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Sein Gastfreund trat herein und blickte ihn wohlgefällig an. »Wer A gesagt hat,« begann er, »muß auch B sagen, Herr Vetter! Ihren Kleidern sieht man wohl an, daß sie einmal recht proper gewesen sind, aber die Schwarzwälder Luft hat ihnen den Glanz genommen. Nun haben wir hier einen Schneider, einen gereisten Mann, der bei den Sachsen gewesen ist; er arbeitet für unsere jungen Ratsherren und hat neulich sogar einem Lizentiaten, der unserem Gevatter Syndikus den alten Rock wenden möchte, einen Habit machen dürfen. Wie wär's, wenn Sie ihm auf mein Wort Ihr Zutrauen schenkten? Und noch eins: mich würde es freuen, wenn Sie ohne Umstände das grüne Beutelein da von mir nehmen wollten; es ist nicht viel drin, und Sie werden auch schwerlich Geld bei uns nötig haben, aber ich kann mir vorstellen, daß es doch immer verdrießlich ist, wenn man nichts in der Tasche hat.«

Heinrich steckte errötend die Börse ein und drückte dem wackeren Manne die Hand; dann erwiderte er: wenn er sich nur nicht vor Serenissimo verbergen müßte, so könnte er über den mäßigen Kleidervorrat, den er zu Stuttgart besitze, verfügen; auch liege in seinem Schreibtisch noch eine kleine Summe Geld, statt deren er aber lieber ein Guthaben daselbst einzukassieren wünsche.

»Schreiben Sie gleich das Nötige!« rief der Bürgermeister, »es geht durch eine sichere Hand, wo Sie gewiß sind, nicht verraten zu werden. Eilen Sie, es hat keinen Verzug.«

Er zog ihn ins Haus hinüber, wo ihnen Gretchen entgegenkam. »Soll ich jetzt den Sachsenschneider kommen lassen, Vater?« fragte sie.

»Gib dem Herrn Vetter unterdessen meinen Hochzeitrock,« erwiderte er.

Die junge Frau lachte herzlich und holte das wohlerhaltene Ehrenkleid, um es dem jungen Manne, nachdem die Anweisungen geschrieben und vom Bürgermeister ohne weitere Erklärung abgeschickt waren, mit großer Feierlichkeit anzulegen. Dann umging sie ihn und betrachtete ihn mit neckischer Bewunderung von allen Seiten.

»Ich komme mir vor wie ein Kavalier vom Hofe Ludwigs des Vierzehnten,« sagte Heinrich.

»Ja,« versetzte der Bürgermeister, »so ein Stück hält länger als Eure neumodischen Fetzen.«

»Es hat aber auch keine Schwarzwaldreise mitgemacht!« rief Heinrich.

»Ich wünsche nur,« sagte Gretchen, nach ihrem schreienden Kinde laufend, »daß Sie bald ihren eigenen Hochzeitrock anziehen möchten.«

»Und daß dessen Glanz der liebe Gott vor aller und jeder Schwarzwaldluft bewahren möge, Amen!« fügte ihr Vater hinzu.

Heinrich zuckte schmerzlich zusammen, fuhr aber mit Scherzreden fort, und als beide ihren Geschäften nachgingen, setzte er sich zu den schnell wieder herbeigeschafften Chroniken und alten Büchern, wie ein Sohn im elterlichen Hause, der seine Ferien nicht ganz müßig verdämmern will.

Am folgenden Tag, als man eben bei Tische saß, wurde ein Pack abgegeben, der seine Kleider enthielt. Der Bürgermeister sagte lachend: »Sie werden glauben, wir hätten eine Extrapost oder gar eine Hexenpost, aber es war eine unvergleichliche Gelegenheit, die nicht alle Tage kommt. Ja, wenn's der Herzog wüßte!«

Heinrich hielt ihm ein Blatt hin, das zwischen den Schnüren des Packs gesteckt hatte. Um nicht fremde Leute über seinen Schreibtisch zu schicken, hatte er sich an einen Stuttgarter Buchhändler gewendet, bei dem er noch einen bescheidenen Posten für eine literarische Arbeit gut hatte, und dieser wies ihn an einen Kollegen in Reutlingen an.

»Der Mann ist solid, Herr Vetter!« sagte der Bürgermeister, nachdem er gelesen hatte, und schickte das Blatt augenblicklich fort. Es dauerte nicht lang, so klopfte es an der Türe, und ein wohlkonditionierter Mann mit verwogenem Antlitz schob sich herein.

»Da ist der Herr Vetter Buchdrucker selbst!« sagte der Bürgermeister.

» Quos ego, illustrissime! Ich wollte mir das Vergnügen nicht versagen, den Saldo ipse zu behändigen,« rief der Eintretende und zählte einen Haufen blanker Zwanziger mit dem Adler auf den Tisch.

Das Geschäft wurde schnell beendigt, während Heinrich Mühe hatte, das Lachen zu verbeißen; denn er erinnerte sich, daß Schiller von den lustigen Freunden beim Anblick der löschpapierenen Exemplare seiner Räuber beständig beschuldigt worden war, er stehe im Solde der Reutlinger Presse. »Das ist kein Löschpapier!« sagte er, auf das Geld deutend, mit mutwilliger Verbindlichkeit.

»Nein, Sie!« war die Antwort des Verlegers, »das ist, was die Ehninger Krämer Raspesbones zu nennen pflegen. Aber, Sie! verachten Sie mir das Löschpapier nicht! Das Löschpapier, Sie! ist das Prisma vitae, die Butterbrühe des Lebens, und hat mich von der untersten Schwermut bis auf die Polhöhe meines Daseins emporgehoben, während ich mir eine Nationalsäule verdient habe durch Befreiung des armen Publikums von seinen Blutsaugern. Sie! der Schmieder in Karlsruhe hat den Romanen des braunen Mannes eine Zueignung an den Sultan vorgedruckt, worin er seinen Nachdruck verteidigt; der meinige verteidigt sich selbst, denn er hat den Amazonenstrom des Lebens in die ärmste Hütte geleitet, wo die Mäuse auf der Kasse pfeifen. Die Buchhändler machen sich nur um ihre Seckel Fortunati verdient; ich bin der erste, der für die Nation gearbeitet hat. Und die schönen und großen Geister Deutschlands in ihren wohlfeilen löschpapierenen Kitteln, sie sind eben doch populär geworden! Ich hab' ihnen die wahre Uniform des Genies angezogen, nach dem Spruch des Apostels von der Demut des Lebens. Sie! wenn Sie mir einen jungen Gelehrten wüßten, so einen Mann mit des Genies gefährlichem Ätherstrahl – ich bin riskanter als Ihr Metzler, der dem guten Herrn Schiller seine Räuber mit einer frommen Strafpredigt heimschlug. – Sie! wir zwei, nämlich ich und das junge Genie, das ich meine, um nicht deutlicher zu signalisieren, wir könnten etwas zusammenmachen. Denn es ist mehr zu tun, als bloß in der Dummheit des Lebens nachzudrucken; wenn man die Sachen zweckmäßig bearbeiten würde, die Hobelspäne des Genies wegraspeln und – alles mit Gott, in Gott und durch Gott, à la Johann Kaspar Lavater – und Moral einlegen, Schnitzbrühe des Lebens mit etwas Pfeffer dran, dann gäb's erst das wahre Manna für die Nation. Und dann bin ich kein Geldpharao, kein Mammonshornvieh: wenn der Besagte Lust hätte, sich auf den Frachtwagen des heiligen Ehestandes zu setzen, so wollte ich ihm eine literarische Kopula des Lebens anschirren, daß ihm das Herz im Leibe springen sollte wie der König David vor der Bundeslade. Ich wollt' ihm die Deichsel schmieren und die Räder salben, daß ihm's gelb vor den Augen werden sollte vor lauter Barem und grün vor lauter Künftigem. Sie? Was meinen Sie? hm?«

Unser Freund, der nun einmal bestimmt war, verschiedene merkwürdige Anträge zu erhalten, sagte fast mit denselben Worten wie neulich, nur um vieles heiterer, er wolle sich's bedenken, und entließ den Mäcenas mit den besten Hoffnungen.

