschend gelungen schien. Sie mochten auch ihr Geheimnis haben, denn als er sich ihnen näherte, hörte er die eine zur anderen sagen: »Paß ja recht auf, Duly, und entferne dich keinen Augenblick von hier.«
»Wohl, wohl!« entgegnete die andere Maske.
Heinrich drückte sich an ihnen vorüber. Der fremdartige Name war ihm aufgefallen, aber er hatte keine Zeit zum Grübeln, denn schon war das Pförtchen erreicht, das ihn einlassen sollte. Er öffnete sachte, und begünstigt von dem blendenden Schein der Kronleuchter war er unbemerkt in den Saal getreten. Die Aufmerksamkeit der bunten Versammlung war nach einer anderen Seite gerichtet, wo ein hoher Venetianer, den Hut mit blitzenden Steinen geziert, einhergeschritten kam. Alles wich ihm aus, und Heinrich, sein Terrain übersehend, schlug sich zu einer Gruppe, wo er ihm vorerst weit genug aus den Augen war. Um seine Befangenheit zu überwinden, ging er dreist auf einen untersetzten Sarazenen zu und bot ihm den frommen Gruß, der im Charakter seiner eigenen Maske lag.
Der Heide wandte sich erschrocken um und machte mehrere Verbeugungen. »Fehl' mich ganz gehorsamst!« stotterte er endlich verlegen heraus.
»Mich auch!« erwiderte Heinrich laut lachend. Er glaubte an der Stimme einen alten Kanzleiherrn erkannt zu haben, mit dem er schon sonst wo zusammengetroffen war.
Der komische Auftritt hatte ihm Mut gemacht. Er fühlte seine Gestalt unter dem Umfang der doppelten Kleidung hinlänglich versteckt, und viel zu lebhaft für einen Kapuziner begann er sich im Saal umherzutreiben. Er suchte, fand aber nirgends. Unter keiner dieser prachtvollen, stummen Masken, die mit ruhiger Haltung aneinander vorüberwandelten, höchstens einige Worte flüsterten und dann weiter gingen, konnte er sie vermuten. War sie nicht da? Nein, denn gewiß hätte sie in dieses Hadesleben Aufregung und bunte Mannigfaltigkeit gebracht. Er bereute, sich hier unnützerweise in Gefahr begeben zu haben.
Da fühlte er sich leicht angestreift. Ein wunderschlanker Zigeunerknabe, an dessen Schmuck ein Juwelier seinen Vorrat erschöpft zu haben schien, war neben ihn getreten, und zwei mutwillig funkelnde Augen bohrten ihm durch seine Doppelmaske hindurch. »Gelobt sei Jesus Christ!« sagte eine holde Stimme, vergebens bemüht, einen jugendlichen Baß zu erzwingen.
»In Ewigkeit!« erwiderte Heinrich, den beim Klange dieses Grußes ein freudiges Zittern befiel.
»Ihr habt Euch verirrt, mein frommer Vater,« fuhr der Knabe fort. »Was hat Euer Fuß zu suchen auf diesem Schauplatz der bunten Narrheit?«
»Und ist es nicht passend,« antwortete er, »der Fröhlichkeit den Ernst und dem bunten Schimmer jenes Grau vorzuhalten, das, wie man meint, die Grundfarbe des täuschenden Regenbogens ist?«
»Gut gesagt, mein Vater. Aber wenn es, wie ich schon gehört habe, Menschen gibt, welche die Sprache dazu erschaffen glauben, um die Gedanken und den Charakter zu verbergen, so seid Ihr der völlige Gegenfüßler von diesen, und wenn Ihr Euren Stil nicht besser zu verstellen und Euren Kopf nicht gelenkiger zu halten vermögt, so fürchte ich, Ihr werdet nichts als ein lebendig wandelnder Steckbrief sein.«
Er nahm schnell eine gebeugtere Haltung an. »Du redest die Wahrheit, mein Sohn,« sagte er, »empfange dafür meinen Segen.«
»Dank, heiliger Vater. Also Ihr seid gekommen, uns von unserer unheiligen Torheit zu bekehren? Soll ich Stille ausrufen, damit alles Eurer Predigt lauschen möge?«
»Nein, nein! Ich bin zufrieden, eine Seele gefunden zu haben, der ich meinen Zuspruch und die Tröstungen anbiete, die mein teilnehmendes Herz zu geben vermag.«
»Diese Seele ist Euch sehr verbunden. Wie aber, wenn ich Euch vertraue, daß sie bereits – ich will nicht sagen getröstet, aber bekehrt ist? Daß sie mit nächstem gerettet sein wird aus dieser argen, schlimmen Welt?«
»Ich verstehe dich nicht, meine – mein Sohn! Du redest, als ob diese Seele in ein Kloster gehen wollte.«
»Und wenn es so wäre? Ich weiß ein Kloster mit viel tausend hohen Säulen, eine blaue Wölbung spannt sich drüber her, und seine Bauart hat ihresgleichen nicht. Gar schöne Musik ist darin zu hören, und eine Riesenorgel füllt den weiten Bau mit ihrem Atem aus.«
»Du redest in Rätseln, mein Sohn. Gott erleuchte dich – oder mich!«
»Das wird er, mein Vater, beides zu seiner Zeit. Für jetzt aber ein leises Wort, neigt Euch tiefer, tiefer: schweigen und – nachfolgen! Ja, mein frommer Vater, ein solcher Beichtiger wie Ihr wird dort willkommen sein. Wollt Ihr folgen, wann es an der Zeit ist? Wollt Ihr?«
»Ich will!« rief er, ergriffen von dem innigen Ton der Stimme, obgleich er kein Wort von allem verstand. Der anmutige Knabe legte sich seine Hand aufs Haupt, wie zum Segen, und huschte davon.
»Was dieser Geist immerwährend wundersame Blasen aufwirft!« sagte er, der zierlichen Gestalt nachsehend, wie sie durch die Reihen dahinschlüpfte. Er konnte sich's nicht versagen, ihr von weitem zu folgen; noch einen Blick, vielleicht noch ein Wort, dann hatte er ja seinen Wunsch erreicht und konnte gehen. Was sie nur gemeint haben mochte? Doch er war ja ihre phantastischen Reden gewohnt.
Da sah er sie auf einmal mit einem Zigeuner im Gespräch und glaubte dieselbe Maske zu erkennen, die ihm im Korridor begegnet war.
