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Meistens pflegt um die Tischzeit heftig die Klingel gezogen zu werden und ein Armer sich zu melden. Dann muß man sehr hart gesotten sein, wenn man sich nicht von einem Stück Brod und einem Groschen zu trennen vermag. Es ist nicht wahr, daß man durch Mitleid die Armuth an das Haus gewöhnt; Hunger und Noth sind nicht zum zehnten Theile so unverschämt, als der volle Wanst und der gespickte Geldbeutel. Aber es soll heute von einer anderen Sorte der Armuth, und zwar nicht von der verschämten, sondern von der »unverschämten« die Rede sein, von dem höheren Hausbettel. Eine namenlose Reue überfällt mich, wenn ich der Vier- und Achtgroschenstücke, ja selbst der harten Thaler gedenke, welche im Verlaufe der Jahre durch listige Bursche vermöge des scharfen Angelhakens des Mitleids aus meiner Tasche gefischt worden sind. Ist es Schwäche oder Dummheit, wenn wir den verschlagensten Hallunken am bereitwilligsten unsere Tasche 202 öffnen, oder können wir uns durch eine Anwandlung von Zartgefühl entschuldigt wähnen, Menschen, welche die Tugenden der Scham und Ehre am schmählichsten verletzen, sobald als möglich durch eine Gabe aus unserer Nähe entfernt zu wünschen?
Man hat viel Spaß mit dem Fechten der Handwerksbursche in Dörfern und auf der Landstraße getrieben, aber wie wollen sich diese armen Kerle mit den Künstlern der Residenz vergleichen, die sich bis zum Range des Fechtmeisters emporgearbeitet haben. Da ich voraussetzen darf, daß die betreffenden Individuen und noch eine hinlängliche Anzahl Gesinnungsgenossen dieser Zunft die folgenden Zeilen in einer Conditorei oder bei einem Glase Wein gemüthlich lesen, habe ich mich entschlossen, meine letzten reichhaltigen Erlebnisse mit »Fechtmeistern,« ihnen zur Strafe, der Menschheit zum warnenden Exempel hier mitzutheilen.
So oft mir Nachmittags um die Zeit, wenn man am behaglichsten spazieren geht, bei schönem Wetter, ein Herr mit unbekanntem Namen gemeldet wird, und es tritt Jemand mit ungemeiner Bescheidenheit in mein Studierzimmer, so überläuft mich ein Fieberschauer, ich schiebe ein Buch über das Portemonnaie und nöthige zaghaft den Unbekannten zum Sitzen. Er setzt sich im letzten Viertel auf die Stuhlkante und sieht mich mit offenem, lammfrommem Auge an.
»Entschuldigen Sie, Herr Doctor, daß ich mir die Freiheit nehme!«
»Womit kann ich dienen?«
»Ich bin der Candidat S. aus P . . . . und befinde mich in der größten Noth.«
203 Unter vier Fechtmeistern giebt es beiläufig immer drei »Candidaten,« und es wäre merkwürdig, wie schlecht, trotz des bekannten Mangels an Studirenden der Theologie, die Erwerbsverhältnisse dieser Jünglinge sind, wenn sie sich nicht dieses Prädicat in der Absicht beilegten, durch diesen frommen Posten ihr »unverschuldetes Unglück« um so bemitleidenswerther darzustellen.
»Durch die Masern bin ich in das Unglück gerathen, beinahe mein Augenlicht zu verlieren, und habe sechs Monate in der Klinik zubringen müssen.«
Jetzt überfliege ich meinen Mann genauer. Er ist klein, aber rothbäckig und wohlgenährt, die Kleidungsstücke sind dicht und wohl erhalten, und die Stiefeln gut gemacht und stark. Trotz des beinahe entschwundenen Augenlichts bemerkt der Fechtmeister meine blitzgeschwinde Prüfung und sagt mit leiser Stimme: »Was ich anhabe, ist mir geschenkt worden.« Dafür sitzt es allerdings außerordentlich gut.
»Haben Sie keine Papiere? Ich bin so oft getäuscht worden, daß ich ohne irgend ein Document kein Geld fortgebe.«
»Ich bin beim Herrn Minister um Unterstützung eingekommen und habe meine Akten nicht bei mir.«
»Dann muß ich Sie bitten, wiederzukommen.«
»Das thut mir sehr leid, aber ich bin heute schon eine halbe Meile weit hergekommen.«
»Wo wohnen Sie?«
»Vor dem Anhalt'schen Thore. Ich befinde mich in der größten Noth, meine alte Mutter hat heute noch nichts gegessen, ich besitze nicht so viel, um ein Brod kaufen zu können.«
204 Wer hat nicht schwache Stellen im Gemüth und widerstände, wenn die alte Mutter und das Brod als letzter Haupttrumpf ausgespielt werden? »Da nehmen Sie,« sage ich und lege ein Viergroschenstück in seine mit dichten Buckskinhandschuhen bedeckten Hände, »Sie brauchen nicht Hunger zu leiden.«
Der Candidat prüft mit schielendem Auge schnell das Geldstück und wünscht mir Gottes Segen, bittet mich auch, diese kleine Gabe nur als ein ihm gemachtes Darlehen zu betrachten. Dann entfernt er sich, und als ich ihm zum Fenster nachsehe, schmiegt er sich in die nebenan gelegene – Conditorei.
