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»Schlechter Spaß!« murmelte der Nachtwandler im augenblicklichen Ärger, doch siegte bald ein Lächeln über den angenommenen Ernst, als der Schein der Lampe den Schläfer erweckte, der mit unbeschreiblicher Bestürzung um sich sah und dem fragenden Vorgesetzten keine Rechenschaft über sein ungewöhnliches Nachtlager zu geben vermochte.
Dieser öffnete die Tür des nächsten Schlafsaales, der fünfzig Zöglinge unter der Obhut eines Offiziers und zweier Aufseher beherbergte. Jede dieser perlgrau angestrichenen Bettstätten war, weil die Schlafsäle am Tage zugleich als Arbeitssäle dienten, mit einer kleinen Haushaltung umgeben. Jede war durch ein Gitter zwischen zwei Säulen abgeschlossen, innerhalb dessen sich der Arbeitstisch des Zöglings nebst dem darüber an der Wand befestigten Bücherbrette befand. Hinter diesen schwarzen Gittern abgesperrt, an diesen bläulichgrauen Tischen eingeengt, auf welchen in Abwesenheit des Bewohners nicht einmal ein Buch bis zur Rückkehr desselben aus dem Lehrsaal liegen bleiben durfte, rang sich eine junge Welt mit rebellischen Pulsschlägen, gärendem Moste gleich, einer freieren Zukunft entgegen. Für den Augenblick freilich herrschte die tiefste Stille, und die Bewohner des Saales schienen kaum weniger der Ruhe und Ordnung ergeben zu sein als ihre Strümpfe, welche reglementsmäßig über den beiden Enden jeder Bettstelle hingen. Der Vorgesetzte jedoch, der die Runde machte, ließ sich durch dieses trügerische Schauspiel nicht täuschen. Er überzeugte sich zuerst vom arglosen Schlafe der Wächter, deren Betten oben und unten im Saale standen, und spähte dann beim Lichte der in der Mitte hängenden großen Nachtlampen sorgfältig umher. Bald entdeckte er ein jugendliches Gesicht, das halb mutwillig, halb ängstlich aus den Kissen lauschte. Ein strenger Wink berief den Akademisten, der im schnell umgeworfenen Überrock mit bittenden Gebärden dem verehrten Lehrer zueilte.
»Schämt euch doch der tollen Possen, Kinder!« sagte dieser, »werdet ihr denn nie vernünftig werden? – Nun, nun,« setzte er mit aufgehobenem Finger hinzu, »ich will nichts gesehen haben, aber tragt ihn gleich wieder hinein.«
Nun erhob sich ein regsames Gewimmel, die eingeschlossene Jugend, die der gefesselten Phantasie in tausenderlei Possen Luft zu machen suchte und diesmal den gegen das gewöhnliche Opfer ihrer Laune gerichteten Streich mißlungen sah, war froh, so leichten Kaufs davonzukommen, und eilte rings in Überröcken herbei, um dem Vorgesetzten, dessen Milde aller Herzen gewonnen hatte, Gehorsam zu leisten.
Während nun das mutwillige Werk der Nacht so schnell, als es entstanden war, wieder vom Schauplatz verschwand, setzte jener seinen beaufsichtigenden Gang fort, noch ein paarmal zurücklauschend, ob kein gefährlicheres Ohr als das seinige vom Geräusch erwacht sei; er war aber kaum um die nächste Ecke gekommen, als ein neuer Auftritt seine Aufmerksamkeit erforderte.
Eine dickköpfige, stark beleibte, kürbisartige Figur stand ihm im Wege, die sich rasch wie ein Kreisel um sich selber drehte und dabei die Hand heftig in die Lüfte schleuderte. Ein Strom von Flüchen begleitete diese sonderbaren Gestikulationen.
»Sind Sie es, Herr Leutnant Nies?« rief der andere, als er näher kam, »was ist Ihnen denn?«
»Die vermaledeiten gottlosen Racker!« versetzte der Zerberus der Akademie mit schmerzlichem Stöhnen, »da sehen Sie selbst! Die Buben! Die Bösewichter! Weil sie wußten, daß ich kommen und visitieren würde, so haben sie die Türklinke heiß gemacht; meine Finger sind verbrannt, daß zeitlebens kein Haar mehr dran wachsen wird. O wenn doch sieben und siebenzigtausend Schock schwere Teufel –«
»Ei, ei!« rief der andere, »fluchen Sie doch nicht so, Herr Leutnant! wir wollen die Sache gleich untersuchen.«
»Untersuchen!« äffte Nies mit wildem Spott, »hat sich was zu untersuchen! Wenn die Teufelsbrut nicht aneinander hinge wie Kletten! Man bringt ja niemals nichts heraus! Aber ich will's ihnen eintränken,« setzte er giftig hinzu, »ich will! – Was untersuchen! Kartoffeln will ich mir schaben, das wird gescheiter sein als Ihr Untersuchen.«
»Sei'n Sie doch nicht so grob!« erwiderte der andere, »ich hab's ja gut gemeint.«
»Ach was! Sie haben gut reden mit Ihren kühlen Fingern.«
»Nun, da mich's nicht brennt, so will ich's auch nicht blasen.« – Mit diesen Worten entfernte sich der junge Vorgesetzte, der noch lange die Flüche und Seufzer des Verbrannten hinter sich hörte.
Wer wird den Nachtwandler nicht auf den ersten Blick erkennen? Noch immer das jugendliche Herz, nur etwas zahmer und stiller geworden im überwältigenden Dienste des Berufes, etwas abgestandener, möchte man sagen, in den pedantischen Umgebungen. Doch hat es ihm nicht an Leben und Frische gefehlt, die Jugend, der er mit redlichem Herzen seine Dienste weihte, hat ihm vergolten, wie nur sie es vermag mit dem gesunden Blute, mit der rotwangigen Heiterkeit; von den älteren Zöglingen namentlich hat sich ein eng verwandter Kreis um ihn gezogen, dessen Vertrauen und männlichem Streben er auf die freisinnigste Weise und im Gefühl seiner eigenen noch nicht überschrittenen Jugend fast um den Preis seiner amtlichen Stellung entgegengekommen ist; wenigstens hätte der fürstliche Rektor des Instituts manchen Zug von Nachsicht, von geheimer Übereinstimmung, wenn er in das wahre Verhältnis des Lehrers und seiner Schüler eingeweiht gewesen wäre, nach seiner jähen Art für verbrecherisches Komplottieren erklärt. Daneben ist der junge Mann auch mit der Welt etwas bekannter geworden, nicht bloß mit der gelehrten, die bei Prüfungen und sonstigen Anlässen in die Säle der Karlsschule pilgerte, sondern auch mit der feineren Gesellschaft. Der Akademie nämlich stand ein Schwesterinstitut zur Seite, die Ecole des Demoiselles, welche, wie jene unter dem Herzog und seinem Intendanten, so unter der Leitung der Gräfin von Hohenheim und der Aufsicht der Frau von Seeger stand und in einem Teile des alten Schlosses ihren geräumigen Sitz innehatte; adelige und bürgerliche Zöglinge wurden hier, wie in der männlichen Anstalt, herangebildet, die einen für das Leben, die anderen für Oper und Theater. Sie genossen den Unterricht verschiedener akademischer Lehrer, und so waren unserem Freunde geschichtliche und ästhetische Vorträge zugefallen, die ihn nicht nur in die freundliche Nähe Franziskas führten, sondern ihm auch manches angesehene Haus erkenntlicher Eltern und den Zutritt in manche Kreise des vornehmen Lebens öffneten, – ein Vorzug, den er in seiner träumerischen Weise hinnahm, ohne für seine äußere Bildung oder sein äußeres Fortkommen sonderlichen Nutzen daraus zu ziehen.