Das Gespräch schien lebhaft geführt zu werden, der Zigeuner hatte eine Stellung angenommen, als ob er Befehle empfinge. Heinrich konnte die Augen nicht abwenden, unwillkürlich näherte er sich ihnen, und ein eifersüchtiges Gefühl hatte ihn beschlichen. In diesem Augenblick wurde er hart am Arm gefaßt, und wie er sich umwandte, vermochte er kaum einen Ausruf der Bestürzung zu unterdrücken, denn er sah niemand Geringeres als den leibhaftigen Satanas. Der höllische Fürst war so vollständig kostümiert, wie ihn nur der alte Köhlerglaube erdacht und dargestellt hat, und seine Larve so ausdrucksvoll gemalt, daß gleich der erste Anblick den Verdacht erwecken mußte, diese Erscheinung sei nicht aus den Kreisen des Hofes, sondern möge wohl eher eine Ausgeburt der Akademie oder ihrer kaum flügge gewordenen Kinder sein.
Satan schwang seinen Schürhaken wie ein Zepter über die Versammlung und sagte mit einer tiefen gequetschten Stimme: »Willkommen, ehrwürdiger Pater, in meinem Territorio! Du hast mir allein noch gefehlt, nun ist meine Freude vollkommen. Sind wir ja doch von jeher natürliche Verbündete gewesen! Wenn dieser euer Menschenozean von Grund aus umgerührt werden soll, so werden wir beide wohl die unentbehrlichsten Werkzeuge sein. Ich für meine Person bin nie verlegen, wie ich den alten Sauerteig anbringen muß, und du, in welche Jacken und Uniformen sich auch die Geister der Sterblichen stecken mögen, du weißt deine Tracht zu akkommodieren und tauchst allzeit wieder empor, thronend mit der finsteren händelsüchtigen Prophetenmiene oder mit dem lächelnden Vollmondsgesicht! Sei mir gesegnet, du besonderer Liebling meiner guten Großmutter! Komm, wollen eine Runde machen und unsere Leutchen mustern. Das Hofgelichter ist meine traktabelste Ware, da treibe ich nun so zu meinem Privatvergnügen einen Trödelkram mit abgetragenen Kleidern, in die man alles hineinstecken kann, nur nichts Kapitales.«
Er faßte ihn traulich unter dem Arm und schleppte ihn mitten durch das Maskengewühl. Das Gemurmel über die auffallende Erscheinung wich dem allgemeinen Gelächter, als man sah, wie der korpulente Kapuziner sich aus Leibeskräften sträubte, seine Brüderschaft mit dem verschrieenen Gesellen öffentlich zu deklarieren.
»Laß dich's nicht anfechten, Ehrwürdigster!« sagte Satan zu ihm, »laß dich's nicht verdrießen, daß sie dich so unanständig verlachen, Im Gegenteil, nur recht viel Hohn, nur recht viel Märtyrertum! Da liegt der größte Gewinn für den, der seinen Vorteil versteht. Das Verspottete, Abgeschmackte übt eine geheime Anziehungskraft –«
Er wollte weiter reden, als die Menge sich teilte und der venetianische Nobile mit einem Male vor ihnen stand. Erschrocken riß sich der Kapuziner los, sein schwarzer Gefährte aber, von einem diabolischen Gedanken durchzuckt, ging frech auf den Venetianer zu, indem er sich anstellte, als ob er ihn mit dem Schürhaken fassen wollte. Ein Schrei des Zorns entfuhr der Maske, und Satan, den Schürhaken dahinten lassend, begab sich eiligst auf die Flucht.
Ein allgemeiner Aufruhr entstand im Saale. »Greift ihn!« riefen viele Stimmen, und von allen Seiten begann die Verfolgung gegen den wunderlichen Sohn des Chaos. Heinrich sah es noch, wie er den Ausgang gewann und wie ihm von der zuschlagenden Türe der Schweif abgekippt wurde, aus welchem eine Menge Sand auf den Boden rollte. Er sah, wie die beiden Reliquien des bösen Geistes von dienstfertigen Masken aufgehoben und herbeigetragen wurden, und vernahm ganz in seiner Nähe den lauten Vorschlag, die Türen zu schließen und sämtliche Anwesende sich demaskieren zu lassen. Da schien es ihm nicht mehr geheuer zu sein, zumal er selbst eine Rolle in diesem Drama mitgespielt hatte.
An dem Pförtchen wagte er es noch einmal, seine Blicke durch den Saal schweifen zu lassen; er sah den Zigeunerknaben nicht mehr, und mit einer bitteren Verwünschung gegen den dummen Teufel, der ihn um diesen Abend gebracht, schlüpfte er fort. – Lauras Fenster waren noch nicht erleuchtet; sie mußte noch auf der Redoute sein. Er kämpfte mit sich, ob er nicht noch einmal als Zitherspieler hinschleichen sollte; aber er wollte die Gefahr nicht allzu verwegen herausfordern und ging endlich zögernd nach Hause, um den schattenhaften Traum wachend und schlafend fortzusetzen. Der Schlaf wollte jedoch nicht lang bei ihm verweilen; seine Gedanken quälten ihn unablässig, und er erhob sich früh am Morgen, die holde Sonne begrüßend, die ihn wieder wie einst mit Hoffnung und Lebenslust erfüllte. Sein Herz trieb ihn hinaus in die schöne Morgengegend; ein Feiertag war angebrochen, und er beschloß, ihn nicht auf seinem Zimmer zu verseufzen.
– Wollen wir uns lustig machen?
– So lustig wie Heimchen, mein Junge. –
– Ich bin jetzt zu allen Humoren aufgelegt,
die sich seit den alten Tagen des Biedermanns
Adam bis zu dem unmündigen Alter
der gegenwärtigen Mitternacht als Humore
gezeigt haben.
Shakespeare, Heinrich der Vierte.
In Ermangelung eines »Wilden Schweinskopfes« frequentierten unsere jungen großen Geister den »Ochsen«, ein beliebtes Gasthaus in der Hauptstätterstraße.
Schiller traf dort gewöhnlich mit Petersen zusammen, Leutnant Kapff, sein ehemaliger Stubenbursche, kam oft spät am Abend aus anderer Gesellschaft, Roller ließ sich dann und wann bei ihnen sehen, auch die übrigen Bekannten gingen aus und ein. Man trank einen guten Roten und aß einen »Schunken« oder rauchte eine von der Wirtschaft gelieferte Pfeife dazu, laut einer Rechnung des Ochsenwirts Brodhag, » Nota über Herrn D. Schiller und Herrn Bibliotarius Petersin«, welche mit der monatlichen Besoldung, die der Titanensohn von seinem durchlauchtigsten Beschützer als Regimentsmedikus bezog, in einem wehmütigen Kontraste steht.
