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Sie sah sich im Kreise um und gewahrte eine häßliche alte Frau, in deren Mienen sie Teilnahme zu lesen glaubte. Es war doch ein weibliches Wesen, und mit einem Laut der Freude eilte sie auf sie zu. »Bei Euch will ich bleiben, gute Frau!« rief sie. »sei Eure Wohnung beschaffen, wie sie wolle, mir soll sie anständig sein! Gönnt mir einen Aufenthalt von ein paar Stunden, und dann begleitet mich, am liebsten zu Fuße, nach der nächsten Stadt. Es wird doch Beistand zu finden sein, ich bin ja nicht unter Türken und Tataren.« – Sie nahm sie dringend bei der Hand und zog sie fort, indem sie gegen den herantretenden Junker eine abwehrende Gebärde machte. Dieser aber gab der Alten hinterrücks einen Wink und ließ dieselbe ungehindert mit ihrem Schützling gehen. Seinen Dienern nahm er unter freundlichen und strengen Ermahnungen das Versprechen der Verschwiegenheit ab, ließ etwas davon fallen, daß man die Sache auf eine vernünftige Weise wieder in Ordnung bringen müsse, und begab sich, von ihnen gefolgt, in das Schloß.
Weg hast du aller Wegen.
An Mitteln fehlt's dir nicht.
Altes Kirchenlied.
Lottchen wurde von der Alten wieder durch den Torweg zurückgeführt, wo sie hereingefahren war; sie gingen seitwärts an einem Meiereigebäude vorüber, dessen freundliche Wände und neue Fenster der armen Verfolgten zu winken schienen. Aber ihre Hoffnung war vergebens: die Alte ging vorbei, ohne sich aufzuhalten, und bedeutete sie mit der Hand, rasch zu folgen. Hinter der Meierei zog sich der Weg längs des Schlosses hin und führte zu einem Turme, der eine abgesonderte Warte zu sein schien, aber mit dem alten Herrenhause in Verbindung stand. Die Alte schloß eine Tür an seinem Fuße auf und bat das Mädchen, einzutreten; Lottchen aber weigerte sich und wollte in der Meierei ein Unterkommen finden.
»Das geht nicht,« sagte die Alte, »wenn Sie bei mir sein wollen, Fräulein, so müssen Sie sich hier bequemen, denn hier ist meine Wohnung; der Meier ist unverheiratet, und Sie finden keine weibliche Seele in seinem Hause.«
Lottchen sah ihr genau ins Gesicht; es war nichts Verdächtiges darin zu lesen, und doch konnte sie sich nicht entschließen, ihr zu trauen. Ein rascher Gedanke fuhr ihr durch den Kopf; die Alte schien schwach von Kräften und in diesem Augenblick ohne Beistand zu sein – wie, wenn sie ihr entwischen könnte? Sie schaute schnell umher, aber ach, in der Ferne waren Leute auf dem Feld beschäftigt, gewiß Eigene ihres Entführers, die ihr die Flucht zu versperren drohten.
»Versuchen Sie's einmal,« fuhr die Alte fort, »das Nestchen ist nicht so unwohnlich, wie's von außen scheint. Kommen Sie nur, Sie werden sich wundern.«
Lottchen war zum Umsinken erschöpft; wenn sie Ruhe finden wollte, so mußte sie sich in ihre Lage fügen. Sie stiegen zwei Treppen hinan und betraten ein allerliebstes rundes Zimmerchen, mit etwas altmodischem Hausrate behaglich angefüllt; ein frisch überzogenes Bett auf der einen, und ein großer gemalter Ofenschirm auf der anderen Seite vollendeten die Ausstattung. Die Alte sagte, dies sei ihr Gaststübchen, und sie selbst wohne unten. Dann trippelte sie fort, um einen Kaffee zu kochen, brachte dazwischen Hauskleider und war ihrem schönen Gast beim Umkleiden behilflich. Lottchen verwunderte sich über den jugendlichen Schnitt der Gewande und erfuhr, sie gehören einer Nichte, die dann und wann zum Besuch hier erscheine, aber nur, wenn der Herr abwesend sei. Die Alte war, wie aus ihren Reden hervorging, seine Schaffnerin und das einzige Frauenzimmer, das er, einen zweideutigen Anstand beobachtend, in seinen Diensten hielt.
Bald dampfte auf dem Tischchen ein herrliches Frühstück, das überwachte, geängstigte Mädchen von Grund aus erquickend. Ihre Wirtin lud sie ein, sich zur Ruhe zu legen, und verließ das Zimmer. Lottchen ging gedankenvoll auf und ab und trat ans Fenster, von wo sie nach der Meierei und weiterhin über endlose dunkle Waldungen hinsah. Dann warf sie sich aufs Bett, gab sich der Pein ihrer hilflosen Lage hin, dachte an ihren ehrwürdigen Vater, an das Schicksal ihrer Schwester und weinte bitterlich. Endlich aber siegte die bis zum äußersten angegriffene Natur, und sie fiel in einen schlummerartigen Zustand, aus dem sie in unruhigen Träumen bald schluchzend, bald schreiend hundertmal wieder emporfuhr.
So zwischen Schlaf und Wachen hinschwebend, glaubte sie auf einmal in der Nähe ein Geräusch zu hören. Sie richtete sich auf und horchte, den Kopf auf den schönen Arm gestützt. Alles war wieder still. Da richtete sich ihr Auge zufällig auf den Ofenschirm, dessen seidene Wand an einigen Stellen zerrissen war, und sie sah ganz deutlich die Bewegung einer dahinter verborgenen Gestalt. Mit einem Schrei sprang sie vom Bett herab und eilte nach der Türe. Aber diese war geschlossen.
»Um Gottes willen!« rief Lottchen mit Entsetzen, »wer ist da?«
»Gut Freund!« antwortete die Stimme des Barons. Er entfernte den Schirm, hinter welchem statt eines Ofens eine kleine Türe zum Vorschein kam. Auch er schien geschlafen zu haben, denn er sah frisch und blühend aus und stand in einem knappen Jagdkleide mit entzückten Augen vor dem Mädchen, in dessen verändertem Anzug eine gewisse Aufforderung zur Vertraulichkeit für ihn zu liegen schien. Eh' er aber einen Schritt näher treten konnte, war sie von der Türe nach dem Tisch gesprungen, griff zum nächsten besten Gegenstand und schleuderte ihm eine Tasse entgegen, die ihm die Haare streifte und an der Wand in hundert Scherben zerfuhr. Noch hatte diese ihr Ziel nicht erreicht, als Lottchen schon die Kaffeekanne in der Hand hielt und drohend gegen ihren Angreifer schwang.
»Lassen Sie uns Waffenstillstand schließen, meine schöne Gefangene!« rief dieser und nahm sich einen Sessel in beträchtlicher Entfernung von ihr. »Stecken Sie ein, oder vielmehr, setzen Sie ab! Ciel, wenn Sie einen Mord begehen würden! Mein Justizamtmann seufzt schon längst nach einem Malefikanten, und dieser Götternacken wäre doch wahrlich zu gut für ihn. Legen Sie die Waffen nieder und respektieren Sie diese Friedensflagge.«
Er schwang sein Taschentuch mit Grazie gegen sie und setzte sich. Auch Lottchen nahm Platz, denn ihre Kniee zitterten, doch rückte sie den Tisch zwischen sich und ihren Feind und sah mit kampfbereiten Blicken nach ihm hinüber, keineswegs beruhigt durch den mutwilligen Ton, den er angenommen hatte.