Denn noch immer war er in der bescheidenen Stellung, die wir ihn vor drei Jahren mit Widerstreben antreten sahen. Noch war nichts geschehen, was ihn in Stand gesetzt hätte, eine Absicht zu erreichen, wie diejenige, die er bei seinem ersten Besuch auf der Solitüde einem allzu unsicheren Nachen anvertraut hatte. Oft gedachte er mit Wehmut seiner hinschwindenden Jahre und manches Klostergenossen, der jetzt schon das Weib seiner Jugend in den Armen wiegte; ihm schienen die Freuden der Erde fremd bleiben zu sollen. Das Bild des Pfarrtöchterleins hatte er nicht vergessen, noch war es ihm gleichgültig geworden, aber ein dämmernder Schleier lag davor, der es in eine gewisse Ferne entrückte. Sie waren gar zu früh wieder getrennt worden durch das rasche Abbrechen des Vaters, worein das Mädchen, wie es ihrem Freunde schien, nur gar zu willig eingestimmt; und wenn Zeit und Nachdenken den ersten Groll in ihm gemildert hatten, war zugleich damit auch das heftige Feuer der Leidenschaft, das an Beruf und Beschäftigung sein sicheres Dämpfungsmittel findet, nach und nach wieder erloschen. Mit den einstigen Stuttgarter Verwandten war er in dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Mal zusammengetroffen; Erkundigungen, die ihm dann und wann bei Gelegenheit auf der Zunge waren, drängte er wieder zurück, denn wozu sollten sie dienen? Das Mädchen, das ihn so glücklich gemacht hatte, schien nicht mehr auf Erden für ihn zu sein, sie hatte sich, mehr noch als ihm bewußt war, in einen stillen Winkel seines Herzens zurückgezogen, und die schönen Tage von Illingen glichen jetzt einem längstgeträumten Traume, der nur zuweilen in einem unbewachten Augenblicke wehmütig mahnend vor die Seele tritt. – Der Herzog war gegen ihn derselbe wie sonst, manchmal besonders gnädig, und doch schien immer etwas wie ein leerer Raum zwischen ihnen zu sein; unter seinen Vertrauten pflegte Heinrich, wenn er auf dieses Kapitel kam, zu sagen: »Er hält mich nicht fest und läßt mich auch nicht fahren.«
Dagegen hatte sich seit einigen Wochen ein neuer Eindruck seiner Seele bemächtigt, der immer herrschender zu werden begann. Freundlich aufgenommen in einem Hause, das er, wegen einer ansehnlichen Sammlung von Meisterwerken älterer und neuerer Malerei, gerne zu besuchen kam, war er einst mit einer Dame vor einer sterbenden Virginia zusammengetroffen, und mochte sie nun von einer seiner Äußerungen über die Kunst oder den Gegenstand oder auf welche Weise sonst angezogen sein, genug, Aurora näherte sich ihm mit lebhafter Teilnahme, und bald brachte er jede freie Stunde an ihrer Seite zu. Nachdem die erste reizende Verlegenheit über den Abstand des Ranges und der Formen überwunden und der Neuling nah genug gerückt war, um ihr geistreiches Gespräch und ihre Weltkenntnis unbefangen sich zueignen zu können, kam die Freundschaft zwischen ihnen gar bald ins Wachsen und nahm eben jetzt eine leidenschaftlichere Färbung an, der die schöne Frau kein Hindernis in den Weg legen zu wollen schien. Ihr Gemahl war abwesend, in Paris, und zwar für längere Zeit; soviel vernahm er aus ihren gelegentlich hingeworfenen Reden, der einzigen Quelle, woraus er sich über ihre Verhältnisse unterrichtete. Wenn wir hier wieder auf eine seiner Eigenheiten stoßen, so müssen wir von ihm bekennen, daß er zu wenig Weltkind war, um sich aufs Fragen und Umherhorchen zu verstehen, ein Mangel, der schon für manchen jungen Mann von bitteren Folgen gewesen ist und selten auf einen günstigen Zufall rechnen kann, da eben das, was alle wissen, wenig besprochen wird, und am wenigsten in Gegenwart eines Beteiligten. Anderseits aber ist nicht zu leugnen, daß dies gerade bei ihm auf jener tiefen sittlichen Zartheit beruhte, die sich vor jedem Mißtrauen scheut und die Freunde, wenn es möglich wäre, ohne Namen und Wohnung besitzen möchte, um die Theophanie im Verkehr der Menschen desto reiner zu genießen. Auch seinen nächsten Freunden verschwieg er dieses Verhältnis, er hatte nicht den Mut, wenn er sich die schlanke vornehme Gestalt vergegenwärtigte, ihren Namen über die Lippen zu bringen, und außerdem gebot ihm ein gewisser bürgerlicher Stolz, jeden Schein eines Prunkens mit ihrem Stande zu vermeiden.
Und nun, welch ein seltsamer Widerspruch, wenn er sich, die nächtliche Lampe in der Hand, als Zuchtmeister durch die Hallen der Wissenschaft wandeln sah! Zwar hatte dieser Beruf mit seinem Lehramte nichts zu schaffen und war auch nur vorübergehend; eine Laune des Herzogs, der die Kränklichkeit eines der militärischen Aufseher schonen wollte, hatte ihm den Auftrag gegeben, dessen Posten für einige Zeit zu versehen und bei diesem Anlaß neben den täglichen offiziellen Berichten noch einen besonderen »von seinem Standpunkt aus« über den »physischen und moralischen« Zustand der Anstalt zu entwerfen.
In seine Gedanken vertieft, war unser Freund in den entlegeneren Flügel des Gebäudes, der an den Garten stieß, gekommen, als er in der Ferne einen Lichtschimmer gewahrte. Er ging den Gang hinunter, einer lauten Stimme folgend, die seltsam durch die nächtliche Stille klang. Er wollte seinen Ohren nicht trauen, als er abgebrochene Laute der gräßlichsten Verwünschung hörte, den »Fluch glühenden Rachedursts vor den Augen der Schöpfung, vor des Ewigen Angesicht!« So lauteten die Worte einer halbbekannten Stimme, die sich nun wieder in ein entfernteres Gemurmel verlor. »Sind denn alle Teufel los in dieser Nacht?« sagte Heinrich, indem er sich einer Türe näherte, hinter welcher das Gespenst schlurfend auf und nieder ging. Jetzt kam es wieder näher, die Worte wurden vernehmlicher. »Und Entsetzen um sie!« hörte er mit Donnertönen ausgestoßen, »fahr' ich da wütend auf! stampfe gegen die Erd', schalle mit Sturmgeheul deinen Namen, Verworfener, in die Ohren der Mitternacht!«
Das anfängliche Grausen des jungen Vorgesetzten machte einem herzlichen Gelächter Platz. Er riß unvermutet die Türe auf und fand sich einer Gestalt gegenüber, die in weitem Schlafrock und ungeheuren Schlappschuhen wie ein Geisterbeschwörer in der Mitte des Zimmers stand, jetzt aber in sichtlichem Schrecken dem Tisch zueilte, mit der unzweideutigen Absicht, eine daselbst befindliche Bierflasche zu salvieren. Doch schien eine solche moralische Niederlage den Erdestampfenden und Sturmheulenden wieder zu gereuen, er hielt inne, nahm sich zusammen und trat mit stolzer Haltung dem unwillkommenen Besuch entgegen.