Heinrich kam, nachdem er auf einem benachbarten Dorfe noch einige Stunden geschlafen und dann in der milden Sonne den ganzen schönen blauen Tag umhergeschwärmt hatte, die Weinsteige herab. Mit dem Winter schien's ganz vorüber zu sein, und der Feiertag, der auch ihn von seiner Kette losgespannt hatte, lockte eine Menge Spaziergänger nach vollendetem Abendgottesdienst zwischen der langen Reihe noch kahler Gärten ins Freie. Sie strebten hinaus, er strebte schon wieder zurück. Die rastlose Leidenschaft trieb ihn dem Schlosse zu, ob er vielleicht das Wehen eines Schleiers, ob er einen Blick erhaschen könnte.
Diesmal aber war es anders beschlossen. Denn als er durch das Hauptstättertor gekommen war und am »Ochsen« einen zufälligen Blick hinaufgleiten ließ, glaubte er hinter einem Fenster etwas wie die Strahlen der Abendröte wahrzunehmen. Er sah noch einmal genauer hin und sprang hinauf. Erraten! Schiller saß in der gewohnten Ecke, gedankenvoll in das leere Glas starrend. Er reichte dem Freunde schweigend die Hand.
»Was hast du? Wie geht's dir?« fragte dieser, indem er sich an seine Seite setzte, »die Räuber sind ja aufgeführt, und du warst heimlich in Mannheim? Ich habe dich eine ganze Ewigkeit nicht gesehen.«
»Es ging vortrefflich,« sagte Schiller, »aber laß dir's lieber von anderen erzählen. Es liegt hinter mir, und was vor mir liegt –«
»Nun?«
»Höre, was auch Kästner sagen mag, daß es keinen leeren Raum gebe, das Menschenleben kommt mir doch oft wie ein Vakuum vor. Was ist das für ein Treiben! Ich möchte mich flüchten und weiß nicht wohin. Ja, aus Schwaben nach Deutschland! Wüßt' ich nur, wo das liegt! Aber auch gegen Mannheim steigen mir Zweifel auf.«
»Wenn du so sprichst,« versetzte Roller, »so muß es in deinen Arbeiten stocken. Was treibst du denn? Ist der Fiesco bald fertig?«
»Fast noch immer der rohe Stoff!« erwiderte Schiller tonlos, »das Ding sieht aus wie das ewige Chaos.«
»Nun, siehst du? Aus dem ist ja auch mit der Zeit etwas geworden.«
»Ja, aber unter anderen Händen. Mir ist's zu Mut, als ob ich gar nichts mehr herausbringen würde. Ich hab' ein Gefühl, als ob ich fertig wäre.«
Heinrich lachte. »Nein!« rief er, »um auf den Lorbeeren einzuschlafen, dazu ist's noch zu früh am Tage. Diese Stimmung geht vorüber; sie ist Qual für die Seele, aber Wohltat für den Geist. Laß ihn nur brach liegen, er fängt von selbst wieder zu tragen an.«
»Unter diesen Umständen schwerlich,« versetzte der Dichter. »Mein Leben, meine Stellung, alles ist verfehlt. Ich bin im Begriff, langsam in den Sumpf zu sinken. wenn ich mich nicht mit einem kecken Sprung herausreiße. Oft komm' ich mir vor wie Catilina gottseligen Angedenkens, nur daß ich mir auf eine bessere Art helfen möchte.«
»Du laborierst an einer poetischen Entwicklungskrankheit,« sagte Heinrich, »das ist alles. Laß sie ruhig auskochen, du hast ja inzwischen Diversion genug. Laß das Dichten eine Zeitlang und wirf dich mit umso größerer Wut auf deine Grenadiere. Das ist das Gute, was ein Beruf hat, daß man nie leer mahlen kann.«
»Auch daran fang' ich stark zu zweifeln an,« erwiderte der Dichter. »Es kommt mir nicht ehrenhaft vor, einen Beruf, an welchem das Vertrauen des Staates, ja das Leben von Menschen hängt, nur so nebenher zu treiben. Das schlimmste aber – (was unter uns bleibt) – ist das, daß ich nicht dazu geboren bin, es gelingt mir nichts, und wenn man mich heute wegwirft, so kann ich's nicht verargen. Es ist eben der Fehler, daß man zu seinem Berufe kommt wie der Blinde zur Ohrfeige.«
»Aber zu was hättest du sonst getaugt?«
»Das ist schwer zu sagen,« sprach der Dichter. »Ich sehne mich auch nicht mehr nach den Fachstudien, die ich verlassen mußte. Überhaupt kann meines Erachtens ein Mensch nur einen Beruf haben und den meinigen glaube ich mit den Räubern bewiesen zu haben. Freilich scheint er nicht fakultäts- und brotfähig zu sein. Aber davon bin ich fest überzeugt, wer sein Tagewerk pflichtmäßig abspinnt und medikastriert oder Parteien verhört oder doziert und zwischen hinein ebenso gleichmütig wieder Verse macht, der ist kein echter, kein berufsmäßiger Dichter, seine Liebhaberei will ich ihm übrigens nicht verwehren.«
Er hatte in aller Unschuld einem Dilettantenherzen eine Wunde geschlagen; denn nichts verzeiht man schwerer, als wenn ein Poet, welchen man doch mit Herausforderungen auch nicht verschont, sich gelegentlich einmal in die Brust wirft. Er sah dem Freunde die Verstimmung, die dieser nicht verbergen konnte, in den Augen an und fügte hinzu: »Dagegen ist auch kein Menschenkind so übel dran als ein Dichter in den Stunden, wo er von seinem Genius verlassen ist. Die anderen sind doch noch immer alles mögliche, er aber ist dann gar nichts. Und solche Seufzer einer leeren Brust sind die Wiegenlieder des Fiesco. – Überhaupt,« rief er, plötzlich abspringend, »es ist ein unaussprechlich armseliges Leben hier! Ich wollte mich gar nicht sträuben, wieder in die Akademie zurückzukehren; wie ganz anders hab' ich mir dort die Welt vorgestellt! Und vollends die Weiber! Ich möchte nur wissen, ob sie anderswo auch so wären. Höre, wir sind unter uns, und ich will dir frei bekennen, daß ich alle Ansprüche auf Dichterruhm mit Freuden einem rechten Mädchen opfern wollte, und ich glaube, es geht jedem braven Jungen so. Freilich müßte sie danach sein. Aber es ist was gar zu Armseliges um die Weiber, wie sie jetzt sind! Die einen bloß sinnlich, die anderen bloß moralisch. Die Liebe fordert in beiderlei Hinsicht einen gewissen Heroismus, und der geht allen ab. Es ist mir, als wäre eine alte heilige Religion verloren gegangen. – Dieses Schwaben!« fuhr er fort, »wie haben die Minnesänger seine Frauen gepriesen! War es Lüge und poetische Fabel, oder hat sich das so ganz geändert? Höre, ich will mir eine Phantasiegeliebte erfinden, aber keine idealisierte Laura, sondern ein Geschöpf mit allen Eigenschaften der Wirklichkeit. Ich will sie besingen, ihr will ich all mein Dichtertalent widmen, und diese Liebeslieder sollen den Inbegriff der Poesie in sich schließen und mein ganzes Lebensglück sein.«