»Sehen Sie,« eröffnete er die Friedensverhandlungen, »ich habe einen dummen Streich begangen; das ist mir jetzt sehr klar, und ich bekenne es freimütig. Nehmen Sie sich ein Exempel an dieser Aufrichtigkeit und gestehen Sie, daß auch Sie nicht ganz außer Schuld sind. Sie haben mir Hoffnungen eingeflößt, die ich jetzt mit Erstaunen getäuscht sehe, Sie haben mir Avancen gemacht –«
Bei diesen Worten war es der Jungfrau, als ob ihr das Herz von einer kalten Hand in der Brust umgekehrt würde. Sie fuhr empor und unterbrach ihn. »Wie?« rief sie, »erröten Sie nicht, ein Mädchen, dem Sie mit gutem Gewissen nicht in die Augen sehen können, so herabwürdigen zu wollen? Hätt' ich geahnt, wie grenzenlos meine vertrauende Freundlichkeit von Ihnen mißdeutet werden würde, o wie wollte ich Sie von Anfang an nach Verdienst behandelt haben! Trachten Sie nicht, meine unerfahrene Güte bei mir selbst zu erniedrigen. Es ist das Einzige, was ich noch habe, mein gutes Bewußtsein. Vergiften Sie es nicht mit Ihren glatten höhnischen Worten; nein, lieber werfen Sie die Maske ab, die Ihnen so übel steht, und brauchen Sie Ihre ganze Macht gegen mich! Lassen Sie Ihre feilen Knechte kommen –«
Der Baron sprang erbittert auf und stampfte auf den Boden. »Sie dürfen mich nicht lang mehr reizen,« rief er, »bei Asmodi und Belphegor, ich bin sehr gesonnen, nach Ihren Worten zu tun!«
Lottchen war einer Ohnmacht nahe, aber sie bot alle ihre Kräfte auf und rief emporspringend: »Gehen Sie, werfen Sie zuvor einen Blick in Ihren Adelsbrief, und dann kommen Sie wieder mit Ihren Henkern.«
Er sah ihr mit Bewunderung in die flammenden Augen. »Gott,« rief er unwillkürlich, »wie schön Sie sind! Nein, fürchten Sie nichts von mir. Aber auch Sie müssen sich mäßigen, wenn Ihre Sprache mich nicht zum Äußersten bringen soll.«
Er setzte sich wieder und gab ihr einen Wink, das gleiche zu tun. »Mort de ma vie!« rief er. »Sie kleine Heldin! Sie könnten ja eine ganze Reichsarmee aus der Fassung bringen. Wo haben Sie denn diese prachtvollen Augen her? Wie? was haben Sie da von dem Briefe gesagt? Es war glanzvoll gegeben! Nein, bei allen meinen Ahnen! das alte Pergament dürfte sich Ihrer nicht schämen. Gerade heraus! wollen Sie's mit mir teilen? wollen Sie? – Sehen Sie mich nicht so ungewiß an! Sie verstehen mich wohl. Keine Verstellung! wollen Sie?«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie wehrte sie ab. »Und wenn ich das für einen neuen Kunstgriff nähme,« sagte sie, »könnten Sie mirs verargen?«
Er sprang auf, trat vor sie hin und legte feierlich die Hand auf den Tisch. »Ich gebe Ihnen mein ritterliches Wort, daß es mein Ernst ist!« rief er. »Und im Vertrauen gesagt, es ist die vernünftigste Art, wie wir beide uns aus der Affäre ziehen können.«
Sie blickte eine Weile vor sich nieder, denn der letzte Grund hatte seine Wirkung nicht verfehlt; allmählich aber begann sie das Köpfchen zu schütteln, und immer stärker; dann sah sie ihn ernsthaft an und sagte: »Ich habe unrecht getan, Sie zum Schwur herauszufordern. Glauben Sie mir, wir taugen nicht zusammen; wir würden nicht glücklich sein.«
Er biß sich auf die Lippen und setzte sich. »Auch gut!« sagte er. »Es wäre vielleicht wieder ein dummer Streich gewesen. Nun also, da wir nicht zusammen taugen, wie machen wirs, daß wir auseinander kommen?«
»Geben Sie mich den Meinigen zurück!« rief sie innig bittend, »noch in dieser Stunde lassen Sie anspannen! Ich will Ihnen alles verzeihen! Sie können sich ja selbst vorstellen, daß das für meinen Ruf das beste ist.«
»Was kümmert sich ein so stolzes Bewußtsein um den?« versetzte er. »So ohne alle Bedingung kann ich Sie nicht loslassen – ich bin zu weit gegangen – wir müssen einen Traktat abschließen. Um Ihren Ruf brauchen Sie nicht besorgt zu sein, niemand weiß um das Geheimnis als die Ihrigen und ein paar meiner Leute, die schweigen werden. Und die Ihrigen –«
»Wissen gar nichts, als daß ich nicht nach Hause gekommen bin!« rief Lottchen. »Bedenken Sie doch nur, daß man überall fragen und klagen wird!«
»Wissen Sie was?« sagte er, »setzen Sie sich geschwind und schreiben Sie ein Briefchen, das ich augenblicklich durch einen Kurier absende. Sie sagen, Sie seien wohl, man möchte sich stille halten und die Aufklärung abwarten, oder wie Sie das geben wollen.«
»Nimmermehr!« rief sie empört, »das würde mich ja in ein ganz falsches Licht bei den Meinigen setzen. Sehen Sie, da hab' ich Sie wieder ertappt, daß Sie's noch immer nicht ehrlich meinen! Aber nur zu! Sie spinnen Ihre Ränke gegen sich selbst; wenn die Sache Aufsehen macht, so kann man auch Sie nicht schonen.«
»Sie können ruhig sein,« erwiderte er, »ich habe dafür gesorgt, daß man nicht nachforscht, nicht klagt, und daß überhaupt kein unnötiger Skandal gegeben wird. Fragen Sie nicht, ich sage nichts weiter. Und nun, meine schöne Freundin oder Feindin, welches von beiden Sie sein wollen, das hängt nicht so ganz von Ihnen ab, wie Sie meinen; denn je länger Sie hier mein Gast gewesen sind, desto mehr haben Sie Ursache zur Verschwiegenheit, und desto weniger hab' ich nachher von Ihrer Verfolgung zu fürchten. Auch gebe ich noch nicht alle Hoffnung auf, das Trotzköpfchen doch noch etwas zahmer zu machen; vielleicht taugen wir am Ende besser zusammen, als Sie sich bis jetzt schmeicheln wollen. Auf Wiedersehen, meine liebenswürdige Arrestantin – und, Scherz beiseite, Unritterliches haben Sie nichts von mir zu fürchten.«
Er verbarg Verdruß und Verlegenheit hinter einem imponierenden Lächeln, grüßte mit einer Handbewegung und verschwand nach der Seite, von welcher er gekommen war. Lottchen ließ es ihr erstes sein, an die von der Alten verschlossene Türe zu eilen und den Riegel von innen vorzuschieben. Hierauf setzte sie sich, um die völlige Entfernung des Barons abzuwarten und dann zu versuchen, ob der geheime Zugang, dessen er sich bedient, nicht auch für sie einen Ausweg hoffen lasse. Unruhig sprang sie wieder auf, ging nach allen Richtungen im Zimmer hin und her und trat endlich ans Fenster. Sie ließ die Augen ungeduldig und in die Wette mit den beneidenswerten Vögeln über die Wälder hinschweifen, da erblickte sie – nein! War er's, oder war er's nicht? Dort am nahen Waldsaum! Er war's! In dem Jagdkleide von vorhin, von einem Bedienten begleitet, der zwei Gewehre trug, ritt er in den Wald hinein, um die mißlungene Jagd mit einer glücklicheren zu vertauschen.