»Ei zum Henker, Schiller!« rief dieser noch immer lachend, »halten Sie denn die Mitternacht für taubstumm, daß Sie ihr so gräßlich in die Ohren schreien?«
»Ach jetzt erkenn' ich Sie erst!« erwiderte der Zögling halb beruhigt, halb beschämt.
»Räumen Sie nur die Flasche weg,« fuhr jener fort, »man kann nicht wissen – So, und nun sagen Sie mir, wer ist denn der Verworfene, und was hat er getan, daß Sie der Mitternacht so grimmig in den Ohren liegen?«
»Fragen Sie mich lieber nicht; es ist eine alte Ode, die ich schon vor ein paar Jahren machte, und welcher ich mich jetzt zu schämen anfange.«
Merkur sah sie und lachte,
Drum fliegt sie nur bei Nachte,«
rezitierte Heinrich neckend. »Wer ist denn der Gegenstand Ihrer Flüche?«
»Ein Eroberer.«
»Ein Eroberer? Was in aller Welt geht Sie denn ein Eroberer an? Wir leben ja im tiefsten Frieden.«
»Aber ich sage Ihnen ja, der Paroxysmus ist längst vorüber,« versicherte der Dichter.
»Oder feiern wir heute,« fragte Heinrich, »irgend einen Klopstockschen Kalendertag, zu dessen Ehren der alte Geist noch einmal verstohlen durch die Nächte hinbraust?«
»Nein, es hat seinen besonderen Zweck, ich möchte mir eine gewisse musikalische Stimmung aus dem Gedichte reproduzieren, die ich eben jetzt nötig habe, und da ich Ihnen, beim sauren Bier erwischt, ohnehin eine Beichte schuldig bin, so will ich sie ablegen, wenn Sie gut und ernsthaft sein wollen.«
»Geschwind, was ist's? Ich bin gut und ernsthaft und sehr begierig.«
»Ein – Sie müssen mich aber nicht auslachen – ein Trauerspiel.«
»Ein Trauerspiel! Bewahre, das ist nichts zum Lachen. Wie? Also das wäre das Leiden, wegen dessen Sie sich auf den Krankensaal bringen ließen? Nun, ich will's auf mich nehmen. Poesie ist eine Austerkrankheit. Ich will's vor dem ganzen medizinischen Kollegio verantworten.«
»Es ist nicht die erste Verpflichtung,« sagte der Jüngling mit Feuer, »wie viel haben Sie schon für mich getan! Aber mein Dank und mein Vertrauen kennt auch keine Grenzen mehr.«
»Still davon!« entgegnete sein Vorgesetzter lächelnd, »ich befinde mich hier in einer Kollision von Pflichten, wo ich mir den Ausweg selber suchen muß. Aber nun rechtfertigen Sie mich bei mir und verraten Sie mir Ihr Sujet. Also ein Eroberer? Aus den finsteren Zeiten roher Volksanfänge?«
»Gewissermaßen ein solcher, aber mitten im Schoß unserer friedlichen Zeit.«
»Das geht nicht mit rechten Dingen zu,« versetzte Heinrich, indem er ein wenig nachsann. – »Er müßte nur in den Rang derer gehören, die sich bei Shakespeare bescheidenerweise die Förster Dianens nennen.«
»Beinahe getroffen, nur noch etwas schlimmer.«
»Räuber und Mörder!« rief Heinrich mit komischem Entsetzen.
»Räuber und Mörder!« wiederholte der junge Dichter und sagte ihm sein Räuberlied vor.
»Nicht übel,« bemerkte Heinrich, »aber etwas starker Tabak. Der Sonnenwirtle ist ein Kind dagegen. Übrigens, beiläufig gesagt, der wär' auch kein schlechter Stoff.«
»Warum nicht gar!« lachte der Dichter. »Eine Lederhose auf den tragischen Kothurn zu stellen! Der Modegeschmack wird mir meine Extravaganzen ohnehin kaum verzeihen.«
»Nun, so lassen Sie hören.«
»Ich sage Ihnen nichts vom Plan voraus,« sagte Schiller, während jener sich einen Stuhl an den Tisch rückte. »Vielleicht erraten Sie ihn.« – Er las mehrere Szenen ohne innere Folge vor, wobei ihn der ältere Freund nur von Zeit zu Zeit mit der Bitte, nicht so sehr zu schreien, unterbrach.
Als er geendigt hatte und seinen Kunstrichter erwartungsvoll ansah, sagte dieser: »Ist das nicht die Geschichte von den zwei Brüdern, die ich neulich im Schwäbischen Magazin gelesen habe? Der eine gleicht dem verlorenen Sohn im Evangelium aufs Haar, und der andere ist das saubere Früchtchen, das den Frommen spielt, zu Hause bleibt und im stillen Vater und Mutter zu verderben sucht. Nicht?«
Der Dichter nickte.
»Sie scheinen mir einen guten Griff getan zu haben,« fuhr Heinrich fort, »ich dachte damals gleich, das Sujet könnte zu brauchen sein. Freilich, daß der Held unter die Räuber geht, das ist etwas bedenklich, gibt aber Gelegenheit zu kräftigen Schilderungen. Nur sehe ich nichts von einem großen tragischen Stoff – es ist eben eine Familiengeschichte.«
»Ich habe Ihnen noch zu wenig gelesen,« erwiderte der Dichter leise und bescheiden.
»Gut! so viel hab' ich verstanden, daß Ihre Räuber einigermaßen der ganzen Welt den Krieg erklären. Was setzen Sie aber den Verbrechen der Empörung entgegen?«
»Da liegt es ja eben, die Verbrechen des Friedens.«
»Ah! nun geht mir ein Licht auf. Das ist freilich eine Welt. Davon muß ich noch mehr hören. Wohin verlegen Sie aber die Versöhnung?«
»Versöhnung?« wiederholte der Dichter nachdenklich. Nach einer Weile stützte er den Kopf auf die Hand und sagte leise: »Daran hab' ich nicht gedacht – ich bin eingesperrt.«
Ein langes Schweigen entstand. Endlich legte Heinrich dem Dichter die Hand auf die Schulter und sagte: »Auf jeden Fall muß Ihr Katilina zuletzt den Katzenjammer bekommen.«
»Katzenjammer!« fuhr der Dichter zornig empor, »ja, und hören Sie, was für einen!« – Er las mit anfangs zitternder Stimme die Stellen, wo ein zerspaltenes edles Herz sich aus der Hoheit und Verödung nach der verlorenen Unschuld, dem vergessenen Friedenstale der Heimat, zurücksehnt und mit Tränen wieder die Schwalbennester, das Gartentürchen und die goldenen Maienjahre der Knabenzeit begrüßt.