Heinrich brach, als die Türe sich hinter dem Abgehenden geschlossen hatte, über seinen wundersamen Stil in ein unauslöschliches Gelächter aus, und der Bürgermeister sagte. »Ich weiß auch nicht, wo er diese Ausdrücke her hat. Aber dumm ist er nicht. Er hat als Ehninger Krämer angefangen, und jetzt ist er ein Mann, den ich nicht auskaufen möchte.«

»Also würden Sie mir raten, mich mit ihm einzulassen?«

»Bei Leibe nicht, Herr Vetter! Nur keine Schriftstellerei, weder hier noch anderswo! Es ist kein rechter Beruf, und also ist auch kein Segen drin. Auch hab' ich mir sagen lassen, daß es ein Leben sei, ärger als bei Zigeunern und Kesselflickern.«

Er warnte ihn aufs dringendste, und Heinrich mußte seinem alten Freunde förmlich versprechen, daß er, etwaige Versuche in berufsfreien Nebenstunden abgerechnet, sich niemals mit diesem unehrlichen Gewerbe abgeben wolle.

Der Syndikus trat ein, mit dem Vorschlage, den Herrn Vetter auch einmal irgend wohin zu führen. Heinrich sah voraus, was kommen würde. So gewiß er in diesen zwei Tagen schon zweimal hatte Zwiebelkuchen essen müssen, so unvermeidlich stand ihm auch wieder eine Besteigung des Kirchturmes bevor.

»Ja, es ist wahr!« rief der Bürgermeister, »der Herr Vetter hat unsere Kirche schon lang nicht mehr gesehen. Auf den Berg ist's ihm doch noch etwas zu weit.«

Er nahm den wohlbekannten Stock mit dem Walfisch und dem Propheten, und Heinrich ging mit den beiden alten Herren gleichsam in Prozession zwischen einer Doppelreihe von Spitzenklöpplerinnen hindurch, welche rechts und links die besonnte Straße entlang eine eigentümliche Staffage bildeten. Er lauschte andächtig den Belehrungen und Nachweisen, die ihm wieder wie vor Jahren gegeben wurden. Im stillen jedoch bewunderte er die Rüstigkeit der Greise, welche langsam, aber unermüdet den Turm hinanstiegen, während er selbst nur gar zu gern hie und da ausgeruht hätte. Sie waren kaum auf dem obersten der beiden unserem Freunde von früher her bekannten Umläufe angekommen, wo die Stadt eng zusammengeschlossen und etwas im Maße verjüngt zu ihren Füßen lag, da begannen die großen und kleinen metallenen Tauben, an welchen sie heraufgestiegen waren, alle miteinander ihre Flügel zu schwingen und ihre ehernen Zungen ertönen zu lassen. Es war ein herrlicher Einklang reingestimmter Glocken; die einen tönten tief und feierlich herauf, die anderen mischten melodisch helle Klagen ein, die von den bebenden Klängen der tieferen Glocken getragen wurden. »Ihr Geläute hat seinesgleichen nicht!« rief Heinrich den beiden alten Herren zu, die sein Lob mit freundlichem Lächeln aufnahmen. Er konnte sich seinem Entzücken lang genug hingeben, während der Leichenzug, dem das Geläute galt, langsam die lange Straße vom oberen bis zum unteren Tor hinunterzog. Dort schimmerte zwischen Gärten und Wiesen der Kirchhof mit seinen Kreuzen und einer alten Kapelle wehmütig hervor. Es war ein langer Zug von leidtragenden Männern, die in schwarzen Mänteln dem schwarzbehangenen Wagen folgten; zuletzt kam die gelbe Stadtkutsche mit dem weiblichen Gefolge. Vor dem Totenwagen ging ein Häuflein Schulknaben, von ihren Lehrern umgeben, Gesangbücher in den Händen, und als das Geläute endlich schwieg, hörte man von fernen, aber hellen Stimmen die Melodie des uralten Liedes:

Mitten wir im Leben sind
von dem Tod umfangen.

Die Sonne aber schien so warm und heiter auf den grünen Friedhof und auf den schwarzen Zug, der sich ihm entgegenbewegte, daß unserem Freunde die Augen feucht wurden.

Da sah er aus einem niedrigen Gebäude unweit des Tors einen Sarg heraustragen, der eine Weile auf den Boden gesetzt wurde. Sowie aber der Leichenzug vorübergegangen war, wurde der Sarg wieder aufgehoben und gelangte unmittelbar hinter demselben, von einigen Männern geleitet, zu dem brüderlichen Felde.

»Das haben sie geschickt gemacht,« sagte der Syndikus, »daß der arme Tropf noch halb mit Sang und Klang zu seiner Ruh' gekommen ist.«

»Ja.« erwiderte der Bürgermeister, »und ehrlich ist's von den Fondenleuten, daß sie ihm das Geleite geben.«

»War das –?«

»Der Zigeuner war's, den sie aus dem Fondenhause zu Grabe getragen haben.«

Man hatten wie unser Freund jetzt von dem Syndikus erfuhr, dem Erschlagenen als einem Zigeuner nicht die vollen Ehren einer ordentlichen Bestattung erweisen mögen, zugleich aber doch auf seine Stellung als Grenadier des Herzogs von Württemberg die gebührende Rücksicht genommen und deshalb mit reichsstädtischer Feinheit den Ausweg ergriffen, seine Beerdigung an ein zufällig eintreffendes bürgerliches Leichenbegängnis anzuschließen. Heinrich mußte lächeln, aber zugleich gingen auch die Schauer dessen, was er erlebt hatte, noch einmal über seine Seele.

Der Bürgermeister zeigte ihm den Mordplatz, das Hüttchen und den Hof. Heinrich sah den Weg, den er in jener Nacht geflohen war, und sagte: »So nahe bin ich bei meinen Freunden gewesen und hab's nicht gewußt.«

»Es widerfährt dem Menschen oft,« sagte der Bürgermeister, »daß er im Dunkel wandelt.«

»O, daß eine solche Greueltat geschehen mußte!«

»Denken Sie an mich, Herr Vetter!« sagte der Syndikus, und seine Rede hatte nicht mehr das Kleinliche und Pedantische wie sonst, »denken Sie an mich, aus dem Blute dieses Toten wird ein Kräutlein erblühen, dessen das Land wohl bedürftig ist. Ruh' und Sicherheit wird es heißen. Bis jetzt haben diese gefährlichen Gesellen ihr Handwerk so getrieben, daß ihnen nicht recht beizukommen war. Was sie auf dem einen Gebiete mit Haus- oder Landfriedensbruch verschuldet hatten, war ihnen auf dem anderen nicht zu beweisen, und so wußte man ungeachtet alles Verdachtes nicht, wie man mit ihnen dran war. Jetzt weiß man's. Unsere deutschen Verfassungen mögen manches dulden, was nicht eben ist, und ich weiß, daß, man das heilige römische Reich langmütig nennt; aber das dauert nur so lang, bis Blut vergossen ist. Blut schreit um Rache gen Himmel, ein Mord empört die deutsche Natur, er ist wie ein Angriff auf die Religion, wie eine Gotteslästerung. Aber Blut hat auch, daß ich so sage, etwas Reinigendes, und dieser Erschlagene, der in seinem Leben nicht viel wert war, ist nun zu einer Art von Märtyrer geworden, dessen Blut uns das Land säubern wird und bewirken, daß man bei Tag und Nacht seine Straße sicher wandeln kann –«

»Ja, und nicht im Bett mit Angst und Seufzen auf die Morgenglocke harren muß!« fügte der Bürgermeister hinzu.