»Fort! fort!« riefen tausend Stimmen in ihr, »der Augenblick ist gekommen!«
Es klirrte an der größeren Türe; sie hörte, wie man von außen aufschloß und dann klinkte und drückte, da der innere Riegel widerstand. »Machen Sie doch auf!« rief die Stimme der Alten, »ich bringe Ihnen zu essen.«
»Ich begehre nicht zu essen!« erwiderte Lottchen und befahl dem verräterischen Weibe mit harten Worten, sich zu trollen.
Nun erst wagte sie, die unbekannte Gegend hinter dem Ofenschirme zu untersuchen. Das Türchen gab dem leisesten Drucke nach; es war nicht verschließbar, konnte also nicht zu ihrer Einsperrung, aber auch nicht zu ihrem Schutze dienen. Sie gelangte durch dasselbe in eine schmale Galerie, die ins Schloß hinüberführte, und deren Anblick ihr beim Kommen durch den Turm entzogen geblieben war. Am Ende der Galerie öffnete sie eine Türe und trat in eine Waffenkammer, wo rostige Schwerter, Lanzen, Morgensterne und Hellebarden mit neuen Jägerwaffen in bunter Zusammenstellung durcheinander lehnten und hingen. Einen flüchtigen Blick warf sie auf diese Gerätschaften und schritt ohne Verzug hindurch. Mit klopfendem Herzen flog sie auf die entgegengesetzte Türe zu, um ihr Heil an derselben zu versuchen. Aber ach, die Türe war von außen verschlossen, und um eine Hoffnung ärmer mußte Lottchen den Rückzug in ihr Turmgefängnis wählen. Sie trat jedoch diesen nicht an, ohne zuvor den Riegel vor die Türe gestoßen zu haben. Indem sie durch die Kammer zurückging, hatte sie den Einfall, ein paar Pistolen, die leichtesten, die sie finden konnte, und einen schön gearbeiteten Hirschfänger mitzunehmen, und sie erschrak vor sich selbst, als ein spiegelblanker Schild ihr zeigte, wie seltsam sie, die schüchterne Jungfrau, in dem Waffenschmuck erschien. Zum Überfluß verschloß sie auch die nach der Galerie zurückführende Türe fest, indem sie den rostigen Schlüssel mit äußerster Anstrengung mehrmals umdrehte. Dann untersuchte sie die Galerie genau. Dieselbe hatte keinen anderen Ausgang, und so überzeugte sie sich, in ihr Zimmerchen zurückkehrend, daß auf diesem Wege an kein Entkommen zu denken sei; doch hatte sie in ihrer Niedergeschlagenheit den Trost, in der Rüstkammer sich gegen jeden weiteren Überfall vom Schlosse her gesichert zu haben, und hoffte nun für ihre Erlösung auf eine spätere, stillere Stunde; denn die Nacht war sie fest entschlossen, nicht mehr in diesem Kerker zuzubringen. Sie setzte sich an das Tischchen, um ihren Plan zu machen. Es gab nur einen, und zur Durchführung desselben, in welcher Art auch diese erfolgen mochte, erkannte sie es für notwendig, die Alte, von deren Wiederkommen sie überzeugt sein durfte, friedlich ins Zimmer hereinzulassen. Sobald sie diesen Entschluß gefaßt hatte, verbarg sie ihre Waffen im Bette und legte sich im Gefühl der vollkommensten Sicherheit nieder, um den lang entbehrten Schlaf in die Arme zu schließen und Kräfte für die bevorstehenden Anstrengungen und Stürme zu sammeln. Aus diesem tiefen gesunden Schlummer wurde sie endlich durch ein anhaltendes Pochen aufgeweckt. Es dämmerte schon, als sie sich aufrichtete; sie rief, und die Stimme der Alten ließ sich zur Erwiderung vernehmen. Sie bat dringend um Einlaß. »Der Herr ist fortgeritten,« sagte sie, »und wird erst spät in der Nacht zurückkommen; er jagt mit einem Freunde. Nehmen Sie doch um Gottes willen einen Bissen zu sich; Sie müssen ja umkommen vor Schwäche! Und werfen Sie Ihren Zorn nicht auf mich; ich bin unschuldig und tue nur, was mir befohlen ist, aber auch kein Haarbreit darüber.«
Lottchen ging an die Türe und unterhandelte mit der Alten. Erst als diese bei allen Erzvätern und Propheten, bei den heiligen Wunden und beim Brief Pauli an die Korinther geschworen hatte, daß sie allein sei, schob das Mädchen den Siegel zurück. Die Alte war allein; sie trug ein Abendessen nebst einer Flasche köstlich duftenden Weines auf. Lottchen ließ sich das Essen herzlich schmecken; die Alte setzte sich ihr gegenüber und sah mit Behagen zu. Ihrer Ermahnung, den Wein zu kosten, wollte aber die Jungfrau keine Folge leisten, weil sie fürchtete, es möchte irgend etwas Hinterlistiges darin enthalten sein. Die Alte, um ihr diesen Verdacht zu benehmen, holte ein zweites Glas aus der Tasche hervor, schenkte sich ein und trank mit so handwerkmäßigen Zügen und so vergnügtem Schnalzen, daß die Gefangene sich alsbald das Mittel an die Hand gegeben sah, durch welches sie ihren Anschlag am sichersten und ohne alle Gewalt ausführen konnte. Sie überließ der Alten den Wein gänzlich, ohne ihr auf eine auffallende Weise zuzusprechen, verwickelte sie aber in ein lebhaftes Gespräch, das sie beständig nötigte, Lippen und Zunge anzufeuchten. An den Reden des dankbaren, treuherzig gemachten Weibes, das den gegen ein so rechtschaffenes junges Blut geübten Mutwillen bitter tadelte, merkte sie, daß sie von dieser Seite keine böse Absicht, keine freiwillige Feindseligkeit zu besorgen habe. Aber aus den redselig ausgesponnenen Mitteilungen der Alten über die Familienverhältnisse und sonstigen Beziehungen des Schloßherrn, selbst aus dem Freimute, womit sie von ihm Gutes und Böses durcheinander sprach, klang zugleich fortwährend eine Unterwürfigkeit heraus, die das vorsichtige Mädchen überzeugte, daß sie bei einer solchen an unbedingten Gehorsam gewöhnten Seele nicht auf Einverständnis und Hilfe rechnen dürfe.
Die Flasche stand leer auf dem Tisch, und noch war keine Wirkung von dem Weine zu verspüren. Die Zeit verrann, die Nacht rückte vor, der Verfolger konnte nun bald zurückkommen; und wie, wenn bei ihm ein inzwischen mit dem befreundeten Nimrod genossenes Glas auf andere Weise wirkte, als sie bei der alten Schwätzerin beabsichtigte?