»Das ist rein schön!« rief Heinrich, »geben Sie mir die Hand, das haben Sie vortrefflich gemacht. Aus diesen Zeilen spricht das Gemüt des Dichters, oder daß ich's eigentlich sage, ein Stück von seinem Leben. Da sehen Sie selbst, wie viel die Poesie durch Erlebtes gewinnt.«
»Sagen Sie vielmehr, sie ist gar nichts anderes als Erlebtes. Das hab' ich am deutlichsten gefühlt, als ich Goethe sah.«
»Wie?« rief Heinrich lebhaft, »Sie haben ihn gesehen?«
»Nun freilich! vor vielen Jahren, hier, in der Akademie! Er war mit dem Herzog von Weimar da und wohnte einer öffentlichen Preisverteilung bei.«
»O sprechen Sie mir von ihm! Wie erschien er Ihnen?«
»Ein schöner, stiller junger Mann, mit dem Siegel Apollos auf der Stirne und mit dem Prometheusfeuer in den Augen. Man sah ihm gar nichts Wildes, Sturm- und Drangmäßiges an; er wurde feuerrot, als einer der Redner eine Stelle aus seinen Werken zitierte. Damals hatte ich die Knabenschuhe noch an, und doch hätt' ich ihm an den Hals fliegen mögen. Ach, wie beneidete ich ihn! Nicht weil er geehrt unter den Großen und Vornehmen stand, sondern weil er, noch so jung, die Welt frei beschauen durfte, an der Seite seines Fürsten und Freundes auf Abenteuer ausreitend. Jetzt bin ich selbst in dem Alter, wo er schon so viel erlebt hatte, und wenn ich daran denke, möchte ich durch die Wände brechen.«
»Und selbst auf ein paar Wochen unter Räuber gehen, um sie desto besser schildern zu können?«
»Nein!« lachte der Dichter. »Das braucht's nicht, die sind auch ein Stück Leben. Sehen Sie sich um, ich will Ihnen die Originale nicht verraten, Sie finden sie leicht selbst heraus, freie Seelen, Schleicher, Schufte, alles, was man braucht.«
»Richtig! Da haben Sie die ganze Brüderschaft, mit der Sie, wie Sie sagen, eingesperrt sind, unter die Flügel genommen und inkognito in die böhmischen Wälder getragen. Ein sauberes Komplott, das ich entdecken muß! Und natürlich, je größer hier der Zwang, desto ärger dort die Lizenzen.«
»Lauter Porträtmalerei!« fuhr der Dichter fort, »brave Kerls, die für einen braven Kerl was riskieren, und wenn auch der Galgen drauf stünde; zum Beispiel –« Er sah den Vorgesetzten schalkhaft an.
»Ich will nicht hoffen!« rief dieser errötend.
»Man kann nicht wissen,« sagte Schiller, »die dramatis personae sind noch nicht alle getauft.«
»Nun, nun! Kompromittieren Sie mich nicht bei den Verbrechen der Empörung. Gehen wir jetzt zu den Verbrechen des Friedens über. Franz heißt die Canaille? Wie?«
Schiller nahm sein Manuskript und las. Roller hörte verwundert zu, schüttelte den Kopf immer stärker und sprang endlich auf. Nachdem er ein paarmal heftig im Saale hin und her gegangen war, kam er zurück, ergriff die Lehne des Stuhls und rief: »Das ist eine Mißgeburt, die man in Spiritus aufbewahren sollte, wenn Sie nicht leider dessen schon zu viel hätten! Nein, lieber Schiller, das ist ein moralisches Unding, das müssen Sie mir ändern. Es ist nicht bloß ein Diebstahl, sondern zugleich ein Verrat an Shakespeare, den man hierin kaum nachahmen, geschweige überbieten sollte, weil seine Bösewichter eine besondere Menschensorte sind, die nur in England wächst, pathologische Abnormitäten, hinter deren Treiben eine gewisse Narrheit steckt, ein Spleen, daher man ihm in diesem Punkte mehr nachsehen muß als einem deutschen Poeten. Ja, der Bösewicht, das ist immer die gefährliche Klippe für diese jungen Genies. Wie sieht's doch in der wirklichen Welt so ganz anders aus! Wer mir ein paar Menschen schildern könnte, die von Haus aus gut scheinen, aber durch Gegensatz und Leidenschaft böse und zuletzt, ohne Umkehr ihren Weg fortrennend, schlecht, ja mit Bewußtsein schlecht werden und damit ihren eigenen Untergang dekretieren – wer das könnte, den wollte ich einen Dichter heißen, das wäre ein tragisches –«
Er hielt plötzlich inne. Auch Schiller sah betroffen auf; beide schwiegen und horchten einen Augenblick. Leise, nicht zu beschreibende Schwingungen kamen durch die Luft, die, wie sie sich näherten, in ein eigentümliches, kaum fühlbares Schüttern des Bodens übergingen und instinktmäßig auf die beiden jungen Männer wirkten. Roller stand kerzengerade und nahm eine Amtsmiene an; Schiller hatte mit einem Griff das Trauerspiel zusammengerafft, und im nämlichen Augenblick, wo es in ein verborgenes Schubfach flog, sprang die Türe auf, und der Herzog stand vor ihnen.
»Was macht Er da?«
Heinrich wollte nicht lügen, aber auch nicht die volle Wahrheit sagen. Er versuchte den goldenen Mittelweg und versetzte: »Ich habe den Eleven Schiller wegen seiner poetischen Versuche getadelt.«
»Ich sage, da hat Er wohlgetan; das ist reiner Zeitverderb. Wie? Wo steckt denn das Corpus delicti?« – Er eilte an Schillers Arbeitstisch und las in der inzwischen aufgelegten Schrift: »Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen.« Hierüber mußte der Zögling ein hastiges Examen bestehen, das aber zur Zufriedenheit des durchlauchtigsten Rektors ausfiel. »Es gefällt mir,« sagte er am Ende, »daß Er die Seele nicht ganz unabhängig vom Körper gemacht hat, wie ich nahezu von Ihm vermutet hätte. Er hat sich hier als Mediziner gehalten; aber vergeß Er nicht, daß die Bestie im Menschen doch unterworfen werden kann durch moralische Freiheit oder, was ein wohltätiges Surrogat dafür ist, durch strenge Erziehung, worüber freilich' die Bestie seufzt.«
Er sah seinem Zögling scharf in die Augen und kramte darauf wieder in dessen Papieren. Unglücklicherweise stieß er hier auf die Ode, welche liegen geblieben war. Er las sie und warf sie verächtlich wieder hin. »Wenn Er Beruf zur Dichtung hätte,« sagte er, »so würde Er nicht nach solchen Nebelbildern von Eroberern haschen. Das ist die unnatürliche neue Mode, die sich in Stoff und Form vergreift. Ich weiß nicht, ob es von der deutschen Unkultur herkommt oder vom Shakespeare. In diesem hab' ich denn kürzlich auch einmal gelesen: mon Dieu, welch barockes Zeug! Genie hat er freilich, und das zeichnet ihn vor seinen Nachtretern aus; aber seine Manier wird immer nur bei jungen unerfahrenen Menschen Anklang finden, die keinen Geschmack haben. Was ist das für eine Poesie, wo Kothurn und Narrenkappe, wo die tollsten Gegensätze und Widersprüche sich durcheinander treiben! Es ist mir überhaupt eigentlich nicht darum zu tun, daß ein Dichter aus meiner Anstalt hervorgehe. Die Franzosen haben den Kreis der Dichtkunst abgeschlossen. Alle künftigen Autoren werden sich, wenn sie Beifall erwerben wollen, an Voltaires Manier halten müssen, und doch hat dieser den Gipfel vorweg eingenommen, leider freilich auf Kosten der Religion! Über ihn hinaus kann keiner mehr. Wozu nun enfants perdus heranziehen? während es auf einer anderen Seite nottut! Dichter haben wir genug, aber eines Denkers bedarf die Zeit, der ihr wieder einen Umschwung gibt. Zwar die Bewegung ist schon da; es braucht keine große geistige Spürkraft, um zu wittern, daß neue Ideen auf dem Wege sind; aber sich ihrer zu bemächtigen, sie auszusprechen und zwischen festen Dämmen zu leiten, dazu bedarf es eines hellen Kopfes. Ihm hätt' ich so was zugetraut, Schiller: das heißt –«
Ein flüchtiges Blinzeln des Zöglings begleitete diese pädagogische Einlenkung.