»Die Reichsstadt hat bereits ihre Steckbriefe überall hinter den Mördern hergesendet,« fuhr der Syndikus fort, »da er trotz seiner grausamen Verstümmelungen noch am Morgen lebte, so konnte er sie alle namentlich angeben.«

»So zweck- und sinnlos haben sie nun gemordet!« rief Heinrich.

»Sie bedachten nicht,« sagte der Bürgermeister, »daß man's ihnen bei einem Grenadier des Herzogs von Württemberg nicht so hingehen lassen würde.«

»Eigentlich justizmäßig betrachtet,« bemerkte der Syndikus, »haben sie keinen Mord begangen; denn hätten sie ihn ermorden wollen, so hätten sie ihn ganz tot gemacht und wahrscheinlich auch verscharrt. Sie wollten ihm einen Schabernack antun nach ihrer Art, bei welcher sie aber weder Maß noch Ziel haben, so daß man sie nicht anders als vogelfrei erklären kann. Der schwäbische Kreis hat schon vor vielen Jahren ein Patent erlassen, wonach jedem Zigeuner, dessen man habhaft wird, sine strepitu judicii der Garaus gemacht werden soll. Bis jetzt ist dieser Verordnung wenig nachgelebt worden; ich hoffe sie aber noch zum Reichsgesetz erhoben zu sehen, dessen Anwendung der Vernunft und Mäßigung jedes einzelnen Reichsstandes anheimgegeben werden kann; denn die Natur dieser Freileute verlangt ein scharfes Remedium. Sie haben mörderische Herzen, und mit Mord endigen sie, wenn sie auch nur damit angefangen haben, einen Schinken aus der Küche zu stehlen.«

Heinrich wurde feuerrot, und der Bürgermeister sagte schnell: »Kommt, ihr Herren! Das Wetter ändert sich. Der Mägdleinsfels wird auf einmal dunkelgrau, wir bekommen Regen.«

Sie verließen die Galerie, und der Syndikus, der von den Abenteuern des jungen Mannes nur oberflächliche Kunde erlangt hatte, drückte ihm im Hinabsteigen sein Bedauern über sein unglückliches Zusammentreffen mit diesen Gaunern und über den Verlust seiner Börse aus, welch letzteres Mißgeschick, wie er jetzt sah, sehr zur Erhaltung seines moralischen Kredits gedient hatte.

Die Prophezeiung des Syndikus wurde der Hauptsache nach erfüllt, und schon die nächste Zeit brachte Neuigkeiten genug. Der Oberamtmann von Sulz, durch die Nachricht aus Reutlingen zu doppelter Tätigkeit entflammt, ordnete Streifzüge an, die sich nicht bloß über den Schwarzwald, sondern bis zum Hohenstaufen hinüber erstreckten. Der Stern der Zigeuner war erblichen. Überläufer aus ihren eigenen Reihen boten den Verfolgern die Hand, und so wurde in wenig Tagen eine bedeutende Anzahl Männer und Weiber aufgefangen. Ihr Urteil war nicht das summarische, das ihnen der Syndikus gerne diktiert hätte; doch wurden sie in sichere Verwahrung gebracht, und Tage, die ihnen nicht gefielen, kamen über sie. Die Mörder aber, die ihre vermeintliche Sicherheit auf reichsstädtischem Gebiete so grausam als unsinnig mißbraucht hatten, waren nach durchschwelgter Nacht am nüchternen Morgen in die Schweiz entflohen, wo sie zufällig bei Gelegenheit einer Jagd von dem Reichsgrafen Salis von Zizers betroffen wurden, der sie, bei ungleichen Streitkräften, mit großer Entschlossenheit gefangen nahm und dem Obergericht von Graubünden übergab. Hier lagen schon die Steckbriefe, und die Frage nach dem Grenadier, womit sie empfangen wurden, machte ihren Hoffnungen auf eine nach bisheriger Weise vorübergehende Haft ein Ende. Der Oberamtmann von Sulz aber, an welchen man sich von dort gewendet hatte, zog mit seinen handfesten Reisigen nach Thur, wo man ihm die durch seine Kundschafter überwiesenen Verbrecher auslieferte und so die unglückliche Stelle in Schillers Räubern, worin Graubünden für ein Spitzbubenklima erklärt wurde, zur gerechten Genugtuung für das bündnerische Nationalgefühl Lügen strafte. Gleichwohl fanden sich Leute in Thur, selbst unter den Dienern der Obrigkeit, welche dem Zigeunerhauptmann zur Flucht verhalfen. Aber die Augenblicke seiner Freiheit waren gezählt: ein unzeitiger Schnee, der auf den hohen Alpen fiel, hinderte ihn, das Walliser oder Glarner Gebiet zu erreichen, und er wurde von den Jägern des Grafen Salis, die das Gebirge in Bärenjagdordnung nach dem einzelnen Manne durchstreiften, mit äußerster Anstrengung wieder gefangen. Aus dem Schloßgefängnis von Sargans befreite ihn weder der Paß des gelernten Jägers Kilian Schmid, noch die mit wohlberechneter List in Anspruch genommene Strafbarkeit eines kaiserlichen Deserteurs Lagarell, die ihn unter die österreichischen Fahnen entführen sollte, noch endlich sein verzweifelter Aufruf an die Volksmassen, ihre uralt heiligen Schweizerfreiheiten zu Gunsten eines Unschuldigen zu behaupten. Als die Sulzische Mannschaft in seinen Kerker trat, entfiel ihm Mut und Rede; er ließ sich ohne Widerstand das Gesicht mit einer schwarzen Maske bedecken und wurde in Vaduz mit seinen gefangenen Brüdern wieder vereinigt, um unter großem Zuströmen des Volkes den Weg nach Sulz und von dort aus die letzte Reise anzutreten. Der Degen des erschlagenen Grenadiers aber war am Morgen nach der blutigen Tat, während man den Sterbenden vom Platze trug, von zwei jungen Burschen eines nahen Dorfes, wo man sein Hilfegeschrei die Nacht hindurch gehört, jedoch nicht beachtet hatte, gefunden worden und warf, nachdem sie sich darum verglichen hatten, seinem Besitzer sowie dessen Nachkommen fortwährenden Nutzen ab, indem sie ihn an den jeweiligen Hochzeitbitter als Ehrenwaffe ausliehen, in welcher Eigenschaft er bis zum Abkommen dieser Sitte diente und bei den jungen Männern des Orts an ihren hohen Ehrentagen die Runde machte.

Wir kehren zu unserem Freunde zurück. Er verlebte noch ein paar friedliche Tage im Hause des Bürgermeisters, und obgleich das eintretende Regenwetter ihn ins Zimmer sperrte, so füllte sich doch allmählich sein Gesicht, und die Furchen glätteten sich wieder. So heimisch er sich aber fühlte, so nagte doch eine innere Unruhe an ihm, denn ihm fehlte ein fester Lebensberuf, und seine ungewisse Lage blickte ihn beständig wie ein Fragezeichen an. Dieses Fragezeichen wurde immer größer und ließ ihn nicht mehr los, so daß er endlich hinging, um mit seinem väterlichen Wirt darüber zu sprechen.