Da war keine Zeit zu verlieren. Lottchen blickte ein paarmal lüstern nach der leeren Flasche und äußerte endlich ihr Bedauern, den Wein verschmäht zu haben, der vielleicht Arznei für sie gewesen sein würde. Dies gab der Alten Flügel; mit freudefunkelnden Blicken stand sie auf und eilte fort, eine neue Ladung zu holen. Lottchen rief ihr nach und bat, ihre Kleider mitzubringen, die sie morgen wieder anzuziehen gedenke; denn nicht ein Fetzen von ihr sollte als Trophäe in diesem Neste zurückbleiben!
Die Alte kam zurück mit den Kleidern und mit einem ziemlich großen Kruge Weins. Lottchen gab es zu, daß sie ihr das Glas bis oben füllte, und nippte zuweilen ein wenig daraus. Aber ein Höllengeist schien in dem Wein zu sitzen, denn die Alte, obgleich sie nachgerade kaum die Zunge mehr zu rühren vermochte, saß immer noch mit hellen Augen da. Der Krug war beinahe auf der Neige, als endlich der armen Gefangenen die Geduld zu schwinden begann. Schon blickte sie entschlossen nach dem Bette, wo die Waffen lagen, und war im Begriff, den Quälgeist mit vorgehaltener Pistole zu meistern, da begann die Alte laut und unanständig zu gähnen, noch einmal und zum dritten Male; ihre Augen wurden gläsern, und sie ließ das matte Haupt auf den Tisch sinken. Lottchen wartete noch ein wenig; aber nach einigen Minuten erklang eine heroische Schlafmusik, unter deren Orgeltönen das Mädchen getrost ihre Kleider zu einem Bündel zusammen machte. Ehe sie weiteres zu unternehmen wagte, öffnete sie das Fenster und horchte in die Ferne nach den Jägern. In den Wäldern war alles still, aber von der Meierei her vernahm sie lautes Gespräch und Gelächter. Sie suchte sich die Gegend und die Richtungen, die sie der Alten abgefragt hatte, genau einzuprägen. Dann schnallte sie sich den Hirschfänger um, steckte die Pistolen in den Gürtel, ergriff das Licht, nahm der Alten ihren Schlüsselbund von der Seite, wandte die Augen flehend gen Himmel, dann noch einmal auf die Schlafende und eilte zur Türe hinaus und die Treppen hinab. Unten war die Turmtüre geschlossen, aber einer der Schlüssel öffnete. Sie löschte das Licht, schloß den Turm wieder zu, blieb einen Augenblick lauschend stehen, warf dann Licht und Schlüssel weit von sich, und hast du gesehen? war das Vögelein entflogen.
Mit Widerwillen
betret' ich schaudernd diesen Pfad,
allein ich muß. –
Ein schauerlicher Ort, ein traurig Licht –
Ihr Götter, welch ein Nachtgesicht!
Goethe.
Alle himmlischen Gestirne hatten die Wacht bezogen, als Lottchen den Turm verließ, es war hell genug, um auch das kleinste Steinchen unterscheiden zu können. Der Abendstern stand noch am Himmel und schien ihr freundlich den Weg zu zeigen, den sie wählen sollte. Sie umging einen kleinen Hügel, an welchen die Meierei sich lehnte, und fand einen sanft ansteigenden Fußpfad, auf welchem sie nach der Seite, die sie sich vom Fenster aus gemerkt hatte, zu dem Walde kam. Ein tiefer Schauer faßte sie, als sie sich, zum ersten Male in ihrem Leben, ein hilfloses Mädchen, in einsamer Nacht seinen geheimnisvollen Schatten überließ. Aber die Gefahr, die sie hinter sich fürchtete, trieb sie unaufhaltsam durch die Schreckbilder, die ihr entgegentraten, hindurch.
Ihr Bündel wurde ihr beschwerlich, sie hielt an einem Gebüsche und öffnete es, um ihre eigenen Kleider über die anderen anzuziehen. Kaum war dies geschehen, so vernahm sie Stimmen in der Ferne und bald Fußtritte aus der Tiefe des Waldes. Sie verbarg sich hinter dem Gebüsch, aber wie ward ihr zu Mut, als sie beim Näherkommen die Stimme ihres ärgsten, gefährlichsten Feindes erkannte! Er war es wirklich; er kam zu Fuß, von seinem Jäger begleitet, der einen Hund an der Leine führte. Sie glaubte eine finstere Entschlossenheit in seinem Gesichte zu lesen; verzweifelnd zog sie den Hirschfänger und hielt eine der Pistolen, ach! mit ungespanntem Hahne, vor sich hin.
Der Hund schlug an; er hatte sie gewittert, so sehr sie auch den Atem zu unterdrücken strebte. »Hier steckt etwas, gnädiger Herr!« sagte der Jäger.
»Laß stecken!« versetzte der Baron verdrießlich. »Es ist kein Glückstag; ich mag nichts mehr heute.«
»Das ist kein Wild,« hub jener wieder an. »Sehen Sie, wie der Hund sich anstellt, er will ja das Seil zerreißen.«
»Nichts da!« rief der Edelmann lachend. »Was wird's am Ende sein als ein ehrlicher Kerl, der mir einen Hasen stiehlt! Leben und leben lassen! Vorwärts!«
»Das möge dir Gott vergelten!« flüsterte das Mädchen und sank, während die Schritte sich entfernten, halb ohnmächtig zu Boden; sie glaubte die Schläge ihres Herzens von allen Enden widerhallen zu hören. In der Ferne winselte der Hund, der an der Leine weiter gerissen wurde.
Der feuchte Tau, der ihr die Wangen netzte, und der kühle Nachtwind, der ihr durch die Locken säuselte, erfrischten sie und gaben ihr Mut, sich zu erheben und ihre traurige Pilgerschaft fortzusetzen. Sie stützte sich auf die blanke Waffe und wanderte dahin, so gut ihre wankenden Glieder sie tragen wollten. Der Steig führte zu Gründen nieder, wo es so finster war, daß sie über Baumwurzeln strauchelte, dann wieder zu freieren Anhöhen empor, wo die Lichter des Himmels ihr neues Vertrauen einflößten. Auch schwebten da und dort aus den Gebüschen grünschimmernde Leuchtkäferchen hervor; sie konnten ihr die öde schauerliche Finsternis nicht erhellen, doch begleiteten sie die Verlassene mit ihrem tröstlichen Lichte und mit der willkommenen Gesellschaft lebendiger Wesen. Zuweilen kreuzten sich die Pfade; sie wählte den ihrigen auf gut Glück und war bald über die eingeschlagene Richtung völlig ungewiß.
Lang, lang war sie so durch den Wald hingeirrt, von jedem Busch, der einen Arm in die Höhe streckte, von jedem fallenden Blatt, von jedem aufrauschenden Wild, oder wenn ein Vogel im Schlaf einen Laut von sich gab, bis auf den Tod erschreckt, als sie endlich einem breiteren Wege, den die Bauern zu ihren Holzfuhren benutzen mochten, begegnete. Die Sterne, allmählich von Wolken da und dort überzogen, beleuchteten ihn kümmerlich. Sie eilte auf ihm fort und fort und horchte zuweilen erschrocken zurück, wenn der Widerhall ihres Ganges sie mit dem Geräusch nacheilender Tritte betrog. Kaum konnte sie sich mehr auf den Füßen halten, als endlich der Wald wie zu einer Torwölbung auseinandertrat und sie ins Freie sehen ließ. Mit beflügelten Schritten, als ob der letzte Baum noch ein Ungetüm verberge, flog sie über die Waldöffnung hinaus, und als sie das Reich des Schreckens hinter sich hatte, setzte sie sich auf einen Stein und weinte vor Hoffnung und Furcht.