»Armer Ixion!« sagte Heinrich lächelnd, »wie bald würdest du ungenügsam werden und eine lebenswarme Wirklichkeit in deine Arme wünschen!«
»Nein!« rief der Dichter feurig, »es ist beschlossen, und so soll es sein! Du aber mußt sie noch in dieser Stunde taufen.«
»Gut! Incognita soll sie heißen. Das gäbe Stoff zu artigen Epigrammen.«
»Nein, ich will einen landläufigen Namen haben, bei dem ich schwören kann, und dann will ich dir alle Tage ein Stück aus der Geschichte meiner Liebe erzählen.«
»Bedenke doch, wie gut dir Incognita anstünde und wie der Name mit den Forderungen der Treue, der Wahrheit in Einklang zu bringen wäre! Wie hieß die Dame, die Sie gestern aus dem Theater führten? Incognita. Und Ihre heutige Liebe, bitte, wie wird sie heißen? Incognita. Morgen und alle Tage Incognita, mit treuem, unwandelbarem Gemüt.«
»O still!« rief der Dichter errötend. »Wie jene Griechen dem unbekannten Gott, so will ich meiner Unbekannten einen Altar errichten und jede unlautere Regung b darauf opfern.«
»Und einen landläufigen Namen willst du?« fuhr Heinrich unerbittlich fort, »ich dächte doch, Incognita sei der landläufigste Name und Charakter, den man finden kann.«
»Du wirst mich ernstlich bös machen,« sagte der Dichter, »laß diese Scherze, die mich nur allzu bitter berühren und mir die Elendigkeit dieses hiesigen Lebens vor Augen rücken. Wahrhaftig, ich möchte eine Skorpionengeißel schwingen gegen mich und alle, alle!«
»Oder einen Schürhaken, wie gestern abend der Teufel auf der Redoute.«
Schiller sah ihn groß an und lächelte geheimnisvoll. »Warst du denn auch dort?« fragte er.
»Wie?« rief Heinrich, »ist's möglich? Ach, ich hätt' es ja gleich erraten sollen! Du? du –«
»Still, um's Himmels willen! Sei zufrieden, das Geheimnis zu besitzen, und sprich es nicht aus! In einigen Wochen wollen wir davon reden. Für jetzt kann es keinen Atemzug ertragen.
»Nimm dich sehr in acht! ich bitte dich. Man wird dir scharf auf den Fersen sein!«
»Nur still, still! Es ist, als hätten wir's gar nicht berührt. – Gib mir einen Namen für mein unsichtbares Mädchen, ich will den Roman mit Ernst und Feuer durchspielen. Nun, was gilt's? Bei dir ist's gegenwärtig nicht ganz richtig; Schalk Amor guckt dir zu den Augen heraus. Wie heißt deine Geliebte? Sei ehrlich; die meine soll ihren Namen haben.«
»Warum willst du nicht,« fragte Heinrich ausweichend, »bei dem alten Namen bleiben, den du vom Petrarca für deine Liebeslieder entlehnt hast?«
»Richtig!« rief Schiller und sah ihn scharf an, »damit wäre dir gedient, nicht wahr? Ja, ja, man munkelt allerlei. – Nein, allen Respekt vor deiner Dame, aber mit meiner Laurapoesie ist's vorüber. Ich mag das gute Weibchen immer noch recht wohl leiden, hab' ihr auch versprochen, sie zur nächsten Aufführung mit nach Mannheim zu nehmen – aber diese Weiber –«
»Wer wagt von Weibern zu reden, wenn ich zugegen bin?« rief Petersen, der in diesem Augenblicke mit dem Leutnant Kapff in die Stube trat. »Pfui, sie haben uns das Paradies vernascht in alle Ewigkeit. Ein Pereat ihnen in saurem Most! Bei einem Glase guten Weins werde ihrer nicht gedacht! Mihi est propositum in taberna mori!«
»Hie ist Weisheit!« rief Kapff. »Aber mich soll jener Geschwänzte holen, der vergangene Nacht die Redoute alarmiert haben soll, wenn Petersen nicht zum Propheten wird. In taberna mori! Ich wette, er wird einst, schwer an Haupt und Gliedern, aber leicht, was die Fässer betrifft – ist das nicht eine wundervolle griechische Konstruktion? – auf einem Weinschlauch mit dem vollen Becher in der Hand nach dem verlorenen Paradiese segeln, wo ihn der Urwinzer Noah, der bereits auf sein Werk über die Nationalneigung der Deutschen abonniert hat, mit dem Henkelkrug an der Pforte empfangen wird.«
»Freundchen! Schillerchen!« sagte Petersen, indem er sich zu ihm setzte, »was Neues, Literarisches! Eine Unternehmung! Heute war das gelehrte Württemberg bei mir auf der Bibliothek und vertraute mir, er wolle sein ›Magazin‹ aufgeben. Er klagt sehr über Mangel an Abonnenten.«
»Laß ihn klagen!« rief der lustige Leutnant, »dafür hat er Überfluß an Exemplaren, das gleicht sich aus. Wie? der alte Balthasar will vom Schauplatz abtreten? Welch ein casus tragicus! Ich sehe lange Klagereihen von Bibliotheken, ich sehe einen Trauerkondukt von Folianten und Quartanten, die ihre Eselsohren hängen lassen und ihr Wasser reichlich vergießen; ich sehe die bücherne Württembergia im Tränenmeere waten, den löschpapierenen Unterrock –«
»Sei doch still, du toller Bursch, und laß vernünftige Leute reden!« unterbrach ihn der Bibliothekar. »Ja und sieh, da will uns nun die alte ehrliche Haut –«
»Zu lachenden Erben einsetzend« ergänzte der Leutnant.
»Diesmal hat er's erraten,« sagte Petersen.
»Gut!« rief Schiller, »ich bin dabei. Wir wollen das Ding unter einem anderen Namen fortsetzen und, versteht sich, in einer anderen Art. Die junge Generation soll an den Reihen.«
»Immer voran!« rief Petersen, »und jeden Tanzplatz besetzt, wo die alten Herrn mit den wackelnden Knien abtreten müssen. Du mußt auch mittun, Roller! Auch was Klingendes, hoff' ich, soll's absetzen. Kommt, stoßen wir auf glückliche Auspizien an. Schiller, was, du trockener Hering, du hast ja leer! Gleich laß dir einen Schoppen geben! Was machst denn für ein verlegenes Gesicht?«
»Bei allen Göttern, er wird rot,« sagte Kapff. »Ermanne deinen Heldengeist, Schiller!