»Das heißt, ich meine, daß Er nach dieser Dichtung vielleicht etwas Brauchbares hätte beitragen können, das den rechten Mann hervorgerufen oder sekundiert haben würde. Deshalb hab' ich Ihm auch immer den philosophischen Tik innerhalb Seiner Fachwissenschaft nachgesehen. Aber seit Er sich auf das liederliche Versemachen gelegt hat, scheint Er den Kopf nicht mehr auf dem rechten Fleck zu haben.«
»Eure Durchlaucht,« wagte Heinrich einzuwenden, »erlauben mir zu fragen, ob diese neuen Ideen nicht auch von einem Dichter ausgesprochen werden könnten? Die Wirkung wenigstens wäre stärker und sicherer.«
»Nein!« rief Karl. »Der Dichter ist nur der Kolporteur des Philosophen, der seine Abschnitzel in zierliche Quincailleriewaren umschmelzt. Und wozu dann die Verse? Warum nicht in einfacher überzeugender Form? Bedarf denn die Wahrheit einer glänzenden Täuschung?«
Bei einem so absoluten Mißverständnis war es am besten, zu schweigen.
»Gestatten Sie, gnädigster Herr,« nahm Schiller das Wort, »mich des so hart verurteilten Shakespeare ein wenig anzunehmen, wiewohl er sich selbst am besten zu verteidigen weiß.«
»Ich will nichts davon hören!« rief der Herzog ungeduldig. »Es ist ein unnatürliches Wesen mit rohen Natürlichkeiten im einzelnen, im ganzen aber ein Tollhaus von Kontrasten, die so gegen alle Natur und Wahrheit auseinander fahren, daß kein Hexenmeister sie unter einen Hut bringen könnte.«
»Aber, gnädigster Herr,« versetzte sein Zögling lächelnd, »ich hatte immer gemeint, in den Gegensätzen bestehe eben das Wesen des Dramas.«
»Das werd' ich von Ihm lernen sollen!« rief der Herzog. »Allerdings, aber es sind einfache Gegensätze, die auf klaren Fundamenten ruhen und einander direkt gegenüberstehen, Gegensätze, die dann mit einem einzigen Soyons amis, Cinna! wieder zu vereinigen sind. Sieht Er? die Einheit ist's, woran es jenem Briten fehlt, also die Poesie; denn das Wesen der Dichtkunst ist Einheit, weil sie uns auf uns selbst zurückführt.«
»Die Schlacht geht scharf,« dachte Heinrich. »Er hat schon wieder ein neues Roß bestiegen.«
Der Dichter aber versetzte blinzelnd: »Und in uns selbst, durchlauchtigster Herzog, treffen wir jene Mannigfaltigkeit wieder. Die psychologische Betrachtung zeigt uns eine große Reihe von Tier- und Menschengattungen, die in einem Individuum beisammen wohnen, so daß es aufs Haar einem Shakespeareschen Drama gleichen wird: eine Welt der tollsten Kontraste, die doch am Ende unter einem Hut vereinigt sind.«
Mochte nun Karl bei diesen Worten an sein eigenes dreieckiges Hütchen denken, oder hatte ihn die Einwendung etwas verwirrt, er schwieg einen Augenblick, spielte mit seinem Stöckchen und fuhr endlich heraus: »Er will alles besser wissen! – Mach Er jetzt, daß Er zur Ruhe kommt!« fügte er hinzu. »Er hat eine feuergefährliche Krankheit, die ich mit nächstem genauer untersuchen lassen muß, wenn sie sich nicht von selber gibt; ohnehin gegen das Poeten- und Erobererfieber werd' ich Ihm eine gute Dosis Tartarus emeticus verschreiben lassen. – Und Er,« wandte er sich an Roller, »seh Er zu, daß Er mir den Bericht über die Anstalt in Bälde liefert; es ist mir darum zu tun.« – Er ging, und Heinrich mußte ihn begleiten. »O der Erzstatistiker!« rief ihm der Dichter nach, der über des Freundes Drangsal seinen eigenen Ärger vergaß.
Geselle!
Du seist ein guter oder schlimmer,
Leg dich aufs Ohr und rühr dich nimmer!
Uhland.
Noch einen Gang durch den Tempel Salomonis!
Wir feiern den Abschied unseres Helden aus der Akademie, der nicht zwar als Lehrer, aber als interimistischer Aufseher nach langem Warten und großem Mißmut endlich des verdrießlichen und mühseligen Amtes enthoben wurde. Morgen durfte er seine Wohnung wieder in der Stadt aufschlagen, und diese Nacht mußte er die letzte Runde bei seinen schwer zu hütenden Truppen machen. Eine Abschiedsfeier eigener Art war ihm zubereitet: nichts Geringeres als die Vorlesung der Räuber, wozu Schiller den nachsichtigen Vorgesetzten eingeladen hatte. Seit jener Nacht war Heinrich ein Freund und heimlicher Beschützer der vielversprechenden Arbeit geworden; er sah sie wachsen oder vielmehr reif werden, und wenn es auch zu spät war, einen Einfluß auf die ursprüngliche Anlage auszuüben, so wirkte doch bald seine Billigung, bald seine Verwerfung vorteilhaft auf die Gestaltung des Einzelnen und auf den Ausbau des Ganzen.
Der Dichter hatte alle Segel aufgezogen, um wenigstens mit den Hauptszenen für diese Nacht fertig zu werden; es war ein Fest, auf das er sich kindlich freute. Die erste Leseprobe hatte er vor wenigen Wochen im Kreise seiner Mitschüler auf einem der spärlichen Ausflüge, die ihnen vergönnt waren, mitten im dichtesten Walde der strengen Disziplin abzustehlen gewußt: jetzt sollte die Hauptprobe folgen.
Doch wo? Zwar hätte der Akt ohne viele Umstände am einfachsten auf Heinrichs Zimmer vorgehen können; aber dort war man von Lauschern und Störern umgeben: über Niesen konnte trotz der verbrannten Finger der Spekulationsgeist kommen, ein Aufseher konnte etwas zu melden, zu fragen haben, denn das Rapportieren ging wie eine Seuche um. Ja vor dem Herzog selbst, den eine Galerie vom Schloß herüberführte, konnte man keineswegs sicher wohnen. Die Krankenzimmer waren ein abgenütztes und für den Augenblick nicht zu gebrauchendes Motiv, und mancher Rat wurde von Schiller und seinen Verschworenen gepflogen, bis endlich einer von den wenigen bewährten Mitzöglingen, der Komponist Zumsteeg, der bei den Gesängen des Trauerspiels zu Gevatter stand, vom Geist erleuchtet wurde. Er hatte noch in den letzten verzweifelten Stunden ausfindig gemacht, daß die Türe zum Karzer zufällig offen geblieben war, und dorthin wurde ominöserweise der Schauplatz der Tragödie verlegt.
So begleiten wir denn unseren Freund auf dem Katzenweg ins oberste Stockwerk des hintersten Flügels. Doch diesen Charakter nimmt seine Wanderung erst später an. Jetzt ist sein Schritt noch fest, sein Gang noch unbefangen; er ist noch der Vorgesetzte, der die Runde macht. Es ist doch eine eigene Sache um das Gewissen! In diesem Augenblick dürften ihm alle höllischen Legionen die Straße verlegen, er würde sich nichts darum bekümmern, denn er ist auf seinem Berufsweg; aber nach wenigen Minuten wird sein Gang unsicher, sein Tritt leise werden, sein Auge wird ängstlich umherschweifen, und das einzige geringfügige Ungetüm, Nies genannt, würde ihm durch seine Erscheinung einen größeren Schrecken einjagen, als das gehörnte Oberhaupt des rebellischen Reiches, das den Menschen zu jeglicher Insubordination zu verleiten beschuldigt wird.