Der Weg senkte sich von da aus schroff ins Tal hinab. Es war etwas heller als zwischen den Bäumen, aber der Himmel umwölkte sich mehr und mehr, und ihre Augen, die forschend drunten umherschweiften, konnten nur so viel erkennen, daß dort freies Feld sich ausbreitete, so daß sie den größten Ängsten entronnen zu sein hoffte. Auch glaubte sie das Rauschen eines Wassers zu vernehmen. Dort unten mußte doch eine Menschenwohnung, ein menschlicher Empfang und Schutz vielleicht zu hoffen sein. Von Verfolgung hatte sie noch keine Spur wahrgenommen; sie lauschte noch einmal nach dem Walde hin; kein Ruf, kein Hundegebell weckte das nächtliche Schweigen auf, und nur der Nachthauch bewegte mit leisem Sausen die Wipfel der Bäume.
Sie verließ ihren Sitz und begann langsam den Berg hinabzusteigen. Je tiefer sie kam, je kälter wehte ihr die Luft entgegen, so daß sie ihre aufgelösten und verwirrten Kleider fest um sich zusammenzog. Es schien, als sollte dieser letzte Rest ihrer Reise noch schauerlicher und leidensvoller sein; denn die himmlischen Lichter, die sie so lang tröstend begleitet hatten, verließen sie jetzt ganz, und sie tappte in völliger Nacht auf einem ungewissen Boden fort. Dazu rauschte das Wasser näher und näher; sie erreichte es endlich und wagte keinen Schritt weiterzugehen. Aber die Kälte war trotz der doppelten Kleider empfindlich, und noch immer fürchtete sie Gefahr im Rücken. Die Nacht, in welcher ihr Auge nach und nach sehen lernte, ließ sie einen Steg erkennen, auf beiden Seiten ohne Geländer, aber breit genug, um auch in der Dunkelheit ohne allzu großes Wagnis hinüberzukommen. Mit Hilfe des Hirschfängers, der ihr als Stab diente, betrat sie ihn; er krachte und dröhnte unter ihr; die eine Angst trieb sie, blindlings dahinzulaufen, die andere hieß sie angewurzelt stillstehen, und lang dauerte es, bis sie wieder sicheren Boden unter sich hatte. Nun konnte sie den Weg rascher fortsetzen, dessen Grenzen Gehege zu beiden Seiten ihr bezeichneten und sie mit ihrer abstechenden Dunkelheit auch durch Krümmen und Wendungen richtig hindurchführten.
Sie mochte so einige Büchsenschüsse weit gegangen sein, als auf einmal eine große schwarze Masse vor ihr auftauchte und eine Menschenstimme, die sie schon seit einiger Zeit vernommen zu haben glaubte, näher und deutlicher ihr zu Ohren drang. Es waren tiefe feierliche Töne wie eines Betenden, die aber in dem Augenblick, da sie anhielt, verstummten. Sie stützte sich auf ihre Waffe und hielt Rat mit sich. Am liebsten wäre sie in den Himmel geflohen und hätte sich dem ewigen Vater weinend ans Herz gelegt, so bang und weh war es dem verlassenen, geängstigten Erdenkinde. Aber sie mußte doch vorwärts; sie konnte ja nicht hier in der Nacht umkommen wollen, und Gott ist überall, dachte sie, und gute Menschen auch.
Sie ging auf den formlosen Riesenschatten zu, ihre Hand griff an Stein, und sie tastete längs einer endlosen Mauer fort, von Pfeilern unterbrochen, bis sie eine halboffene Türe fand, vor welcher sie wieder zögernd stehen blieb.
Leise trat sie endlich ein, den Hirschfänger vor sich hinstreckend, und während dieser etwas Eisernes traf, daß es klirrte und wie ein Haken schwankte, fand sie mit der Linken etwas wie eine Bank, worauf sie sich, zusammenfahrend über das Geräusch, mit einbrechenden Knien niedersetzte. Da begann die nämliche tiefe und feierliche Stimme von neuem.
»Horch! da klirrt es wieder,« sprach sie, »da rasselt wieder einer an den Siegeln seines Grabes. Seid ihr noch nicht alle beisammen? Wankt noch da und dort einer verschlafen hervor, den die grenzenlose Leerheit und die ewige Sehnsucht aus seinem Kerker treibt? Noch verzeucht das Licht. Noch ist die Nacht nicht hin.«
Das Mädchen klammerte sich, angefesselt von Entsetzen, an ihren Sitz und starrte, von kalten Schauern durchrauscht, atemlos in das Dunkel hinein. War sie im Haus des Wahnsinns? War sie in eine Versammlung nächtlicher schlafloser Geister geraten? Jeden Augenblick fürchtete sie von einem angerührt zu werden, aber sie konnte nicht vorwärts und nicht zurück. Ihre Gedanken begannen zu kreisen, sie fühlte sich dem Wahnsinn nahe.
»Den kenn' ich,« sprach es weiter, »aber er gehört nicht hierher. Bist du mir nachgezogen aus der Ferne, herrschsüchtiger Vogt? Sieh mich nicht so finster und ingrimmig an! Ich war dir nicht feind, ich habe nur deinen Gewalttätigkeiten gerechte Dämme gesetzt. Was du leidest, leidest du nicht von mir; in dir selbst wohnet dein Gericht. – Da kommt noch einer, der jüngste derer, die da schlafen. Noch ist er nicht verfault, und schon treibt ihn das innere Gericht wieder unruhig hervor aus seiner Kammer. Armer Amtmann! Nicht wahr, die äußere Güte macht's nicht aus, und der äußerliche Anstand und das Wohlleben? Nun ist er verschwunden, der prachtvolle Weltsinn und der höfliche Stolz, dem der Geist Gottes eine Torheit war; nun ist der Anstrich abgefallen vom übertünchten Grabe; betroffen stehst du da und schüchtern, wie einer, der nicht das Herz hat, in vornehme Gesellschaft zu gehen. Deine Galakleider sind zu Lumpen geworden; flicke sie alle zusammen, sie geben kein hochzeitlich Kleid.«
Eine tiefe Stille entstand. War es der Nachtwind, war es etwas anderes, was schauerlich durch die öden Räume hinseufzte?