Auch Patroklus hatte Schulden,
Und war mehr als du.«
»War er etwa Leutnant?« fragte Schiller.
»Über seinen Rang kann ich keine genaue Auskunft geben, aber darüber sind die Gelehrten einig, daß er nicht ganz ohne Portepee war.«
»Also wirklich mehr als ich!« lachte der Dichter, der im Rang dem untersten Offiziere nachstand. »Aber woher die Schulden? Hatte Patroklus Leutnantsgage?«
»Seine Gage,« versetzte Schillers einstiger Stubengenosse, »belief sich schwerlich höher als achtzehn Gulden Reichswährung monatlich, da er, wie wir bei Homero lesen, sich mit Achill zusammen in einem Logis behelfen mußte.«
Während alle über die munteren Einfälle des Leutnants lachten, fühlte sich Heinrich am Arm ergriffen. Als er sich umsah, erblickte er einen herzoglichen Trabanten, der über seine Anwesenheit die lebhafteste Freude bezeigte.
»Gott Lob und Dank,« rief er, »daß ich den gescheiten Einfall hatte! Kommen Sie geschwind, Sie sollen zum Herrn, und zwar wie Sie sind, ohne allen Verzug; man hat Sie den ganzen Tag vergebens gesucht.«
Heinrich war über diese unerwartete Vorladung betreten. Sein Gewissen sagte ihm nichts Gutes. Sollte etwas von seinem Besuch der gestrigen Redoute verlautet haben? Er fragte den Hofbedienten, was es denn so Dringendes gebe; der wußte jedoch nichts oder wollte nichts wissen. – Mit schwerem Herzen sagte er dem fröhlichen Kreise gute Nacht, und sein Gang wurde ihm saurer als einst der Weg ins Schulzimmer, wenn er irgend eine Ursache hatte, welche ihm die Augen gegen den strengen Präzeptor nicht frei aufzuschlagen erlaubte.
König: – – Außerordentliche Mittel
Erlaubt die dringende Gefahr – Hier, Marquis –
Euch brauch' ich keine Schonung zu empfehlen –
Marquis (empfängt den Verhaftsbefehl)
:
Es ist aufs Äußerste mein König.
Don Carlos.
Es war böses Wetter, was Heinrich bei seinem Eintritt in das fürstliche Kabinett gewahrte. Der Herzog ging heftig im Zimmer auf und ab; seine Augen funkelten zornig, und ihr helles Blau hatte eine dunklere Färbung angenommen, was seinen Blicken etwas Furchtbares gab. Die Gräfin von Hohenheim saß bestürzt und verlegen auf einem Kanapee. Unser Freund, kein Neuling mehr in der Taktik solcher Szenen, hatte sich gleich beim ersten Eintreten eine Stelle auszuwählen gewußt, die der Schein der Kerzen weniger beherrschte und wo er sein Mienenspiel einigermaßen verbergen konnte.
»Endlich!« fuhr ihm der Herzog entgegen. »Wo steckt Er den ganzen Tag? Wo kommt Er her?«
Heinrich erwiderte, daß er einen Spaziergang gemacht und soeben erst an einem Erholungsorte den herzoglichen Befehl erhalten habe, dem er auch alsbald Folge geleistet.
»Einen Spaziergang?« rief der Herzog. »Wann hat Er ihn angetreten? Erst heute oder schon gestern nacht? Ist er auf richtigen Wegen gewandelt?«
Heinrich glaubte sein ganzes Geheimnis verraten; doch beschloß er, sich an die buchstäbliche Fassung der Fragen haltend, noch eine Weile zu lavieren, und versicherte, daß er erst diesen Morgen, nachdem er aufgestanden, den Gedanken gehabt habe, die heutige Muße zu einem kleinen Ausfluge zu benutzen, den er, um Zeit zu gewinnen. Punkt für Punkt beschrieb.
»Mein Schatz,« sagte hierauf Franziska, »Sie sehen, er ist unschuldig, wie ich ja gleich gesagt habe. Er hat den Sinn Ihrer Frage nicht einmal begriffen.«
»Ruhig, mein Schatz! – Hat Er niemanden begleitet auf diesem Spaziergang? Ich sage, er hat jemanden begleitet.«
»Eure Durchlaucht halten zu Gnaden – nein!«
»Komm' Er näher zum Licht! hieher! Ich will Ihm ins Gesicht sehen.«
Heinrich überzeugte sich mehr und mehr, daß es sich hier um eine ganz außerordentliche, ihm noch unbekannte Angelegenheit handeln müsse und daß sein kleines Abenteuer von gestern keinen solchen Sturm erregt haben würde. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen, trat an das Licht und sah dem Herzog ruhig in die Augen.
Der Herzog blickte ihn scharf an, »Weiß Er,« sagte er, »warum ich Ihn habe rufen lassen?«
»Nein, Euer Durchlaucht.«
»Meine Gemahlin mag's Ihm sagen.«
Franziska hustete ein wenig, dann begann sie: »Sie werden erstaunen, lieber Roller! Ihre Schülerin –«
»Fräulein Laura! Sie wird doch nicht –« Er war unbedachtsam herausgefahren und stockte.
»Wo ist sie?« stürmte der Herzog halb bittend, halb drohend auf ihn ein.
»Auf dem Schwarzwald!« rief Heinrich unwillkürlich mit der Miene der schreckenvollsten Entdeckung. Es war mit einem elektrischen Schlage wie ein prophetisches Schauen in ihm aufgegangen.