Als er das Ende eines der mittleren Flügel, welche die Schlafsäle enthielten, erreicht hatte, hörte er etwas die Treppe heraufpoltern. Er zog sich ein wenig zurück und sah, wie ein sehr betrunkener Aufseher über den Gang taumelte und hart neben ihm seine Operationen gegen die Türe eines Schlafsaales richtete. Zwei-, dreimal machte er höchst kunstgerechte Ausfälle auf die Klinke, bis es ihm endlich gelang, sie zu ergreifen. Er ruderte, die Türe hinter sich offen stehen lassend, in den Saal hinein, wo über eine Abteilung der jüngsten Pflänzchen der Bock zum Gärtner gesetzt war. Die Lampen im Schlafsaal brannten hell und gestatteten eine genaue Beobachtung der verschiedenen Manöver, die jener brauchte, um endlich zur Ruhe zu kommen. Erst hielt er sich an seiner Bettstelle und starrte nachdenklich vor sich hin; offenbar schien er mit großer Umsicht zu Werke gehen zu wollen. Dann begab er sich an das Geschäft, seinen Rock auszuziehen; da er sich aber in den Ärmeln verwickelte, so fiel er mehrmals auf das Bett, wobei er aufflatterte und zurücksank wie eine Fledermaus. Endlich hatte er sich herausgeschält und setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf das Bett, um ein wenig zu rasten. Ein kummervoller Gedanke schien in ihm aufzusteigen, er erhob sich und blickte auf dem Boden umher; als ihm aber der Stiefelzieher in die Augen fiel, den ein wohltätiger Genius schon bereit gestellt hatte, da heiterten sich seine Mienen wieder auf. Von militärischem Geiste durchdrungen rekognoszierte er seine Stellung und lehnte dann den rechten Flügel an das Bettende. Diese Taktik wurde mit solchem Nachdruck ausgeführt, daß die Bettstelle gewaltig krachte. Hierauf besetzte er mit dem linken Fuß das erwähnte Instrument, versuchte mit dem rechten einige Umgehungen und brachte ihn endlich glücklich in die Gabel. In diesem kritischen Augenblick aber rutschte der treulose Stiefelknecht vorwärts; ein schwerer Fall, ein dumpfer Fluch, dann Stille. Nun erhob er sich halb, griff nach dem unentbehrlichen Instrument, schob es an den vorigen Platz zurück und stand mit grenzenloser Anstrengung wieder auf. Endlich war er auf den Beinen. »Infamer Stiefelhund!« brummte er und bediente ihn mit einem Fußtritt. Dann wiederholte er den Versuch, aber, als wäre die so gescholtene Bestie wirklich belebt, sie wischte ihm abermals unter den Füßen weg, und es erfolgte dieselbe Katastrophe. Heinrich hatte dieselbe das erste Mal einem Zufall zugeschrieben, jetzt aber, da er genauer hingesehen, stiegen aus physikalischen Gründen Zweifel in ihm auf, und der Umstand, daß die junge Bevölkerung bei den zwei schweren Fällen sich so still und schlafergeben verhielt, bestärkte seinen Verdacht. Er trat leise näher an die Türe, wo er den Schlafsaal übersehen konnte, und suchte als scharfsinniger Philosoph die bewegende Ursache außerhalb des bewegten Etwas. Er durfte nicht lange forschen; bald regte sich etwas in der Ecke, und sein gutes Auge zeigte ihm einen Eleven, der halb aus dem Bette hing und eine Schnur in der Hand spielen ließ. Diesen Konduktor verfolgte er; derselbe verlor sich bald in der Dunkelheit, bald tauchte er an erhellten Stellen wieder auf und leitete sein Auge bis zum Stiefelknecht zurück, welchem er somit Leben, Absicht und Handlung mitteilte. Der Betrunkene hatte sich inzwischen zum dritten Male in Positur gestellt; schnell blickte Heinrich auf den kleinen Spiritus rector. Der Geist des Mutwillens war nicht müßig: siehe da, ein Ruck! und die alte Wirkung wiederholte sich zum dritten Male, krachender als zuvor. Diesmal aber sprang der Gestürzte mit einem gräßlichen Fluch alsobald wieder auf die Beine; ein zweiter Satz brachte ihn gestiefelt und gespornt ins Bett, wo er nach wenigen Sekunden ruhig zu schnarchen anfing. Kaum war dieses Signal erschollen, so regte es sich in den Betten, wo es vorher so still gewesen war; Köpfe kamen zum Vorschein, nickten einander zu, und fünfzig junge Stimmen lachten einen lustigen Chorus.
Das geheime Publikum im Karzer war schon längst versammelt, als Heinrich ankam. Durch eine kluge Vorrichtung hatte man das Licht außer Stand gesetzt, einen Schein auf das Fenster zu werfen, und als die Hauptperson auf dem bereit gehaltenen Stuhle Platz genommen hatte, besetzte Schiller, dem man die Ungeduld in den Augen ansah, den anderen noch übrigen und begann zu lesen, während der Rest des Auditoriums stehend den Tisch umgab.
Es ist die schönste Aufgabe der Poesie, den Menschen über sich selbst zu erheben, das Wahre in der Wirklichkeit aus dem mannigfaltigen Schein herauszulösen und das schwankende, verworrene Dasein auf das ruhige Maß der Schönheit zurückzuführen. Diesen Beruf haben die griechischen Dichter ausgeübt, und unsere deutschen Dioskuren, nachdem sie die ungebundene Jugendkraft versprudelt, haben sich nach langem Widerstreben auf demselben Wege brüderlich zusammengefunden. Jeder vollendete Dichter wird ihn einschlagen, und wenn seine Zeit, mit ihrer Not und ihren Leidenschaften im Gedränge, nicht Zeit hat, auf ihn zu hören, so werden die folgenden Geschlechter mit dankbarer Vergütung zu ihm zurückkehren; denn nichts Echtes kann auf die Dauer verloren sein. Wer aber das Wohl und Wehe seiner Zeit im Herzen bewegt, ihren ganzen Zwiespalt ungelöst ausspricht, der herben Gegenwart ihr herbes Bild im Spiegel zeigt und mit der Stimme von Tausenden und Abertausenden redet, dem wird im gleichen Augenblick ein tausendstimmiges Echo des Beifalls entgegentönen, ein Tag wird ihm vollere Kränze bringen, als jener sich in Jahrhunderten erwirbt, und auch die Späteren werden ihm seinen unbestrittenen Platz unter den Lenkern der Geschichte zugestehen. Sein Dichterkranz vielleicht wird welk auf die Nachwelt kommen, aber der mächtigste von allen Herrschern, der so reich belohnt, weil er nur einmal lohnen kann, der Augenblick hat ihm gehuldigt.
Solches widerfuhr dem Erstling von unseres Dichters Muse. Er fand schon in seinen Freunden einen Hörerkreis, den er nicht dankbarer hätte wünschen können. Jede Saite der jungen Herzen war in dieser Dichtung angeschlagen, gleich in der ersten Studentenszene war dem unüberwindlichen Triebe, den verhaßten Zwang abzuschütteln, sich ins unbekannte Leben zu stürzen, die Welt mit der von Gottes Gnaden zu allem Großen geborenen Jugendkraft zu erobern und zu erfrischen, und zugleich dem immer übertäubten, immer wiederkehrenden leisen Zweifel: »Aber was denn eigentlich anfangen?« ein so lebendiger Ausdruck geliehen, und von seiten der Zuhörer kam jeder halben Anspielung, die, den nächsten Kreisen entlehnt, von Fremden nur dem äußeren Zusammenhange nach verstanden werden konnte, ein so rasches Verständnis entgegen, daß er bei dieser Vorprobe im Jubel der Seinigen einen vollkommenen Vorschmack der Triumphe genoß, welche die Welt, im großen ebensolch ein Gefängnis wie die Akademie im kleinen, seiner Dichtung vorbehalten hatte.