»Viktoria, Herr Vetter!« rief ihm dieser entgegen, einen Brief in der Hand haltend, »ich habe gute Nachrichten für Sie.« – Er sah ihn eine Zeitlang lächelnd an, dann fuhr er fort: »Ehe ich Ihnen aber mehr sagen kann, muß ich Ihnen ein Geheimnis eröffnen, das über den vielen anderen Dingen noch gar nicht zur Sprache gekommen ist. Begehren Sie immer noch nicht zu wissen, warum Sie Ihre Habseligkeiten so schnell erhalten haben? Sehen Sie, das ist so zugegangen: am nämlichen Tage, wo Sie so unvermutet mein werter Gast wurden, und wo unser geheimes Kollegium die Mordgeschichte zu untersuchen bekam, war ein Kammerhusar des Herzogs hier, ein geborener Reutlinger, ein naher Vetter von unserem Hause und ein grundherzguter Mann. Nun müssen Sie mir's nicht für ungut nehmen, daß ich auf meine eigene Faust etwas gewagt habe. Ich hab' ihm nämlich einiges von Ihren Schicksalen anvertraut, nur so viel er zu wissen brauchte, und auf eine Art, daß es Ihnen nicht unlieb sein darf. Ich lass' mir's eben nicht nehmen, es ist immer gut, wenn man Freunde hat. Das hat auch unsere Stadt erfahren; denn der Herr Vetter Kammerhusar, der am anderen Tage – Ihre Anweisungen in der Tasche und meine Aufträge in seinem guten Herzen – wieder nach Stuttgart abreiste, hat den von unserem Gericht in Sachen des herzoglichen Grenadiers bewiesenen Eifer so rühmlich geschildert, daß Seine Durchlaucht gleich den folgenden Morgen in aller Frühe einen Kurier mit einem Belobungsschreiben an unseren Magistrat abzufertigen geruht haben. Der hat in seinem Felleisen auch Ihr Päckchen mitgebracht. Der Vetter Kammerhusar aber hat's nicht dabei bewenden lassen, sondern hat für Sie nach dem Wetter geforscht und schreibt mir jetzt, Sie möchten nur herzhaft kommen, Seine Durchlaucht halten sich eben in Hohenheim auf und seien gnädig gelaunt. Da lesen Sie selbst.«

Heinrich nahm den Brief mit ganz eigenen Empfindungen in die Hand. Er bedachte, an wie vielerlei Fädchen das Weltgetriebe hängt, und dachte auch an die Vorfahren dieses Magistrats und dieses Kammerhusaren, welche die benachbarten Fürsten weit öfter in üble Laune versetzt als nach ihrer guten gefragt hatten. Er ließ sich aber nichts davon merken, sondern sagte, nachdem er den Brief gelesen: »Das ist eine sehr unbestimmte Nachricht. Hinter dieser Gnadenlaune können, wie ich aus Erfahrung weiß, gar schlimme Ungewitter lauschen.«

»O, er wird Sie nicht fressen, Herr Vetter!« sagte der Bürgermeister lachend. »Nehmen Sie das Herz in die Hände und gehen Sie wieder zu ihm. Ein jeder muß tragen, was Gott ihm auferlegt. Was ist's auch weiter, wenn er Ihnen einen Verweis gibt oder Sie auf vierundzwanzig Stunden ins schwarze Loch steckt? Gewiß ist schon mancher darin gesessen, der noch weniger auf dem Gewissen gehabt hat als Sie.«

Heinrich zuckte die Achseln und meinte, das sei nicht der beste Trost.

»Aber bedenken Sie,« fuhr der Bürgermeister fort, »daß er jetzund weiß, wo Sie sich aufhalten. Was ist zu machen, wenn er Sie durchaus haben will?«

»Ich werde Ihnen gewiß nicht zumuten, daß Sie meinethalben Ihrer Stadt noch einmal einen Krieg mit Württemberg zuziehen sollen.«

Der Alte lachte herzlich. »Das hat gute Ruhe,« sagte er, »denn erstlich bin ich, nach dem Wechsel unserer Verfassung, nicht mehr regierender Bürgermeister, und hernach, wenn auch mein Amtsnachfolger und gesamter Magistrat und gemeine Stadt Sie in Schutz nehmen wollten, so könnten wir doch keine Belagerung mehr aushalten. Nämlich, als der Herzog vor einem Jahr einen Besuch bei uns machte, da stachen ihm unsere alten Feldschlangen so in die Augen, daß er sich dieselben zum Geschenk ausbat, und dieser Herr hat so eine Art zu bitten, daß man ihm gar nichts abschlagen kann. Womit sollten wir uns also jetzt wehren? Spaß beiseit', tun Sie, wie ich Ihnen rate, es gereut Sie gewiß nicht; ich mein' es ja, weiß Gott, gut mit Ihnen. Ich ginge schon dem Hohenheimer Garten zulieb, der das achte Wunderwerk der Welt sein soll.«

Verstimmt durch so manche bittere Erfahrungen, glaubte unser noch immer jugendlicher Freund, man wünsche seiner los zu werden, und gab rasch seine Einwilligung. Aber er hatte sich geirrt: denn so wie der gute Alte ihn auf dem Wege sah, den er für den vernünftigen hielt, so wandte er im übrigen alle Mühe an, ihn noch länger bei sich zu behalten. Er brauchte fast im eigentlichen Sinn des Wortes Gewalt; denn er schrieb an den Kammerhusaren, sein Gast sei von den erlittenen starken Strapazen noch nicht hinlänglich hergestellt, um sich schon wieder auf die Beine zu machen; und Heinrich, der denn doch zuletzt der Ungewißheit ein Ende zu machen brannte, hatte wahre Mühe, sich aus den Banden seiner Gastfreundschaft loszureißen.

Durch Berg' und Täler ist der Weg geleitet,
Hier ist der Blick beschränkt, dort wieder frei,
Und wenn der Pfad sacht in die Büsche gleitet,
So denket nicht, daß es ein Irrtum sei.
Wir wollen doch, wenn wir genug geklommen,
Zur rechten Zeit dem Ziele näher kommen.

Goethe, Die Geheimnisse.

»Lebt wohl!« rief Heinrich, als ihn die gelbe Stadtkutsche, traurigen und fröhlichen, wichtigen und gleichgültigen Lebensereignissen gleicherweise als Fahrzeug dienend, zum Tor hinaustrug, »lebt wohl, ihr freundlichen Mauern, ich werd' euch so bald nicht wiedersehen. Auch ihr werdet nicht immer so still im holden mondlichen Zwielicht stehen: die Sonne, die da belebt und verzehrt, wird auch über eure Höhe rücken und den lieben Schläfern dahinter in ihre trauliche Dämmerung blitzen. Gott gebe ihnen ein sanftes Erwachen. Es kann nicht bleiben, wie es war, und daß die Zeit sich im Traume dehnt und auf- und vorwärts will, das hab' ich erst in diesen stillen Kreisen recht lebendig gefühlt.«

Sein Reisekasten hatte sich allmählich aus den Feldwegen der Reichsstadt, die der Bewegung auf keine Weise huldigte, in das Herzogtum hinübergearbeitet und schob sich auf den besseren Straßen, womit Herzog Karl seine Mitwelt beschenkte, in langen Riemen behaglich schwebend, langsam fort, so daß der Reisende Zeit genug hatte, über die Bedürfnisse der Zeit nachzusinnen. Freilich sind die Ergebnisse solchen Nachdenkens immer nur zu sehr mit dem Mangel der Unbestimmtheit behaftet, da erst der eintretende Umschwung das klare Bild dessen gibt, wohin die Zeit gestrebt hat. Indessen beruhigte er sich hierüber; ehrlich sein, sagte er zu sich, die Wahrheit über alles begehren, bringe sie auch, was sie wolle, alle Menschen lieben und keinen fürchten, das ist die beste Richtschnur für den einzelnen, und je mehr einzelne sich in diesem Grundsatze zusammenfinden, desto ebener wird der Zeit das Geleise gebahnt.