»Woher weiß Er das? Woher weiß Er, daß sie – nicht mehr da ist?«
»Das erfahre ich,« erwiderte Heinrich, »in diesem Augenblick aus Eurer Durchlaucht eigenem Munde; ich hatte keine Ahnung davon, als ich kam.«
Der Herzog ging eine Weile schweigend auf und ab, dann sagte er: »Seine ungekünstelte Alteration beweist mir zwar etwas für Seine Unschuld; aber wie kommt Er denn, wenn Er nicht mit im Komplott ist, auf den Schwarzwald zu raten?«
»Ich schließe das,« antwortete Heinrich nach einigem Zögern, »aus vielen Äußerungen, die ich von dem Fräulein vernehmen mußte. Sie gab mehr als einmal zu verstehen, daß sie sich hier von den gemessenen Formen, von der strengen Etikette beengt fühle; sie sprach namentlich mit Vorliebe, mit einer Art Heimweh vom Schwarzwalde und wußte ein freies Leben in den dunkelgrünen Tannenwäldern nicht reizend genug –«
»Nonsens, sag' ich,« unterbrach ihn der Herzog. »Sie wird ja wohl gar zum Hannikel gegangen sein. Schweig' Er von dieser Affäre, so lieb Ihm meine Gnade ist, und geh' Er übrigens im Frieden hin. Ich will schon allein fertig werden.«
»Nein, mein Schatz!« rief Franziska, »lassen Sie uns nicht so übers Knie abbrechen! Diese Idee, so unbegreiflich sie auch erscheinen mag, ist doch nicht ohne Gewicht; denn ich erinnere mich ähnlicher Äußerungen.«
»Mein Schatz, ich sage, das kann nicht sein! Welche Abgeschmacktheit! In jenem Spitzbubengau! Aber ich werd' ihn säubern, ich werde!«
»Ich will mich gern eines Besseren belehren lassen,« sagte Heinrich. »Das Fräulein könnte sich vielleicht zu Verwandten begeben haben.«
»Sie hat ja fast keine Seele!« warf der Herzog hin.
»Nach den Richtungen, die man etwa vermuten konnte, hat sich nichts ergeben,« sagte die Gräfin.
»Die Nachforschung ist auch danach,« bemerkte der Herzog ärgerlich. »Man kann ja den Leuten nicht deutlich sagen, auf wen sie eigentlich fahnden sollen.«
»Sie sind der einzige,« versetzte die freundliche Franziska, »dem man die ganze Wahrheit vertraut hat. – Wie wäre es denn, wenn Freund Roller sich nach dem Schwarzwald aufmachte, um daselbst nachzuspüren? Sie hat immer viel auf ihn gehalten.«
»Ja, vielleicht hieße es auch den Bock zum Gärtner setzen,« murmelte der Herzog vor sich hin und warf sich in einen Sessel. »Ich traue keinem Menschen mehr!«
Unser Freund bestand in dieser kritischen Stunde eine harte Prüfung. So klar seine Reden waren, so trüb und stürmisch gärte es in seinem Innern. Indem er in leidenschaftlicher Ahnung dem Herzog das Geheimnis von der Flucht des Fräuleins gewissermaßen entrissen, hatte er zugleich einen Teil seines eigenen und zwar gerade denjenigen Teil, den er als anvertrautes Gut betrachten mußte, preisgegeben. Dabei war er keineswegs sicher, ob er den anderen Teil dieses Geheimnisses, der ihn selbst betraf, hinreichend bewahrt habe, ob nicht der Scharfblick des Herzogs, auch in dieser Stunde der Aufregung, groß genug sei, um seinen wahren Herzenszustand zu durchschauen; das Verhör, in das er ihn berufen, das Mißtrauen, das er ihm bewies, schien zum mindesten von einem unbestimmten Argwohn zu zeugen.
Aber noch mehr als alles dieses peinigte ihn der Gedanke an den unbekannten Nebenbuhler, mit dessen Hilfe, ja ohne Zweifel in dessen Gesellschaft sie entflohen war. Er sah während des ganzen Gespräches immer jene Zigeunermaske vor sich; wie ein Blitz war ihm die Erinnerung an ein neckisches Wort gekommen, das Laura vor langer Zeit einmal hingeworfen hatte, das er vielleicht nicht so uneigentlich hätte verstehen sollen, wie er es damals verstand. Er mußte sich um jeden Preis Aufklärung verschaffen und wandte sich daher an die Gräfin. »Wenn meine Vermutungen für Sie von Gewicht sind, gnädigste Frau,« sagte er, »so dürfte es vielleicht geraten sein, mich lieber vollends alles wissen zu lassen, was ich irgend wissen darf.«
»Was ich Ihnen sagen kann, ist wenig,« erwiderte Franziska. »Zu einer Verabredung hatte sie keine Gelegenheit, es müßte denn bei der letzten Schlittenfahrt gewesen sein, wo sie es durchsetzte, auf einem kleinen Schwanenschlitten die Pferde lenken zu dürfen; da war sie einen kurzen Augenblick in der Nähe der Solitüde allein, indem sie ihre Gesellschafterin nach etwas Verlorenem ausschickte. Außerdem weiß ich nichts, als daß sie seit der Redoute von gestern nacht vermißt wird und ihr Schmuckkästchen mitgenommen hat.«
Der Herzog sprang empor. »Auf dieser Redoute,« rief er zornig, »ist die ganze Sottise ausgeheckt worden. Ich werde eine scharfe Untersuchung ergehen lassen. Bis jetzt sind alle Masken bekannt geworden, bis auf drei, die in dieses Komplott verwickelt sein müssen, einen Zigeuner und einen Kapuziner, die man beide hat eifrig mit ihr reden sehen, und einen dummen Harlekin von Teufel, der sich ungezogener Bubenstreiche erfrecht hat, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu lenken. Das saubere Kleeblatt wird mir nicht entgehen; sie mögen zittern vor mir.«
Er ging wieder auf und ab. Heinrich stand wie auf Kohlen; er sah auf einmal, wie hier der Zufall eine verwünschte Verwicklung herbeigeführt hatte, und war eben im Begriff, seinen eigenen harmlosen Anteil an dieser vermeintlichen Intrige offenherzig zu bekennen, als ein alter vertrauter Bedienter hereintrat und leise dem Herzog eine lange Meldung machte.