Der Dichter sollte aber auch erfahren, wie der Becher mit dem süßen und schäumenden Trank des Augenblicks seine Hefe hat, wie der Stoff, der, weil er der Zeit entnommen ist, die allgemeinste Teilnahme findet, eben darum auch die bittersten Anfeindungen, die abgeschmacktesten Mißverständnisse herausfordert: – das ganze künftige Schicksal seines Gedichtes sollte wie in einem Spiegel an ihm vorübergehen.
Er hatte, ohne sich eine Pause zu gönnen, und mit unaufhaltsam wachsender Kraft bis zum fünften Aufzug fortgelesen und war eben an jener Vision, worin er den alten Propheten ihre Riesenbilder und der Offenbarung ihre geheimnisvollen Schauer abgelauscht – seine heftige, alles Maß übersteigende Stimme entsprach dem schrankenlosen Inhalt dessen, was er las, und von den begeisterten Zuhörern merkte keiner mehr, daß er sie so entfesselt walten ließ, als wären sie in einer Wüste und nicht in Herzog Karls Akademie, ja selbst der ältere Freund, dem die Dichtung so im Zusammenwirken aller Teile völlig neu war, hatte die ganze Welt darüber vergessen – da pochte es auf einmal laut an der verschlossenen Türe. »Aufgemacht!« rief eine nur zu bekannte Stentorstimme, und die Stürme und Engel des Jüngsten Gerichts zerstäubten vor einem Hauch aus dem Munde des Leutnants Nies.
»Aufgemacht, Herr Schiller!« wiederholte dieser. »Werden Sie aufmachen? Meinen Sie, ich hätte Sie nicht erkannt am Gebrüll?«
Zumsteeg öffnete die Türe, nachdem der unglückliche Dichter sein Manuskript verborgen hatte.
Der Verhaßte trat herein, von einem Aufseher gefolgt, der eine ungeheure Laterne trug. »Das ist nun schon das zweite Mal,« sagte er zu Schiller, »daß ich Sie so fluchen und durnieren und krakeelen höre. Sie sollten sich doch recht schämen, so wüst auf ein Institut zu schimpfen, dem Sie Ihre Existenz verdanken und alles, was Sie sind.«
Der Dichter maß ihn mit Löwenblicken, gab aber keine Antwort.
»Aber so wahr ich Melchior Nies heiße,« fuhr der Leutnant fort, »wenn ich noch einmal so was höre, so rapportier' ich's dem Herzog. Seine Durchlaucht werden so einen schwarzen Undank zu belohnen wissen, wie er's verdient. Hab' wohl gehört, was mir der junge Herr neulich nachgerufen haben: Ein konfiszierter Kerl! O, ich weiß recht wohl, was das bedeutet; hab' mir's auch ins Wachs gedruckt. Man wird dem Herrn Schiller auch noch allerlei konfiszieren, wenn das so fortgeht.«
Unter diesen Reden hatte ihn Schiller wie in tiefer Zerstreuung angesehen; auf einmal schien ein Gedanke in ihm aufzusteigen, und er trat schnell ans Fenster.
Diese völlige Gleichgültigkeit brachte den Zuchtmeister aufs äußerste. »Was haben S' da am Fenster zu schaffen?« rief er, einige Schritte vortretend und gespreizt wie ein kalekutischer Hahn. »Allomarsch, meine Herren! Sie gehören nicht daher. Gehen Sie gleich zu Bett, wo Sie hingehören. Wollen Sie in den Rapport kommen oder –?«
Schiller trat vom Fenster mit erheiterten Blicken zurück, wünschte dem Leutnant mit gesetztem Wesen gute Nacht und eilte hinaus, die anderen Eleven folgten. Nies sah verwundert nach, schloß dann die Karzertüre ab und ging mit seinem Begleiter ebenfalls die Treppe hinunter.
»Alle Wetter!« sagte Dannecker zu den anderen, während sie ihrem Schlafsaal zueilten. »Wo ist unser Doktor hingekommen?«
»Das weiß ich wohl!« versetzte Schiller lachend. »Den muß ich vom Galgen erretten. Deshalb hab' ich während Niesens Philippika immer drauf studiert, wie ich ihm die Schlüssel entreiße. Ich sah in den Hof hinunter und bemerkte, daß in der Anatomie noch Licht ist. Ich hab' was ganz Tolles vor, weiß mir aber nicht anders zu helfen. Geht nur zu Bett und haltet euch ruhig; ich komme bald. Gut' Nacht inzwischen!«
Er rannte über Gänge und Treppen zu den anatomischen Zimmern hinab, wo er auch seine Vermutung nicht getäuscht fand. Einige Mediziner saßen bei den Karten zusammen.
Er stürzte herein. »Kinder!« rief er atemlos, »tut mir den Gefallen und spielt so laut, daß ihr mir den Nies herbeilockt. Riegelt alle Türen ab, daß er nur durch die Totenkammer herein kann, und dann retiriert euch auf der anderen Seite hinaus. Gebt mir einen weißen Überwurf und fragt nicht lang, ich will euch nachher alles sagen.«
Die Spieler sahen ihn erstaunt an, da sie aber seine Hast gewahrten und begriffen, daß es dem gemeinsamen Feind einen Streich zu spielen gelte, so säumten sie nicht. Einer brachte dem Kameraden ein weißes Tuch, und ein anderer leuchtete ihm nach der Totenkammer, wo er sich im dunkelsten Winkel versteckte.
Bald hörte er mit innigem Behagen, wie es im Nebenzimmer laut und lärmend wurde. Und gleichwie, wenn die Mäuse zirpen, auch die Katze nicht fern ist, so vernahm er nach einer kleinen Frist Tritte, die sich näherten; es rasselte an mehreren Türen, die Spieler löschten das Licht und entflohen mit Gepolter; endlich drehte sich der Schlüssel im Schlosse zur Totenkammer, und herein kam der Schrecken aller Akademisten im Geleite seines Unteroffiziers. Ihm voraus aber ging ein starker Duft des schlechtesten Rauchtabaks, den sein Mund verbreitete. Er nahm dem Aufseher die Laterne ab und hielt sie vorsichtig in die Höhe. »Pfui,« sagte er, »da tödelt's, da stinkt's! Es sind doch abscheuliche Leute, diese Mediziner.« – Er zog seine große Horndose hervor, drehte den Deckel, der einen markzerreißenden Ton von sich gab, und nahm eine volle Prise. »Was war denn das für ein Lärm?« hob er wieder an. »Jetzt ist's ja ganz still. Es wird doch auch geheuer sein? – Sieh da, der macht eine Grimasse, die wird mir im Schlaf nachgehen. Dem muß der Tod weh getan haben. Ein scheußlicher Kerl!«
Er war unter diesen Worten halb unschlüssig vorwärts gekommen; da erhob sich auf einmal hinter den Toten hervor eine lange Gestalt im weißen Leichengewande und führte mit der Faust einen wohlgezielten Streich, der dem Leutnant die emporgehobene Laterne aus der Hand schlug und ihn noch obendrein ziemlich derb auf die Nase traf. Der Aufseher schrie wie ein Kalb und entfloh; Nies fiel lautlos zu Boden. Das Gespenst sprang jetzt hervor, beugte sich zu ihm hinab und nahm ihm die Schlüssel. »Wenn der Scherz nur nicht zu weit gegangen ist!« murmelte er besorgt. »Aber jetzt ist keine Zeit.« – Er raffte die Schlüssel zusammen, blies das noch in der Laterne brennende Licht aus und rannte die Treppe hinauf.