Sein sorgsamer Gastfreund hatte ihn früh am Tage geweckt, und sein Abzug war in den ersten Morgenstunden bewerkstelligt worden; dennoch mußte er schon in der Hälfte Weges Mittag machen, so zögernd wurde er seinem Schicksale entgegengeführt, und als er endlich das Ziel erreichte, hatte er beinahe eine Tagreise gemacht. Er hätte es kürzer haben können, wenn er sich eines Pferdes, ja wenn er sich seiner eigenen Glieder bedient hätte; aber dem Bürgermeister war nicht zu widerstehen gewesen, der ihn auf diese sanfte und gemächliche Weise an sein Verhängnis ausliefern wollte, als hätte er den geheimen Gedanken gehabt, ihm dadurch einen ebenso gelinden Empfang zu erzwingen.

Die lange, weithin in die Albgaue heraufschimmernde Fassade von Hohenheim breitete sich in der Nähe auseinander, und der Reutlinger Reisewagen schlich bedachtsam gegen den Fuß der Anhöhe heran, wo Heinrich ihn verabschiedete. Er ging das Bächlein entlang im Tale fort, bis er eine schöne Allee fand, die ihn gerade den Hügel hinan zum Schlosse führte. »Was wird er mir sagen? Wie wird er mich behandeln?« dachte er und durfte nicht lang warten; denn während er den letzten Absatz erstieg, sah er schon den Mann vor sich, in dessen Händen sein Schicksal lag.

Der Herzog ritt auf einem Grauschimmel über den Platz vor dem Schlosse. Er war heute halb in Gala und trug ein breites Ordensband über dem roten Rock und der gelben Weste, womit das kleine dreieckige Hütchen, das luftig auf seinem Kopfe saß, in merkwürdigem Kontrast stand. Er ritt auf eine Bauhütte zu, unter welcher einige Steinmetzen arbeiteten; denn obgleich die weitläufigen Schloßgebäude im Hintergrunde, worin Fürstenpomp und Landwirtschaft einander die Palme streitig machten, von außen fertig dastanden, so war doch innen noch vieles zu tun, und auch dem Fertigen vermochte sein ewig rastloser Baugeist keine Ruhe zu gönnen. Der Werkführer trat aus der Hütte und empfing mit entblößtem Haupte seine Befehle, während seitwärts ein Bauer unbekümmert seine Ochsen vorübertrieb.

Heinrich näherte sich langsam und war fast ganz herangekommen, als ihn der Herzog bemerkte und ihm mit einem unbeschreiblichen Blick entgegensah. Heinrich verbeugte sich, die Augen mit einem gleichfalls vielsagenden Ausdruck zu ihm emporhebend.

»Schon gut!« sagte der Herzog. Er sann eine Weile nach, deutete dann mit dem Stöckchen, das er auch zu Pferde trug, zur Rechten nach dem Park und sagte: »Am Merkurstempel! – Schickt mir morgen den Heideloff!« setzte er gegen den Werkmeister hinzu, »ich bedarf eines geschickten Malers.«

Heinrich folgte, während der Herzog nach dem Schlosse zurückritt, dem gegebenen Wink und ging zum Park, wo ein zerfallener Bogen mit alten Standbildern in den Nischen ihm manchen bemerkenswerten Anblick verhieß. Ein Fischerhäuschen, mit Schilf bekleidet, stand dicht daneben, und eine gerade Allee, mit Gras bewachsen und dem Anschein nach unbenutzt, lief weit zwischen den Gebüschen hin. Wo sollte er den Tempel suchen? Er wollte in der Allee fortwandeln, als ein Mann, den er sonst schon in der fürstlichen Umgebung gesehen zu haben sich erinnerte, zur Rechten aus dem Dickicht trat und ihm mit freundlichem Lächeln winkte. »Wohin?« rief er.

»Zum Tempel des Merkur.«

»Folgen Sie mir!« sagte jener und schlug den schmalen Pfad, auf dem er gekommen war, durch die Gebüsche ein. »Was macht der Herr Vetter Bürgermeister?« fragte er, indem er sich herumwandte.

Unser Pilger erkannte seinen Mann und fühlte sich gedrungen, ihm seinen Dank abzustatten; dann gingen sie unter Gesprächen weiter.

»Sie hätten keinen besseren Tag wählen können!« rief der andere lebhaft. »Es war heut ein glänzendes Fest hier im Garten, zu Ehren Franziskas: alt und jung und jeder Rang und Stand brachten ihr in Versen ihre Huldigung dar. Im römischen Gefängnis lag eine große Menge von langbärtigen Gefangenen, welche freigegeben wurden; die Bauern von Plieningen hatten sich seit vielen Wochen die Bärte dazu müssen wachsen lassen. Der Herr ist sehr gnädig, ich sah ihn lang nicht in so guter Laune. Auch der Wasserfall ist losgelassen worden: man hat die sechs Seen dort hinten seit mehreren Tagen geschwellt. Ich glaube, er läuft noch; wenn Sie keine Zeit versäumen – Ja so! Sie müssen –«

»Ich habe Befehl, am Merkurstempel zu warten.«

»Kommen Sie. Der Herr wird bald da sein. Es ist ein gutes Zeichen, daß er Sie in den Garten bestellt, der nur seltenen Glückskindern aufgetan wird.«

Sie traten bei den hohen Trümmern eines gotischen Gemäuers hervor, an welches sich einige schlichte Gebäude, durch ein eisernes Gittertor untereinander verbunden, anlehnten. »Das ist das Schulhaus,« sagte Heinrichs Führer, auf das verschobene, niedrige Hauptgebäude mit Flickwerk weisend.

»Wie!« rief Heinrich, »es ist ja so still und menschenleer.«

»Heute ging es laut hier zu; ein Häuflein Kinder war da und sang der Herzogin ein Lied.«

Er ließ ihn in die Schulstube hineinsehen, welche mit Bänken und Katheder, mit Lesetafeln, Schulgebeten und Landkarten in aller Form ausgestattet war. Dann führte er ihn an kleinen Obst-, Gras- und Küchengärten vorüber, die, anscheinend für den Gebrauch des Schulmeisters bestimmt, das einsame Häuschen umgaben, in das Gebüsch.

Nach einer neuen Wanderung tauchten drei Kuppeln aus dem vielverschlungenen Dickicht auf. »Dort ist der Tempel! Ich muß Sie jetzt verlassen, es wird nicht geheuer sein.« – Mit diesen Worten war er im Wäldchen verschwunden.