»Seid ihr nun alle da?« fuhr die Stimme fort. »Ich übersehe sie, die langen Reihen, die von den nimmer sättigenden Vergnügungen, von den nimmer beschwichtigenden Mühen des Lebens Ruhe suchen und keine Ruhe finden. Da sind die Kuttenträger von dem alten Baalsdienst her, eine ansehnliche Versammlung; sie haben ihre Toten begraben jahrhundertelang und sind ihnen nachgefolgt im geistlichen Tode; sie haben sich durstig getrunken am Weine Babylons und lechzen nach den Wasserströmen der ewigen Stadt. Harret eine kleine Weile! denn das Ende ist nahe. – Da sind auch meine eigenen Schafe, die ich, o nur allzuschlecht! gehütet habe. Euer Treiben ist verkehrt, ihr trotzige und verzagte Herzen. Einst schliefet ihr, da ich euch das Wort verkündigte; mit gähnendem Mund und gläsernen Augen ließet ihr meine väterlichen Ermahnungen vorüberwehen wie leichten Wind; aber jetzt, da ihr schlafen solltet in euren stillen Betten, jetzt wachet ihr und höret mit hungriger Aufmerksamkeit meinen Worten zu. Wie kommt das? Hättet ihr damals nicht geschlafen, so schliefet ihr jetzt. Darum bin ich zu euch gekommen, daß euer keins verloren gehe. Denn dazu, sagt Petrus, ist auch den Toten das Evangelium verkündiget, auf daß sie gerichtet werden nach dem Menschen am Fleisch, aber im Geist Gott leben. Ja, Meere von Nationen, die keine Zunge mehr zu nennen vermag, strömen in ihre Geisterkirchen und horchen auf ihre Prediger, daß sie alle vorbereitet werden auf jenen Tag, daß keines sich rechtfertigen kann; wir haben es nicht gewußt. Wie auch er einst hinabgefahren ist nach seinem Tode und hat geprediget im Gefängnis den Geistern derer, die ertrunken sind in der Flut. Seht ihr sie da, die Heiden, eure Väter, die einst in diesen Wäldern hausten? Sie sind alle da und hören mit aufrichtigem Herzen das Wort! Sie sind schon besser denn ihr. – Schüttelst du den Kopf? Geht es dir schwer ein? Freilich, du gingest mit den Kindern Gottes und hieltest dich für besonders gezeichnet. Auch andere Fromme sieht mein Auge, die ich nicht hier gesucht hätte. Warum ruhet ihr nicht von eurer Arbeit und habt eure Werke zur Decke und euren Glauben zum Kopfkissen? Ist die Decke kalt, ist das Kopfkissen hart? O, ihr wahrhaft Armen, ihr Bettler am Geist! Ihr habt nicht recht geglaubt, ihr seid nur dem Schall der Worte gefolgt und habt geklebt am Buchstaben! Ihr seid nicht christlich; ihr seid paulisch und kephisch und apollisch! Herunter mit der Hülle, die euch nichts hilft zum Seligwerden! Dazu verkündige ich euch das Evangelium, daß ihr gerichtet werdet am Fleisch. Denn jede Sünde kommt jetzt wieder und ist ein Hindernis. Nach Menschenweise habt ihr's verfehlt, und nach Menschenweise müßt ihr's büßen, zweifach, vierfach, siebenfach, je nachdem die Sünde gewesen ist; wie die Krankheit, so die Heilung. Aber je mehr ein Versehen geistlicher Natur ist, desto schwerer ist es, den Verlust wiederzubringen. Und muß doch alles hergestellt werden, alles vom Anfang der Welt; eher kann das Reich Gottes nicht kommen. Ich sehe ja Bergleute unter euch; laßt's euch von ihnen sagen, wie man das edle Metall von dem unreinen Erdenstoff scheidet. Das ist der Prozeß, den der große Chemiker mit euch vorhat. O, seid aufrichtigen Herzens, damit euch die unermeßliche Pein verringert werde! Es tut weh, wenn alles ausgeschmolzen wird, woran die törichte Seele hing. Sehet auf das ewige Gut, auf das gediegene Metall, das keinen Rost annimmt, und lasset die nichtigen Schlacken fahren!«
Er seufzte und betete; dann fuhr er fort: »Manche Nacht habe ich euch das Evangelium verkündigt, daß ihr sollt gerichtet werden am Fleisch, aber vernehmet nun auch, daß ihr danach Gott leben sollet im Geist. Siehe, ich verkündige euch eine fröhliche Offenbarung und ein großes Geheimnis! Ein Geheimnis, das den Lebendigen verborgen sein soll, weil sie sonst in Sicherheit wandeln würden. Höret, was der Geist den Gemeinden sagt! Euer Gericht wird nicht ewig dauern. Der große Chemiker wird seinen Prozeß vollenden; er ist kein Zuchtmeister, sondern ein Arzt, und eure Strafen sind keine Strafen, sondern eine Heilung, und das Höllenfeuer ist nicht nur ein Feuer der Qual, sondern ein Feuer des Schmelztiegels, in dem ihr rein werdet, um würdig einzugehen in die ewige Stadt. Siehe, ich rede von dem Geheimnis der Wiederbringung aller Dinge. Noch eine Zeit, und Zeiten, und eine halbe Zeit, dann werden die Schalen seines Zornes ausgeleert und die Plagen werden vorüber sein und eure Schlacken ausgebrannt, und seine heilige Tinktur wird euch ein neues gesundes Blut schaffen. Dann werden alle Nationen der Erde zu ihm kommen, und die Sterne werden ihre Völker hergeben, der Himmel wird auf Erden sein, und der zweite Tod wird seinen Raub herausgeben zum ewigen Leben, das Nichtige wird nicht mehr sein und Gott alles in allem, Selig, selig alle Völker! Danket ihm, der den Tod verwandelt hat ins Leben! Heilig, heilig ist der Herr! Sein Tag ist nahe, und seine Dämmerung rieselt durch die Nacht. Sein Friede sei mit eurer Angst, und sein Licht wehe in eure Schatten! Amen! Amen!«
Die Jungfrau lauschte noch der furchtbaren und doch lieblichen Stimme, als sie schon lang verklungen war. Da rasselte es hoch über ihr, ihre Haare sträubten sich – es hob aus, und zwölf Glockenschläge fielen hintereinander; sie mußte sie widerstrebend nachzählen, und von jedem glaubte sie sich tiefer in den Boden geschlagen zu fühlen. Mit dem letzten Schlage ward es glänzend hell um sie; sie meinte schon den schrecklichen Tag anbrechen zu sehen, von welchem die Stimme gesprochen hatte. Aber es war der Mond, der hinter den Bergen heraufsteigend und die Wolken zerstreuend in das Fenster trat. Sein Licht zeigte ihr, wo sie war; eine Kirche dehnte ihre unermeßlichen Räume über ihr aus – so schienen sie wenigstens in der phantastischen Beleuchtung – und leere Stühle umgaben sie rings; sie selbst aber saß – nie hatte ein Mädchen es so unverdient eingenommen! – auf dem Armensünderbänkchen.
Nachdem sie so ihre nächste Umgebung geprüft hatte, wagte sie die Augen weiter schweifen zu lassen. Von der schauerlichen Zuhörerschaft war nichts zu sehen. Sie blickte schüchtern nach der Kanzel und dem Prediger. Dort stand er! Abgewandt von ihr ruhte er mit dem Angesicht auf den gefalteten Händen und schien still zu beten; eine schwache Zugluft spielte mit seinen weißen Haaren. Es schien der Geist eines alten Seelenhirten zu sein, den der Berufseifer nächtlich aus seiner Ruhe hervortrieb, um seinen stillen Nachbarn Aufmunterung und Trost zu bringen.
Aber wie ward ihr, als er sich erhob und vor seinem Abgang noch einmal die Kirche übersah, ob an seiner unsichtbaren Gemeinde noch eine Pflicht zu erfüllen wäre. Sein Auge fiel auf sie und ruhte prüfend auf ihr. Sie wagte sich nicht zu bewegen.