Heinrich war inzwischen in einer üblen Lage gewesen. Als er den Leutnant an der Türe hörte und die Vorlesung unterbrochen wurde, war sein erster Gedanke, zum Fenster hinauszuspringen, um nur nicht hier gefunden zu werden. Aber er war im obersten Stockwerk! Schnell sah er sich um. Kein anderer Schlupfwinkel war vorhanden als die Bettstelle, welche glücklicherweise mit ihrem Strohsack bedeckt war. Während Zumsteeg die Türe aufschloß, kroch er unter dieselbe und hörte mit einer Art von Verzweiflung, wie alle fortgingen und die Türe geschlossen wurde. Nun wagte er endlich wieder hervorzukommen, und nachdem er sich abgestäubt hatte, trat er ans Fenster und malte sich seinen peinlichen Zustand aus. Ein Vorgesetzter und Lehrer an der Anstalt – und im Karzer eingesperrt! Er konnte sich keiner Seele entdecken und wußte nicht, wie er loskommen sollte.
Es huschte die Treppe herauf, es klirrte im Schloß, und während er wieder unter das Bett fahren wollte, sprang die Türe auf. »Herr Doktor!« rief's herein, »wo sind Sie? Herr Roller! geschwind! ich bin's, Schiller!«
Heinrich sprang auf den Retter zu: »Schiller, das werd' ich dir in meinem Leben nicht vergessen!« rief er. »Wir sind Brüder von diesem Augenblick! Hörst du?«
»Von Herzen!« rief Schiller, indem er ihm die Hand hinstreckte. »Ich hab' in die Geisterwelt gepfuscht und den Nies auf den Tod erschreckt. Was tut man nicht für einen Freund? Nur heraus! schnell! fort!«
Er zog den Staunenden zur Türe hinaus, schloß wieder ab, eilte mit ihm die Treppe hinunter, sprang an ein Fenster, warf die Schlüssel in den Hof, »gute Nacht!« rief er atemlos und jagte von dannen.
Heinrich wußte nicht, wie ihm geschehen war, und ging noch ganz bestürzt nach seinem Zimmer. Da hörte er ein Rennen und Laufen und ein Gemurmel vieler Stimmen. Er folgte dem Geräusche und stieß auf den Intendanten, welcher, von Aufsehern und Bedienten umgeben, eilig daherkam; der erschrockene Aufseher zeigte ihnen, ungern genug wie es schien, den Weg. Heinrich schloß sich an und gelangte mit ihnen zur Totenkammer, wo ihm das Rätsel alsbald klar wurde; denn hier lag Nies, der ohnmächtig in eine Ecke getaumelt war, wie tot am Boden. Man bemühte sich, ihn wieder in das Leben zu bringen. Ein herzugekommener Mediziner, der ihn vielleicht lieber gleich seziert hätte, goß den Weingeist von einem Präparat ab, rieb ihm die Stirne damit ein und gab ihm, als er endlich zu sich kam, sogar davon zu trinken. Nies schaute mit wilden Blicken um sich und behauptete, von einem Geist einen Nasenstüber bekommen zu haben. Die einen lachten, die anderen bekreuzten sich. Herr von Seeger schüttelte mißtrauisch den Kopf, unser Freund aber entfernte sich mit dem tröstlichen Glauben, daß auch die strengste Untersuchung dem Gespenste nicht auf die Spur kommen werde.
Wie schwach
Von diesen starken Geistern! Weibergunst,
Der Liebe Glück der Ware gleich zu achten,
Worauf geboten werden kann! Sie ist
Das einzige auf diesem Rund der Erde,
Was keinen Käufer leidet als sich selbst.
Die Liebe ist der Liebe Preis.
Schiller, Don Carlos.
Ein Rosabriefchen, das Heinrich am anderen Tage auf dem Wege zur Ecole erhielt, berief ihn eilig zu seiner Dame. Er begab sich nach geendigtem Unterricht in ihr Haus, fand sie schöner und geistreicher denn je und wurde, nachdem sie ihm liebevoll sein ganzes gegenwärtiges Treiben und Befinden abgefragt hatte, mit folgender Anrede von ihr überrascht: »Es hat sich, schneller als wir denken konnten, eine Freundschaft zwischen uns befestigt, der wir, solang unser Schicksal noch in unserer Hand ist, Gesetze und eine Staatsverfassung zu geben uns angelegen sein lassen müssen. Sie, mein Freund, sind ein lieber Träumer und wandeln in Ihrem somnambulen geraden Striche vor sich hin, ohne zu sehen, was links und rechts etwa mitzunehmen oder zu vermeiden ist; Sie erlauben daher meinem Weltsinn, für die Dehors zu sorgen. – Zuvor aber von etwas anderem. Zwischen Freunden wie wir sind oder zu werden beginnen, muß, deucht mich, reines Feld sein, nichts Unklares darf zwischen ihnen liegen, keine zu späte Entdeckung der Freundschaft Gefahr bringen. In diesem Sinne wenigstens, hoff' ich, werden Sie mich zu achten nicht aufhören. Ist es wirklich? Sie wissen nichts von meinen Schicksalen?«
»Nein,« erwiderte er, sie ruhig anblickend.
Sie sah ihm lang in die Augen und sagte dann mit einer Mischung von Spott und Bewunderung: »Das sieht Ihnen gleich.«
Ein Bedienter trat ins Zimmer. »Ist angespannt?« rief sie ihm ungeduldig entgegen. Der Diener verbeugte sich bejahend.
»Nun so kommen Sie,« wandte sie sich zu unserem Helden, »wir fahren ein wenig aus und wählen einen einsamen Weg, zu solchen Mitteilungen geeignet.«
Sie ging und bot ihm im Gehen den Arm, so daß er unten mit ihr im Wagen saß, ehe er sich besinnen konnte. Die rasche Ehre, die ihm widerfuhr, seine seltsame Lage – in einem wahrhaft fürstlich ausgestatteten Wagen von prächtigen Rossen gezogen, an der Seite der kostbar gekleideten Dame – das alles betäubte ihn so sehr, daß er stumm vor sich hinsah, ohne zu bemerken, wie ihm dann und wann ein bekanntes Gesicht mit Verwunderung nachblickte. Endlich schlug er die Augen auf und sah – o Himmel! in Lottchens Augen. Sie war es, sie stand am Fenster mit Amalien, unter deren Hause der Wagen soeben hinfuhr. Beide Schwestern erkannten ihn im nämlichen Augenblick, wo er emporsah, ein Blick, und sie wandten sich und verließen das Fenster. Aber welche Entdeckung hatte er in seinem Innern gemacht! Ein elektrischer Schlag, der ihn bei diesem Anblick durchfuhr und ihm alles Blut zum Herzen zurück und wieder heraus aus dem Herzen jagte, hatte ihn belehrt, daß das keine Halbvergessene sei, welcher er in einem stillen Eckchen seiner Erinnerung ein wohlwollendes Denkmal errichtet zu haben glaubte. Er hatte ihr in die Augen gesehen, und ihre Seele hatte ihn wieder angerührt; in seinen heftig klopfenden Pulsen arbeitete die Seligkeit und die Pein dieses Augenblicks.
Aurora schien nichts davon bemerkt zu haben. Vor dem Tor angekommen, hielt sich der Wagen eine Zeitlang auf der Straße nach der Solitüde, lenkte dann rechts auf einen fahrbaren Feldweg ein, wo keine störende Begegnung zu fürchten war, und umfuhr in einem weiten Bogen die Stadt.