Heinrich ging weiter, und bald schimmerte ihm ein heiteres weißes Gebäude entgegen. Er umging es und fand vorn einen Portikus mit vier Säulen und darüber im Giebelfeld einen Merkursstab nebst anderen Emblemen des Gottes. Zwei kleine niedere Flügel waren auf beiden Seiten angebaut, und auf jeder der drei Abteilungen saß eine Kuppel. Er sah, daß er an dem bestimmten Orte sei, und näherte sich dem freundlichen Tempel; da trat ihm aus dem Innern zwischen den Säulen der wundersame Mann entgegen, der diese reizende Wildnis geschaffen hatte. Er trug ein einfaches Gewand und einen leichten Mantel darüber. »Wer seid Ihr, Fremdling, und was wollt Ihr?« rief er zwischen den Säulen hervortretend dem Ankömmling zu, »was wollt Ihr? Ich bin der Herr dieses Gartens.«

Jener sah ihn ungewiß an, dann nahm er sich zusammen. »Ich bin ein Wanderer,« sagte er mit einer ernsthaften Verbeugung, »ein heimatloser Wanderer, der den Frieden sucht.«

»Wohlan, Fremdling, folgt mir und seht, ob er hier zu finden ist. Hier oder nirgends ist seine Wohnung.«

Er gab ihm einen Wink; sie verließen den Tempel und gingen auf Pfaden, die sich schlängelten und kreuzten, zwischen hohen Bäumen und dicht verwachsenem Gebüsch fort. Oft schimmerten Gebäude aus dem verworrenen Grün, aber der Herr des Gartens, wie er sich genannt hatte, lenkte jedesmal seine Schritte abwärts, und das Dickicht verschlang die lockenden Erscheinungen wieder. Endlich befanden sie sich am Ufer eines langen, fischreichen Sees, mit Weiden und hohen Pappelwänden umgeben. Eine Gondel wartete ihrer; der Herr des Gartens bestieg sie und winkte dem Wanderer, ihm nachzufolgen und das Ruder zu ergreifen. Einige leichte Schläge führten sie an das jenseitige Ufer; in geringer Entfernung blickte durch die Pappeln etwas, das dem vorhin gesehenen Fischerhäuschen mit seiner Schilfbekleidung glich. Sie stiegen aus, gingen am Ufer entlang und verloren sich, wo der See aufhörte, wieder in der Wildnis. Aus einem dunklen Tannenhain in der Nähe murmelte melodisch eine Quelle. Sie durchschnitten eine breitere Allee und befanden sich, von neuem aus dem Dickicht hervortretend, bei den Ruinen einer antiken Wasserleitung, an welche einige ländliche Gebäude, heimlich wie Schwalbennester, angelehnt waren. In schnellem Wechsel folgten nun die seltsamsten Erscheinungen; Grabmäler, Hirten- und Bauernhäuser, Überreste alter Mauern und Türme, eine Moschee, ein römisches Bad mit einem offenen Tempel darüber, auf dessen Kuppel der römische Adler schwebte, während an den Unterlagen der ionischen Säulen und an den Doggen des Geländers ein mittelalterlicher Baumeister mit seiner Architektur dem Verfall aufgeholfen zu haben schien; Schweizerhäuser, eine Pyramide, jener des Cestius gleichend, gotische und römische Türme, dazwischen Baumgruppen, Weideplätze, Tempel, Gärten, umzäunte Felder, Scheune, Haus und endlich sogar, wo sie dem sanftrauschenden Bach, der das römische Bad durchfloß, wieder begegneten, eine Mühle mit einem angebauten Lusthause.

Indem sie am Ufer des Baches den Trümmern eines großen Gebäudes entgegen gingen, brach der Herr des Gartens sein Schweigen und fragte: »Nun, was habt Ihr jetzt gesehen, Fremdling? Läßt sich's in Worten ausdrücken? Hat es sich zu faßlichen Gedanken bei Euch niedergeschlagen?«

»Einen Teil der Weltgeschichte habe ich gesehen, hoher Herr!« rief der Wanderer lebhaft, »und viele Geschlechter von Menschen sind im Geist an mir vorübergegangen. Ich stand auf den Trümmern einer römischen Stadt; die Reste der Mauer, die uns auf unserer langen Wanderung überall begegneten, bezeugen noch ihre Ausdehnung und könnten die Gelehrten mit Erörterungen und Streitigkeiten vielfach beschäftigen. Römische Kolonisten waren es, die hier zuerst sich niederließen und in so weiter Entfernung die Herrlichkeiten ihres heimischen Roms, die Pyramide des Cestius, Vesta- und Cybele-Tempel, Neros Grab und – hier tauchen sie eben vor uns auf – die berühmten Thermen Diokletians wiederholten. Aber Bögen und Säulen sind zerfallen und haben sich tief und tiefer in den Schutt eingewühlt. Andere Geschlechter sind über die Erde gegangen; alle haben sie dieser reizenden Stelle ihre Huldigung dargebracht. Ich sah flüchtige Zeichen einer maurischen Niederlassung. Bleibender haben sich unsere deutschen Vorfahren angesiedelt und den Altertümern der dorischen und ionischen Säulen ihre gotischen Pilaster, Türme und Kapellen, auch diese jetzt in grauer Ehrwürdigkeit prangend, an die Seite gesetzt. Sie zeigten Sinn für die Größe dessen, was ihnen die römischen Fremdlinge überliefert hatten, sie suchten den Zerfall aufzuhalten, und indem sie ihm Stützen und Basen von ihrem eigenen Geschmack unterbauten und den römischen Kerker zu einer mittelalterlichen Burg mit Wallgraben und Zugbrücke umschufen, haben sie eine seltsame, nicht ungefällige Mischung hervorgebracht, einen phantastischen Baustil, der keinen Vorwurf der Willkür erleidet, weil eine historische Folge der Zeiten in ihm erscheint. Diese Pietät erinnert lauter als geschriebene Zeugnisse an das ritterliche Geschlecht der Bombaste, die vordem hier gehaust haben. Auch ist mir, an die Reste eines schönen Portikus angeschmiegt, ein küchenartiges Gelaß aufgefallen, das ich ohne Mühe für das Laboratorium des magischen Meisters Paracelsus erkennen könnte.«

»Es reut mich nicht,« sprach der Herr des Gartens wohlgefällig lächelnd, »Euch hierher geführt zu haben. Und nun? Weiter!«

»Und nun hat ein neues Geschlecht auf diesem Boden, der schon vor Jahrtausenden den Menschen gütig war, seine kleinen, harmlosen Nester gebaut. Es sind friedliche Kolonien, auf Wohnlichkeit und Nutzen vor allem bedacht. Bruchstücke gewundener Säulen und rauhe Steine von verfallenen Kapellen haben sie, nur die Brauchbarkeit zum Maßstab nehmend, nebeneinander in die Wände ihrer Hütten eingemauert; sie tränken ihr Vieh aus den marmornen, kunstreich gehauenen Muscheln und haben die Rümpfe alter Türme und die Überreste des Kirchleins seltsam mit Stroh gedeckt, um warm darunter wohnen zu können. Das alte Rathaus mit der wohlerhaltenen Inschrift Senatus Populusque Romanus dient ihren schlichten Magistratssitzungen, welchen die Geister jener Senatoren mit verwundertem Lächeln lauschen mögen. Doch fehlt es auch hier nicht an vereinzeltem Reichtum und Geschmack; neue Lusthäuser erheben sich neben den niedrigen Schäferhütten, und das Innere der alten Tempel ist mit Pracht und heiterer Kunst ausgestattet. Aber die Kolonie selbst, die aus den roten Backsteinen der Römermauer ihre kleinen Häuschen, malerisch von den zerfallenen Arkaden überragt, aufführte, predigt nichts als den Wert der Genügsamkeit und des ländlichen Stilllebens. Ihre Schneckenwohnungen sind nicht für die Dauer gebaut, sie machen keinen Anspruch auf die Bewunderung kommender Geschlechter; dafür sind sie auch nicht dem Hohn der Zeit bloßgestellt, den diese prunkenden Säulen erlitten haben. Hier ist Friede! sagt der Genius des Ortes, Pracht und Größe zerfällt, aber einfacher Sinn, auf stilles Glück gerichtet, siegt über Zeit und Tod.«