Der Herzog nickte, und als der Kammerdiener sich entfernt hatte, sagte er nachdenklich: »Ich glaube jetzt selbst, daß wir die Spur haben. Ein Jäger will heute früh im Walde bei Bebenhausen etliche Zigeuner gesehen haben, unter welchen sich ein Knabe von apartem Aussehen befunden haben soll. Da die Nachfrage in sehr allgemeinen Ausdrücken erging, so haben wir auch keine genauere Bezeichnung erhalten können.«
»Großer Gott!« rief Franziska, »ich habe keinen Zweifel mehr! Sie hat sich in ihrer Maske unmittelbar von der Redoute weg entfernt. Jetzt ist sie schon tief im Schwarzwalde; wer will sie in jenen Schlupfwinkeln ausfindig machen?«
»Sein Shakespeare hat am Ende doch nicht so ganz unrecht,« warf der Herzog finster lächelnd gegen Heinrich hin, »und das Absurdeste ist vielleicht gerade darum das Wahrscheinlichste.«
Er machte einen Gang durch das Zimmer, dann kam er plötzlich mit dem Ausdruck des Vertrauens auf ihn zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte: »Meine Franzel hat einen gescheiten Einfall gehabt. Geh Er auf den Schwarzwald und seh Er, was zu tun ist. Ich verlasse mich auf Ihn, daß Er vernünftig handeln wird. Und, was ich Ihm sage, lieber zögern als übereilen! Wir haben sie jetzt schon einen Tag aus den Händen, ob's mehrere werden, ist so ziemlich egal. Wenn Er sie aufstöbert, und sie folgt Ihm nicht gutwillig, so gibt Er mir sogleich Nachricht – oder – ich will Ihm eine Vollmacht ausstellen, welcher Er sich aber nur im alleräußersten Fall bedient. Wenn es an dem ist, daß Er sie zurückbringen kann, so nimmt Er aus dem nächsten besten Hause eine ordentliche Frau zur Begleitung mit. Aufsehen vermeiden! das ist die einzige Order, die ich Ihm mitgeben kann; sonst hat Er unbedingte Freiheit, nach Umständen zu handeln. Vergeß Er mir's nicht, lieber alles zu Schanden gehen lassen, als Skandal erregen! Er versteht mich!«
Heinrich kam dem Auftrag mit Jubel entgegen; er hatte kein Auge für die Schwierigkeit des Unternehmens, für das Gefahrvolle und Verantwortliche dieser unbedingten Vollmacht; er hatte den unglücklichen Ausgang einer früheren ähnlichen Sendung völlig vergessen. Ein trunkener Mut zeigte ihm die Dinge, welchen er entgegengehen sollte, im heitersten Lichte.
Nun konnte er den Verrat, den er in der Überraschung seines Herzens an dem Fräulein begangen, wieder gut machen, er konnte die schlimme Verwicklung mild und liebreich lösen, er konnte dem verhaßten Unbekannten die Spitze bieten, er konnte – ach, was konnte er nicht alles! Noch immer klang ihm jene Aufforderung nach, die sie ihm beim Abschiede zugerufen hatte: wenn sie wollte, daß er ihr folgen sollte, wenn sie in dieser neuen Umgebung seine Gegenwart ertragen konnte, so konnte ihr Verhältnis zu dem Gefährten ihrer Flucht unmöglich ein leidenschaftliches sein.
Franziska gab ihm die mütterlichsten Ermahnungen, während der Herzog schrieb. Die fromme Sorge, die aus ihren Worten sprach, rührte ihn beinahe zu Tränen. Der Herzog überreichte ihm eine Vollmacht, die ihm überall Mannschaft aufzubieten gestattete, und schärfte ihm wiederholt ein, dieselbe auf den dringendsten Fall zu reservieren. »Hat Er sich schon einen Plan ausgedacht?« fragte er.
»Ja,« antwortete Heinrich. »Mein nächstes Ziel ist das Haus eines genauen Universitätsfreundes, das ich zum Mittelpunkt meiner Operationen bestimmt habe. Von dort aus kann ich durch unverdächtige Kundschafter wirken, während ich selbst in der ersten Zeit ganz unsichtbar bleibe. Der Einfluß eines Pfarrers hilft mir am ehesten dieses kostbare Dokument sparen.«
Er setzte das Wer? Wo? und Wie? mit geflügelten Worten auseinander, so daß der Herzog endlich rief: »Das lass' ich mir gefallen! Reis' Er glücklich und laß Er uns bald was Erwünschtes hören. Überseh Er nicht, daß Er hier ganz als ein vertrauter Freund traktiert worden ist.«
»Adieu, mein lieber Roller!« sagte Franziska, als er ihr die Hand küßte, »es ist mir leichter um das Herz, seit ich Sie mir in einem befreundeten Hause, bei wackeren Leuten denken darf.«
So endete diese Audienz wider alles Erwarten weit freundlicher, als ihr Beginn hatte voraussehen lassen, und wenige Augenblicke darauf saß unser Held voll Mut und Feuer zu Pferde.
Es schlug mein Herz: geschwind zu Pferde!
Es war getan, fast eh gedacht;
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht.
– Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Goethe.
Bald verschwanden die Lichter der Residenz hinter dem Eilenden; er ritt unaufhaltsam in die Nacht hinein und bedachte seinen sonderbaren Auftrag. Daß die Flüchtlinge sich nach dem Schwarzwalde gewandt hatten, der für das abenteuerliche Unternehmen Lauras und ihres zweideutigen Gefährten, aber freilich auch zugleich für unmaskierte Zigeuner, Wilddiebe und ähnliches Gesindel die sichersten Schlupfwinkel darbot, mußte er als ausgemacht annehmen. Die verschiedensten Empfindungen wechselten rasch in ihm ab. Die Bekümmernis des Herzogs, die Sorgfalt für eine Pflegetochter, für das Kind eines treuen Dieners, rührte ihn und spornte ihn an, alle Kräfte anzuwenden, um das Vertrauen des Fürsten zu belohnen, der ihn, wie er auch in wechselnden Stimmungen von ihm denken mochte, doch bei jedem neuen Zusammentreffen wieder durch seine Persönlichkeit zu fesseln wußte. »Ich muß sie finden!« rief er, – »aber darf ich wünschen, sie zu finden? ich? sie, in den Armen ihres Geliebten?« Er suchte die Pein, die er sich selbst zu bereiten drohte, zu unterdrücken und malte sich den Schmerz aus, den er Laura zuzufügen im Begriffe war. »Und muß sie nicht glauben,« rief er, »du habest dich eigensüchtig zum Vollstrecker aufgedrängt? du wollest deiner Eifersucht den traurigsten Genuß verschaffen?« Er fühlte bei diesem Gedanken eine zentnerschwere Last auf seinem Herzen. Dann sah er wieder das Bild des schönen Wildfangs, einer gesetzlosen, des Ärgsten verdächtigen Bande preisgegeben; denn wie konnte ihr Entführer, wer er auch sein und in welchem Verhältnis er zu ihr stehen mochte, ein Versteck für sie finden, das diesen Mächten des Waldes nicht bekannt war, ja, wie hätte er einen so kecken Streich wagen können, ohne die Hilfe seiner Gesellen anzurufen? und wenn auch ihr Vertrauen, vielleicht gar ihre Liebe ihn unwiderstehlich in Heinrichs Augen hob, wer konnte dafür bürgen, ob sie unter seinem Schutze sicher sei, ob er sie gegen die Roheit seiner Verbündeten, gegen die Willkür des furchtbaren Hannikel, dessen Name halb Deutschland erfüllte, verteidigen könne? Ein tiefes Erbarmen gegen das törichte Kind entflammte sein Herz und verdrängte alle anderen Gefühle. »Ich muß sie retten!« rief er laut und gab dem Rappen die Sporen, daß er gestreckten Laufes auf der unebenen Waldstraße dahinflog.