Fechtmeister Candidat von P. trat eleganter auf. Er glich beinahe einem der verwegenen Fechtmeister aus den Jahren des griechischen Freiheitskampfes, als uns damaligen Studenten die Mutterpfennige von Branntewein-Aegineten abgeluchst wurden. Candidat von P. bietet sich als Mitarbeiter bei der Montags-Post an und ersucht mich um einen Vorschuß von zehn Thalern. Mir erscheint besonders die letztere Petition stark und ich erkundige mich nach seinen bisherigen Leistungen.
»Ich bin ein College von Ihnen und habe längere Zeit bei der – hier nennt er ein reiches, weitverbreitetes Organ – mitgearbeitet.«
»Wenn das der Fall ist, so werde ich mich noch heute, da ich eine Correspondenz absende, bei der Redaction nach Ihnen erkundigen, denn ich muß gestehen, daß mir Ihre Leistungen in dem Blatte entgangen sind.«
205 »O, ich habe nur die städtischen Nachrichten und Lokalneuigkeiten zusammengestellt.«
»In drei Tagen hoffe ich Antwort erhalten zu haben –« sage ich, um den dreisten Zehnthaler-Supplikanten los zu werden, und verneige mich höflich. Da erhebt sich der angebliche Candidat von P., ein fein und vornehm, nur etwas malitiös aussehender junger Mensch, zum tragischen Effekt und ruft: »Machen Sie mich nicht unglücklich, Herr, meine Aufenthaltskarte ist abgelaufen, wenn ich nicht heute acht Groschen habe, bringt mich die Polizei morgen aus der Stadt.«
Was thun? Zeitversäumniß ist Geldverlust; ich erkaufe mir die ungestörte Fortsetzung meiner Arbeit durch die Verabfolgung von acht Groschen und räche mich am Abend durch eine genaue Erkundigung bei der genannten Zeitung. Man antwortet mir, der von P. sei der natürliche Sohn eines Prinzen von ⁂, aber wegen Anfertigung von falschen Wechseln von diesem verstoßen, er habe sich zur Correctorstelle herangedrängt, sei aber abgewiesen worden, ich möge mich vor ihm in Acht nehmen.
Soll ich den ewig flüchtenden alten Demokraten, den schwindsüchtigen Miethscollecteur und die Photographengattin mit den verpfuschten raphaelischen Bildern unter die Fechtkünstler rechnen? Nein, ich will nur noch von dem »Candidaten« des letzten Freitags reden, denn er belehrt mich von der Bildungsfähigkeit und dem eminenten Fortschritte dieser gefährlichen Race.
Ein blühender Mann, dessen Muskelkraft und regelmäßig schöne Gesichtszüge mich ohne einen 206 gewissen gambrinischen Carmin entzückt haben würden, trat mit liebenswürdiger Ruhe ein, nahm Platz und zeigte mir an, daß ich durch die Verpflichtungen der christlichen Liebe genöthigt sei, ihm einen Thaler zu geben. Nachdem auch er sich, auf meine Frage nach seinem Charakter, als Candidat legitimirt hatte, begann er eine sanfte Predigt, untermischt mit Bibelstellen und jenen bekannten rhetorischen Floskeln, deren wir uns aus dem Jugendunterrichte her erinnern. Anfangs arbeitete sein ruchloses Maulwerk wie eine unterschlächtige Wassermühle ruhig weiter, und die Augen sahen nur wie diebische Müller oben ruhig aus der Lucke, als er aber die totale Wirkungskosigkeit seiner Predigt bemerkte, begann er mit seltener Geläufigkeit zu weinen und jammerte, daß er als Abschreiber nicht mehr sein tägliches Brod zu verdienen im Stande sei. Nichts destoweniger hielt ich mich tapfer und machte ihn bei der Brodanspielung auf seine prächtige Constitution im Vergleich mit meinem abgearbeiteten bleichen Gesichte aufmerksam, erbot mich auch, den Hausknecht heraufrufen zu lassen, um ihn die Treppe hinabzugeleiten. Als er sich endlich entfernt hatte, fiel mir der seltsame Gedanke ein, von dem ich mir weiter keine Rechenschaft zu geben vermag: dieser Candidat und Fechtkünstler habe sich nur den Betrag eines Billets zum Subscriptionsballe zusammenbetteln wollen!