Die hellen Augen des Gebieters ruhten beifällig auf ihm, und der Pilger, dadurch ermuntert, fuhr fort. »Nur eins vermißt man in diesem reizenden Bilde, das Leben! Diese lieblichen Weiden, diese reinlichen Hütten verlangen bevölkert zu sein, und die Ruhe der Vergangenheit wäre noch schöner hervorgehoben, wenn eine heitere Gegenwart wirklich und nicht bloß zum Schein ihren belebenden Sitz hier aufgeschlagen hätte.«

»Das Leben ist außerhalb,« sagte der Herr des Gartens, »für die Hauptbedingung des Daseins, für die Agrikultur, geschieht alles da draußen. Aber hier soll sich kein Widerstreit eindrängen. Diese Räume beleben sich nur an hohen Festen, wo sie bestimmt sind, die heitersten und reinsten Seiten des Lebens abzuspiegeln. Das Bild des Lebens ist höher als das Leben selbst.«

»So habe ich denn die vollständigste Antwort auf meine Eintrittsfrage!« rief der Wanderer. »Willst du Frieden, so suche ihn nicht im Leben, denn es wird dich stets mit Widersprüchen verwirren. Steige vielmehr hinab in jenes dämmernde Reich, wo die Bilder des Lebens leise wie Schatten umherschweben: da ist Einheit, Ruhe, Friede.«

»Wohl!« erwiderte der Herr des Gartens, »und da Ihr nun so vorbereitet seid, so folgt mir zum Sibyllentempel, der uns zu weiteren Geheimnissen führen wird.«

Der Weg, der sich schon seit einiger Zeit abwärts geneigt hatte, wurde nun abschüssiger, und als sie aus dem Gebüsch hervortraten, lag ein Tempel von majestätischer Bauart vor ihnen. Er ruhte auf Felsen, welche die Höhe eines Geschosses hatten, überall von Baum und Busch umgeben. Wie aber kein Ausblick in die Ferne zu gewinnen war, so war auch kein Zugang zum Tempel zu erspähen. Doch als sie näher kamen, öffnete sich am Fuß der Felsen eine weite dunkle Grotte, die ins Heiligtum der Sibylle zu führen schien. Sie gingen hinein und wanden sich durch lange Gänge zwischen dem zerklüfteten Tuffstein in schauriger Düsterheit fort, in welche nur zuweilen durch Laub und Zweige ein dämmernder Schein des Tages fiel. Endlich führte eine Treppe aufwärts, und sie traten auf eine Plattform heraus, die lieblichste Aussicht in die abendliche Gebirgslandschaft vor Augen.

»O meine Heimat!« rief der Wanderer entzückt, »ich schaue wie aus einer fremden Welt in deine rührende Schönheit hinein.« – Zu seinen Füßen gähnte ein jäher Felsenabsturz, dessen Ende nicht zu erblicken war. Als er rückwärts sah, war der Tempel verschwunden und hatte sich in das freundlichste italienische Lusthaus verwandelt.

»So ist das Leben,« sagte sein hoher Führer, über seine Überraschung lächelnd, »den einen bringt es durch dunkle Pfade ins Helle, mit dem anderen nimmt es den umgekehrten Weg. Noch einen Blick in die lächelnde Ferne, in die heitere Nähe, und die Szene wird wieder anders.«

Sie verließen den Tempel nicht durch die Grotte, sondern stiegen über Stufen hinab, die die Natur im Fels gebildet zu haben schien, und wurden alsbald wieder von dichten Baumgruppen aufgenommen. Ein altdeutsches Gnadenbild stand am Wege, und bald stießen sie auf ein kleines, einfaches Haus, mit Baumrinde bekleidet, dem ein Portikus von vier rohen Stämmen eine schlichte Würde gab. Es mußte die Wohnung des Geistlichen sein; denn dicht daneben stand die Kapelle, ein echtes kleines Meisterwerk der deutschen Kunst, mit ihren reichen Zieraten und Türmchen, die schönen Spitzbogen mit farbigen Scheiben ausgefüllt.

Auf den Zacken der Felsen, welche beim Sibyllentempel begannen, waren sie bis hierher gekommen; nun aber führte ein rauher Klippenweg in vielen Krümmungen, bald an einem Überhang vorbei, bald durch ein drohendes Felsentor, in die Tiefe. Auf der Seite schoß ein Wasserfall, dessen Tosen man schon eine Weile gehört hatte, aus dichtem Gebüsch hervorblinkend, über dieselben Felsen herab. Sie standen ihm gerade gegenüber, als sie, am untersten Fuß der Felsen angekommen, eine kleine Wendung machten. Die breite Wassermasse fiel, hoch oben aus einer Höhle hervorschießend, auf mächtige Steintrümmer, riß sich schäumend durch ein felsiges Bett und verlor sich dann rückwärts unter einer Felsenwand.

Der Herr des Gartens winkte, und sie traten durch eine zerrissene Öffnung in eine große Felsengrotte, wo der braune Tuffstein viele Gewölbe bildete. Eine schauerliche Dämmerung herrschte hier, und in der Ferne hörte man das Wasser in die Tiefe rauschen. Sie gingen dem Tone nach und kamen in ein rundes, tempelartiges Gewölbe. Es schien der Nymphe geweiht; Wände und Decke waren mit Kieselsteinen mannigfaltig verziert, und im Fußboden befand sich eine große runde Öffnung mit eisernem Geländer, wo man in die Tiefe schauen und noch einmal das wegeilende Wasser erblicken konnte.

Sie verließen den feierlichen Ort, aber auch das Tageslicht zeigte ihnen nur Gegenstände von entsprechendem Charakter. Ein eisernes Tor führte zu den Katakomben, einem finsteren gewölbten Gang, wo Urnen in Nischen umherstanden. Gegenüber erhob sich, einer so melancholischen Gegend angemessen, eine Kartause mit ihrer eigenen Kirche, man wußte nicht, ob unausgebaut oder im Zerfall begriffen.

Der Wanderer wurde zum Reden aufgefordert, als sie von diesem Ort des Schweigens zurückkehrten und zwischen Höhlen und Klüften wieder an dem Wasserfalle vorüberkamen. »Memento mori!« sprach er. »Alles feiert hier den Kultus des Todes. Aber wie schön der Übergang vom heiteren Leben, das uns der Sibyllentempel zum Abschied noch einmal sehen ließ, durch das Pfarrhaus und die Kapelle zu diesen düsteren Reichen! Zwischen Tod und Leben das heilige Band, das beide zusammenhält! Wie tröstlich blickt hier von den Felsenzinnen das Kirchlein mit seinem Muttergottesbilde und dem Glöcklein und Kreuz darüber in die traurige Einsamkeit zu uns herab! Hier ist die äußerste Ruhe, der letzte Friede.«

Er schwieg, und der Herr des Gartens sagte nach einer Weile: »Ihr kommt aus dem Schoße der Natur und habt in den Gebirgen manche Szene bewundern können. Was haltet Ihr von dieser meiner Kunst?«