Er war noch nicht weit von der Stelle entfernt, wo er diese Worte ausgerufen hatte, als eine dunkle Gestalt hinter einem großen Baume hervortrat und brummte: »Es ist doch eine schöne Erfindung um die Selbstgespräche; das wäre also der Retter, so sieht er aus. Noch ein paar Stunden Begleitung, und dann können wir ihn einen halben Tag zureiten lassen, bis wir wieder einmal nach ihm schauen.« – Sprach's und verschwand im Walde, aus welchem bald hernach gellende Pfiffe und verschiedene täuschend nachgeahmte Vogelstimmen ertönten.
Mitternacht war längst vorüber, als Heinrich die Grenze des Schwarzwalds erreichte. Ermüdet und unbekannt mit der in dichten Schatten gehüllten Gegend, kehrte er in einem Wirtshause ein, das er durch Fuhrleute aus dem Schlafe geweckt fand, und schlief einige Stunden auf einer Bank. Als die ersten Vorboten des Lichtes sich am Himmel zeigten, bestieg er sein Pferd wieder und zog den Mantel fester um sich; der anbrechende Tag brachte eine schneidende Kälte mit. In der Klarheit des Morgens überlegte er noch einmal den Plan, den er dem Herzog flüchtig angedeutet hatte: er wollte geradeswegs zu seinem Freunde Matthäus eilen, von dem er seit dessen Abgang auf eine der entlegensten Pfarren des Schwarzwaldes nichts mehr vernommen hatte, und daselbst unter dem Vorwand eines Besuches in der Stille nach allen Seiten hin Erkundigungen einziehen; in wenigen Tagen hoffte er den Aufenthaltsort der Flüchtlinge erfahren zu haben und sodann seine weiteren Maßregeln nehmen zu können.
Bald wurde die Gegend wilder, die Straße verengte sich und lief in vielfachen Krümmungen, der Gestalt des Tales sich anschmiegend, zwischen hohen Waldbergen fort, deren dunkles Grün, so matt es aussah, doch in einem tröstlichen Widerspruche mit der Jahreszeit stand.
Er mußte langsam reiten, sein Pferd war müde. Die Kälte hatte nachgelassen, und Heinrich fühlte sich erhitzt und durstig. Er erblickte eine Quelle, die, in eine hölzerne Röhre gefaßt, aus einer kleinen Vertiefung des Waldrandes klar hervorsprudelte; er stieg ab und fand, als er davon trank, ein angenehmes Sauerwasser, das ihn herrlich erquickte. Eine uralte Burgruine sah von einem steilen Berge über den Wald herab.
Sein Weg verließ jetzt das Tal, und er führte den Rappen eine schroffe Anhöhe hinauf, um über Berge und durch Schluchten immer tiefer in das Waldgebirge einzudringen. Eine rauhere Luft wehte ihn an, die Einsamkeit wurde immer stiller, wilde Schweine rannten ihm häufig über den Weg, selten begegnete ihm ein Mensch, den er nach der Richtung fragen konnte. An einem abgelegenen Gehöfte entschloß er sich, einen Führer mitzunehmen, und so sah er endlich am späten Nachmittag in einem tiefen Bergkessel das Ziel seiner Reise vor sich liegen. Er entließ den Führer und stieg einen Pfad hinab, der eher dem ausgetrockneten Bette eines Runsenwassers gliche vorsichtig das Pferd am Zügel nachführend und in wehmütigem Sinnen. »Welch eine frische Natur,« sagte er, »hat sich in diese starre Einsamkeit begraben! Was wird er sagen, wenn er mich erblickt! Wie mag es ihm wohl seither ergangen sein?« – Seine ganze Seele weilte bei dem Freunde, der sich hier unten in diesem engen Bezirke sein kleines Königreich abgesteckt hatte, und dazwischen durchzuckte ihn wieder der Gedanke an das zarte Wesen, das an einer gewiß noch unwirtlicheren Stätte in der Gewalt der wildesten Geister dieser Öde sein mochte.
Endlich hatte er den engen Talgrund erreicht, er saß auf und ritt auf die zerstreuten schlechten Hütten zu, welche das Dörfchen bildeten. Welche armselige Bauart! und doch hatte sie etwas, das ihn freundlich und wohnlich ansprach, es war eine Bekleidung von Schindeln, die, in schmale ziegelähnliche Stücke geschnitten und zierlich ineinander geschoben, die Wände der Häuser vom Giebel bis zum Boden gegen Schnee und Regen schützten. Die einen waren mit einem fröhlichen Rot angestrichen, den anderen hatte die Zeit ein ehrwürdiges, gastlich einladendes Grau gegeben. Er sah sich rings um, konnte aber weder eine Kirche noch ein Haus, das einem Pfarrhause ähnlich sah, entdecken und mußte wiederum die Hilfe eines Wegweisers ansprechen. Ein Bauernjunge führte ihn zu seiner Verwunderung gerade zum Dorf hinaus, und er wollte eben fragen, wie dies eigentlich gemeint sei, als sein kleiner Führer um das Eck eines der vorspringenden Berge herumbog und mit dem Finger vor sich hinwies. Heinrich sah noch einige Häuser in der Entfernung liegen, vereinzelt wie die übrigen; auf das größte ritt er zu, der Junge hatte ihn bereits verlassen. Als er näher kam, entdeckte er, daß das Haus einen bretternen Turm hatte, und schloß daraus, dies müsse die Kirche sein. Nun wandte er sich, einem richtigen Gedankengang zufolge, nach demjenigen, welches der Kirche am nächsten gelegen war. Es sah zwar nicht besser aus, als das schlechteste Bauernhaus im ganzen Örtchen, und sein Mantel von Schindeln mochte wohl der abgetragenste sein, aber der Kirche nach zu urteilen, konnte er nichts Besseres erwarten. Auf sein Rufen erhielt er keine Antwort; er stieg ab und band sein Pferd an einen Haken neben der Haustüre an. Diese hatte kein Schloß, sondern statt desselben einen Strick, der bei Tage dazu diente, sie durch Aufziehen des innern Siegels zu öffnen, und bei Nacht hereingezogen wurde. Das Haus war das letzte im Ort. Der erste Eindruck dieser Entdeckung war etwas unbehaglich, im nächsten Augenblick aber nahm er sie wie eine wohlersonnene Kriegslist auf. »Das ist's ja gerade!« rief er, »wer wird mich in diesem schutzlosen Hause suchen? Einen weniger in die Augen fallenden Aufenthalt hätt' ich mir nicht wählen können!«