Er öffnete den Mund. »Bist du allein noch da,« sprach er, »du bange Seele? Siehe, die anderen sind in ihre Kammern gegangen, geh auch du in deine Kammer. Warst du vielleicht eine unkluge Jungfrau und hast deine Lampe mit falschem Öl genährt, mit Augenlust und Fleischeslust? Sei getrost, deine Sünden sind nicht die schwersten, sie sterben ab mit diesem schwachen irdischen Leibe. Du wirst aus dieser Wurzel des Todes in ein neues verherrlichtes Leben aufwachsen. Fülle deine Lampe mit dem Öl der Gnade und gehe heim in deine Kammer.«
Er streckte die Hand wie zum Segen gegen sie aus, verließ die Kanzel und ging langsam an den leeren Kirchenstühlen herunter. Als er ihr gegenüber war, wandte er sich nach ihr und blieb verwundert stehen. »Noch immer nicht zur Ruhe?« sagte er, »hast du denn ein besonderes Anliegen? – Wie? du trägst ein Schwert in deiner Hand? Und das Malzeichen der Liebe, nicht der schwachen, sündigen, ist auf deiner Stirne? Bist du ein Bote der ewigen Gerechtigkeit und bringst eine strenge Botschaft, scharf wie ein zweischneidig Schwert? Tue deinen Mund auf, ich bin bereit zu hören.«
Er wartete auf eine Erwiderung; da das zitternde Mädchen aber schwieg, so schüttelte er das Haupt und schritt ruhig auf sie zu. Es war ihr, wie man von den kleinen Vögeln erzählt, die durch den Blick der Schlange gebannt sind, sie mußte die immer näher kommende Erscheinung unverwandt anstarren und vermochte kein Glied zu rühren. Erst als er nur noch zwei Schritte von ihr entfernt war und die Hand ausstreckte, da wich der Zauber von ihr, sie tat einen gellenden Schrei und ergriff die Flucht. In der furchtbaren Angst aber verfehlte sie den Ausgang und geriet mitten zwischen die Stühle, wo sie in Ohnmacht sank.
Als sie wieder zu sich kam, fühlte sie zuerst eine Hand auf ihrer Stirne, kalt zwar, aber doch von Fleisch und Bein; sie fühlte die Eindrücke der Finger und aller Teile einzeln und zusammen, und dies gab ihr ein Gefühl der Wirklichkeit. Sie wagte, die Augen aufzutun, und sah in zwei scharfe feurige Augen, die sie liebreich anblickten. Sie saß in einem Kirchenstuhle neben dem Prediger, den Kopf an seine Brust gelehnt; er hatte ihr die Hand aufgelegt und beugte sich über sie herab. Sie überzeugte sich, daß es ein Lebendiger sei, ein Greis von ehrfurchtgebietendem Aussehen und von einer Milde, die jeden unheimlichen Gedanken verbannte. Ruhe und Vertrauen drangen aus diesen Augen in ihr Herz, aber ihr Körper bebte vor Frost unter den Nachwehen des Schreckens und in der nächtlichen Kälte. Der Greis, von dessen Worten vorhin die große Kirche widerhallt hatte, sprach jetzt nichts mehr; er stand auf, nahm sie stillschweigend bei der Hand und führte sie fort. Sie verließen die Kirche und kamen über ein Steinpflaster, das mit Gras fast überwachsen war, zu einem weitläufigen Gebäude, welches ein Kloster zu sein schien.
Ein schwaches Licht brannte hinter einem Fenster. Sie trat an der Hand ihres Führers ein. Oben an der Treppe kam ihnen eine Frau mit dem Licht entgegen, dem Aussehen nach eine Haushälterin; sie war in mittleren Jahren, Stille und Rechtschaffenheit sprachen aus ihrem Gesicht, das jetzt von Besorgnis zu Verwunderung überging. Sie schien aber nicht gewohnt, unnötige Fragen zu tun, empfing gelassen das Mädchen aus der Hand des alten Herrn, der sich stumm entfernte, und führte die Zitternde, Erschöpfte in ein einfaches Zimmer mit einem bereit gehaltenen Bett, wo sie ihr beim Auskleiden half und sie nach wenigen Minuten schlafend verließ.
Aus einem tiefen todähnlichen Schlafe wurde Lottchen durch die Sonnenstrahlen geweckt, welche durch einen offen gebliebenen Fensterladen auf ihr Bett fielen. Sie fuhr auf, erschrocken über die fremde Umgebung, und hatte Mühe, sich auf die Ereignisse des gestrigen Tages zu besinnen. Noch blieb ihr vieles rätselhaft, aber ihr erstes Gefühl war, dem unsichtbaren Lenker ihrer Schicksale zu danken, und ihr zweites Anliegen, einen Boten nach Stuttgart zu schicken. Sie kleidete sich schnell an. Daß sie in guten Händen sei, sagte ihr schon ein gewisses Etwas in der Ausstattung des Zimmers, die anständig, bescheiden, heimatlich war und ein Gefühl der Sicherheit hervorrief. Sie öffnete eine Nebentüre und trat in ein leeres Studierzimmer, das mit Schreibgeräte reich versehen war. Als ob sie zu Hause wäre, setzte sie sich, wie sie beim Vater dann und wann zu pfuschen gewagt hatte, in den Lehnstuhl am Schreibtisch, kritzelte drei Zeilen hin, faltete den Brief und ging hinaus, um sich jetzt nach ihren Wirten umzusehen.
Auf dem Gange kam ihr die Haushälterin entgegen, mit einem Gesicht, das so frisch gewaschen, ehrlich und wohlwollend aussah, daß man ihr auf den ersten Blick freundlich gesinnt sein mußte. Sie war verwundert, den seltsamen Gast schon so früh wach zu finden.
»Ich habe sogar schon einen Brief geschrieben,« erwiderte Lottchen, »und bitte Sie dringend, ihn sogleich durch einen Reitenden nach Stuttgart zu senden. Der Bote darf auf eine gute Belohnung rechnen. Er soll mündlich hinzusetzen, wo ich sei und wo man mich abzuholen habe. Dasselbe wünschte ich jetzt von Ihnen zu erfahren.« Die Haushälterin rief einen Knecht, dem sie den Brief zur Besorgung übergab, dann führte sie Lottchen zum Frühstück und befriedigte ihren Wunsch umständlich. Das Mädchen erstaunte nicht wenig, zu vernehmen, daß sie sich im Hause eines vielgenannten, wegen Mysticismus angefochtenen, weit allgemeiner aber um seiner lautern Frömmigkeit willen verehrten Würdenträgers der Landeskirche befinde, von welchem sie bei ihrem Vater oft als von einem Manne der alten Zeit reden gehört und den sie schon längst tot geglaubt hatte.
»Auch ist er tot,« sagte die Haushälterin, »aber es scheint nur äußerlich so. Innen ist er noch voll Lebens; jedoch von der Welt weiß er nichts mehr, auch tut er selten den Mund auf, und niemals kommt ein Wort über seine Lippen, das vom täglichen Leben handelt.«
Lottchen dachte dem wunderbaren Geschick nach, das ihr diesen Mann vor seinem Ende noch zu schauen vergönnt hatte.
»Da können Sie ihn in seiner ganzen Art sehen,« rief die Haushälterin vom Fenster her und winkte ihr.
Sie trat hinzu und sah in den Hof hinab. Dort saß der Mann, dessen Wissenschaft manchen Gelehrten beschäftigte, in all' seiner Ehrwürdigkeit am Boden mitten unter einer blühenden Kinderschar, die ihn fröhlich umgab und mit ihm spielte. Zuweilen kroch eines an ihm hinauf, streichelte seine weißen Locken und küßte ihn.
Lottchens Augen füllten sich mit Tränen. »Wohl dem, den Gott lieb hat!« rief sie aus.