»Sie faßt das Bedeutende, was uns die Wirklichkeit vereinzelt sehen läßt, in eins zusammen!« rief der Wanderer. »Und wie herrlich ist hier das ewige Leben der Natur, dem Tode des Menschen gegenüber, dargestellt! In den Katakomben schlafen die Geschlechter, und der Mönch im Kloster drüben lebt nur im Tod und öffnet den Mund nur zum düsteren Sterbegruß; aber nirgends im ganzen Garten sind Pflanzen, Gesträuche und Bäume so verschwenderisch ausgesäet, als über diese zerrissenen Felsen hier, und das Wasser mit seinem trotzigen Rauschen spottet unserer Vergänglichkeit und stürzt sich sorglos in die Tiefe hinab, gewiß, wieder ans Licht zu kommen. Wir möchten einen Augenblick wünschen, daß in diesem Reich des Todes auch der Wasserfall verstummte; aber nein, der überwältigende Ernst der Szene würde uns zu Boden drücken, und wir getrösten uns der Flut, die so lebendig über die Felsen –«

Er stockte und war betreten; denn der Wasserfall, als gälte es, eine Probe zu machen, begann dünner herabzuschießen und hörte nach Sekunden auf. Nur spärliche Tropfen rannen noch an den verwaschenen Felsen herunter. Er sah auf seinen hohen Führer, der die Stirn in finstere Falten hüllte, da sein Wink, noch vor dem Ende der Täuschung hinwegzukommen, im Strom der Rede unbeachtet geblieben war. Der Wanderer, der schon wieder einen Mißtritt getan, folgte dem Voranschreitenden, während in der Grotte noch die letzten Reste des Gewässers gurgelnd in die Tiefe stürzten.

Der Herr des Gartens ging unwillig mit raschen schweren Tritten vor ihm her, und so stiegen sie schweigend einen Felsenpfad neben dem vertrockneten Wasserfall empor. Er führte sie durch dunkles, düsteres Gebüsch zu einer Einsiedelei, arm und niedrig aus Balken aufgebaut; ein kleines Heiligtum stand neben ihr, in welchem man durch das Gittertürchen den Totenkopf auf dem Altare sah. Gegenüber harrte ein offenes Grab seines Bewohners und der bereitliegende flache Grabstein seiner Inschrift. Gern hätte der Wanderer sich hier verweilt, aber der Gebieter dieser Räume schritt grollend vorüber, und er mußte ihm mit schnellen Schritten folgen.

Der Pfad ging jetzt ohne Abwechslung beständig aufwärts; aus den Gebüschen blickten wieder die Säulen und Tempel, die ihm aber jetzt, nachdem er sein Augenmaß am Gebirge geschärft hatte, zu seinem Befremden nur noch halb so groß erschienen, als vorhin. Eine Uhr schlug in der Nähe, und das geringe Maß der verronnenen Zeit erfüllte den jungen Pilger gleichfalls mit Erstaunen. Doch wie angenehm war er überrascht, als er in der dichtesten Wildnis neben einer Kohlenplatte die natürlichste Köhlerhütte fand, wie er nur jüngst in ihrer tannendunkeln Heimat eine hatte sehen können. Ein abgestorbener hohler Eichstrunk diente ihr als Stütze und Rauchfang; ein Tisch und eine Ruhebank, aus demselben rohen Material wie die Hütte, waren die einzigen Bequemlichkeiten ihres genügsamen Bewohners. Der junge Mann konnte seine Freude über den unerwarteten Anblick nicht unterdrücken, und da auf der anderen Seite der Ärger über die treulose Kaskade verflogen schien, so erhielt er Erlaubnis, einzutreten. Wie erstaunt war er, als er die niedlichste Handbibliothek und eine astronomische Uhr von dem berühmten Hahn in einem artigen Kabinett erblickte! Die schön gebundenen Bücher gehörten der Gräfin oder, wie sie in Hohenheim hieß, der Herzogin, deren Lieblingsaufenthalt diese Hütte war. Hätte nur jetzt eben ihr Genius über der Szene geschwebt, wie manches Leidige und Widrige würde er vielleicht hintertrieben haben!

»Nicht wahr, das wäre so ein Winkel für einen Philosophen oder Poeten?« war die Anrede, als er vergnügt herauskam.

Der offenherzige Freund, einem plötzlichen Einfall nachgebend, über dem er sich selbst, seine eigene wankende Stellung, die Welt und alle Verhältnisse vergaß. »Fürwahr,« rief er, »es wäre die glücklichste Hütte, welche Fürstengroßmut einem bescheidenen Dichter zimmern könnte! Ich habe in diesen Schränken Autoren gesehen, deren Ansprüche auf Ruhm – bei Gott – mäßig sind; ihren Büchern wurde ein prächtiger Einband und den Verfassern ein fürstengleiches Dasein zu teil. In diesem Augenblicke mußte ich eines jungen Mannes gedenken, den ich im Geist durch die Straßen der Hauptstadt schreiten sah, Stirn und Augen von hohen Ideen leuchtend; ach, er vergißt jeden Augenblick, daß sein Weg ihn zur strengen Parade oder zu ruhrkranken Grenadieren bringen soll. Gnädigster Herr, soll ich mehr sagen? In diesem Wundergarten ist so viel geschehen, um ein edles Bild des Lebens hervorzubringen. Und ein solcher Bildner? Gnädigster Herr, ein solcher Dichter und eine solche Hütte!«

»Stille, still von diesem ungeschorenen Genie! Ich will nichts von ihm hören.«

»Da er ja nichts als Bildung bedarf, wie viel würde eine kleine Reise – Wie dankbar, wie reich an Früchten würde er zurückkommen!«

»Reisen lassen! das käme mir geraten, wahrhaftig! Soll ich ihm noch die Mittel geben, daß er alle unerzogenen Phantasten vollends zu Narren macht? Ich werde dem Pfuscher das Rezept eintränken, denn ich weiß wohl, daß er an den Tollheiten einer gewissen jungen Dame mitschuldig ist, und es soll streng untersucht werden, wie sein Machwerk sich bei Hofe hat einschleichen können. Ich habe das unnatürliche Ding nun auch gelesen. Er soll's noch in der Akademie geschrieben haben; ein schönes Zeugnis für seine Lehrer und Vorgesetzten! Ich sehe, wie redlich man mir dient. Er aber, der genug für sich selbst abzubitten hat, wie kann Er die Frechheit haben, mir für andere die Pistole auf die Brust zu setzen? Was gibt Ihm den Mut, zu glauben, daß er ungezüchtigt von hier fortkommen werde? Red Er!«

Unser Freund war über diesen so unerwarteten Gang des gütlichsten Gespräches wie vom Himmel gefallen, aber sein Unmut war noch größer als seine Bestürzung.

Die bildliche Redensart von der Pistole erinnerte ihn, daß alle seine Fehler, wie hoch man sie ihm auch anrechnen mochte, durch eine weit größere Verschuldung auf der anderen Seite mehr als getilgt seien, und gereizt entgegnete er auf die wiederholte Aufforderung zum Reden: »Mit Erdengöttern ist es unmöglich zu streiten, denn sie führen Waffen, deren wir uns arme Sterbliche nicht bedienen dürfen. Ich habe ja unlängst erfahren, daß man sich glücklich preisen muß, wenn der Blitz, der oft unversehens aus ihren Wolken fährt, uns nicht das Hirn zerschmettert.«

»Stille, still von diesem ungeschorenen Genie! Ich will nichts von ihm hören.«

Der Herzog trat einen Schritt zurück. »Will Er mich konstituieren?« rief er aus. »Ich sag' Ihm, Sein Aussehen war dazumal so räubermäßig, daß Er's nicht verargen kann, wenn man Ihn drei Schritte vom Leibe haben wollte. Übrigens da Er so rechtfertig ist, so will ich Ihn doch auch ein wenig ins Verhör nehmen. Warum hat Er meine Befehle so miserabel ausgeführt?«


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