»Sie sagen, er sei kindisch geworden,« fuhr die Haushälterin fort, »denn mit diesen spricht und spielt er stundenlang. Auch gibt es unnütze Leute, die mir zureden, ich solle es nicht leiden. Ich möchte ihm nur auch so was sagen. Da würde er mich mit einem einzigen Blick ansehen, daß ich den Mund hernach nicht wieder auftäte. Wer ihm in die Augen gesehen hat, der wird nicht behaupten, daß er kindisch sei. Oft und viel geht er bei Nacht in die Kirche, daß ich in großen Sorgen auf ihn warten muß. Man hört ihn dann oft lang predigen; was er aber predigt, darauf bin ich nicht fürwitzig, denn es ist nicht meines Amts.«
Lottchen hätte es ihr sagen können, aber sie schwieg und sah zum Fenster hinaus. Ihr Auge verweilte auf den waldigen Höhen, von welchen sie in der vergangenen Nacht herabgekommen war. Es lag nichts Schauerliches mehr in ihrem Dunkel; sie waren ernst aber freundlich, und die Engel der Heimat schienen darüber zu schweben.
In der Ferne hörte man durch die stille Gegend den Hufschlag des Boten, der nach Stuttgart ritt. So heimisch sie sich in diesem Hause fühlte, so lag ihr doch daran, mit ihrer Rechtfertigung nicht zu zögern, und bald fand sie noch einen anderen Grund, dem Boten Flügel zu wünschen. Schon beim Frühstück hatte sie keinen Appetit empfunden; jetzt aber fühlte sie, wie ein jäher Schwindel ihr nach dem Haupte emporstieg. Die Gegenstände verschoben sich vor ihren Augen; sie wankte und mußte zu Bette gebracht werden, wo sie in heftige Fieberschauer verfiel.
Gegen Abend siegte ihre kräftige Natur; die sorgsame Pflegerin flößte ihr einen kühlenden, von ihrem Herrn bereiteten Trank ein, und sie sank in einen sanften Schlummer, in welchem sie vom elterlichen Hause, vom Vater und von Heinrich träumte. Als sie erwachte, saß der alte Geistliche an ihrem Lager; er hatte ihr wieder die Hand auf die Stirne gelegt und sah ihr mit freundlichem, tief dringendem Blick in die Augen. Endlich erhob er sich und beugte sich über ihr Antlitz. »Selig,« sagte er mit seiner feierlichen Stimme, »selig sind die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«
Er verließ das Zimmer. Sie stand auf, genoß eine kräftige Erquickung und fühlte sich vollkommen genesen. Kaum hatte sie Speise zu sich genommen, so fuhr ein Wagen in den Hof, und der Expeditionsrat stieg aus, der sie, nachdem er ihr in die hellen Augen gesehen, achtungsvoll, ja mit einer gewissen Demut behandelte. Er schickte sogleich einen Boten zu dem verwegenen Edelmann und beschied ihn hierher.
Der Expeditionsrat und seine Frau hatten an jenem Theaterabend zu ihrem großen Befremden durch einen unbekannten Diener die Nachricht erhalten, daß Lottchen im Theater eine Freundin getroffen habe, mit der sie noch in derselben Nacht heimgereist sei. Sie warteten den folgenden Tag auf eine nähere Erklärung und Entschuldigung, und als diese ausblieb, wurden am nächsten Morgen ihre Kleider zusammengepackt und ein spitziges Schreiben beigeschlossen, welches eben abgehen sollte, als der Bote mit Lottchens Brief kam. Der Expeditionsrat, von seiner leichten Unpäßlichkeit hergestellt, machte sich in größter Eile auf den Weg zu ihr, so daß er die nicht unbeträchtliche Entfernung mit Anbruch der Nacht zurückgelegt hatte. Sie brachte diese noch in dem ihr so lieb gewordenen Hause zu, bat aber ihren Schwager, sie den anderen Tag auf dem nächsten Weg zum Vater zu geleiten, wozu er auch nach einigen dringenden Einwendungen sich bereit erklärte. Er fühlte, daß er ihr, wenn auch mehr im Namen seiner Frau als in seinem eigenen, ein großes Unrecht abzubitten hatte.
Nicht so nachgiebig zeigte er sich gegen den Baron, welcher am Morgen gehorsam und demütig wie ein Lamm herüberkam. Der von Natur nicht bösartige junge Mann, welchem Lottchens zu spät entdeckte Flucht in unwirtlicher Nacht einen tödlichen Schrecken eingejagt hatte, zeigte sich von Reue ganz zerknirscht und bot wiederholt jede beliebige Genugtuung an; der Expeditionsrat aber schien die Gelegenheit gern zu ergreifen, um den Hausfreund loszuwerden, der ihm in mehr als einer Hinsicht lästig geworden sein mochte. Dieser mußte sein Ehrenwort geben, das Land auf zehn Jahre zu verlassen und die Diener mitzunehmen, welche bei seinem unsinnigen Streiche beteiligt gewesen waren; beiderseitige Verschwiegenheit verstand sich von selbst, Nur unter dieser Bedingung versprach der ernste, vom Herzog persönlich vorgezogene Geschäftsmann, von der bittersten, mit seinem ganzen Einfluß unterstützten Verfolgung, ja von öffentlicher Beschimpfung abzustehen. Eine ehrenvolle Entlassung aus den fürstlichen Diensten erbot er sich zu vermitteln.
Lottchen kehrte nach Hause zu ihrem Vater zurück, der jedoch, solang er lebte, kein Wort von diesen Begebenheiten erfuhr. Ihre Gesundheit hatte mit dem schnell vorübergegangenen Sturme allen weiteren Folgen vorgebeugt, aber in ihrem Gemüte blieb ein tiefer Eindruck haften. In allen Lagen und Stimmungen des Lebens, selbst in den fröhlichsten Stunden, ruhte fortan ein Geist des Ernstes auf ihrem schönen Angesicht, der alle, die ihr nahe kamen, wunderbar ergriff.
Wir sind so arm, wir sind so müd;
Warum, wir wissen's kaum,
Wir wissen nur, das Herz verblüht,
Und alles Glück ist Traum.
E. Geibel.
Wer vermöchte es, die traurigen Tage und Nächte, die unser armer Freund seit jenem verhängnisvollen Abend durchlebte, zu beschreiben? Das Mädchen, mit dem er einst Auge in Auge eins gewesen, sollte über dem hohlsten aller Schwätzer ihn und sich selbst vergessen haben! Er mußte sich das immer wieder vorsagen und tat es mit verwundertem Kopfschütteln; es war nicht wie eine Überzeugung, die von Grund aus den Geist durchdringt, es war wie ein oberflächlicher Glaube, der buchstäblich nachgesprochen und hundertmal wieder weggeworfen wird. Oft versuchte er, um sich in mathematischer Gewißheit zu erhalten, alle einzelnen Umstände, die er mit angesehen, ihr Einsteigen, den triumphierenden Blick ihres Begleiters und das Davonrollen des Wagens sich vorzumalen; mit einem seltsamen Lächeln schaute er seinen qualvollen Bemühungen zu, dann fühlte er einen Schlag, der sein ganzes Wesen umkehrte, und immer wieder brach der gewaltige Schmerz durch alle Dämme hindurch. Jetzt erst fühlte er, wie tief sie ihm ins Herz gewachsen war, und in stillen Stunden, wo die Außenwerke, welche der Mann gegen seinesgleichen aufführt, keine Dienste zu tun hatten, glich dieses Herz einem weinenden, bloßgegebenen Kinde, das seine Mutter verloren hat.