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Seit der Florentiner in der divina comedia die Hölle in Kreise getheilt hat, redet man auch von »Kreisen« in der Gesellschaft, wohl begreifend, daß die menschliche Gesellschaft auch nicht besser als die Hölle sei. Die Kreise der Hölle werden in dem nachtgrauenden Amphitheater des Inferno immer enger; die unteren Kreise der Gesellschaft um ihre große Pyramide immer weiter und durch diese unteren Kreise der Hölle des neunzehnten Jahrhunderts folge uns der Leser, wenn ihm Muth oder ein menschenfreundliches Herz im Busen schlägt.
Am Alexanderplatz zu Berlin bemerkt der nachdenkliche Spaziergänger ein großes graues Haus, alterthümlich wie die Paläste der Könige, unheimlich wie die Kerker der Verbrecher. Eiserne Stäbe versperren den Menschen die Fenster des Erdgeschosses, und Scheiben, verwittert im Wechsel des Regens und Sonnenscheins, bedeckt mit dem blauen Staar erblindenden Glases, wehren selbst 142 dem Lichte den freien Eingang. Der Abputz des ganzen Hauses gleicht einer abgetragenen Sträflingsjacke; es ist das Arbeitshaus von Berlin. In ein großes Thor ist eine kleinere Pforte geschnitten, denn diesem Palaste nähert sich nie ein Triumphzug des versammelten Reichthums, sondern das Elend schleicht einzeln und verstohlen hinein. Die kleine Pforte führt in eine gepflasterte Vorhalle, die durch ein schweres hölzernes Gitter von den inneren Gebäuden und Höfen abgesperrt wird. In dieser Vorhalle hängen außerhalb der Gitter die Musketen und Zündnadelflinten der Wache; das Gitter der so belagerten Citadelle der Armuth und des Vergehens wird Tag und Nacht von dem Cerberus des Ortes bewacht. Eine helltönende lustige Glocke, wie sie im sommerlichen Felde freudigen Schnittern die Feierstunde zuzuläuten pflegt, schlägt eben zwölf Uhr Mittags. Das ist die Stunde, wo hier die Arbeit die Hände in den Schooß legen darf; es ist Essenszeit.
An die Vorhalle schließt sich ein kleiner Vorhof, umgeben von hoher Mauer, durch die einzelne Pforten zu den verschiedenen Abtheilungen führen. Sind diese Pforten geöffnet, so überblickt man innere kleinere und größere Höfe und Gebäude, aber nur die Thür rechts steht offen und durch sie geht über einen Hof der Weg in das Lazareth und Hospital.
Es war ein trüber naßkalter Wintertag. Große Schneeflocken fielen langsam herab und klammerten sich im Falle ängstlich aneinander, als wollten sie den trostlosen, schmutzigen Erdboden 143 vermeiden. Berührten sie die Steine des Pflasters, so lösten sie sich in große, eisige Tropfen auf. In dem Hofe standen in acht Reihen geordnet, etwa vierhundert Menschen in elenden grauen Jacken und Beinkleidern. Sie trugen an den Füßen theils zerrissene alte Stiefeln und Schuhe, theils Holzpantoffeln; von dem groben grauen Tuch der Jacken stachen widerwärtig gewisse gelbe Abzeichen ab. Diese Vierhundert bildeten eine Abtheilung der Sträflinge, welche die Minute abwarteten, wo die Reihe der Vertheilung des Essens in der Küche an sie kommen sollte. Mit Seitengewehr bewaffnete Aufseher gingen schweigend vor der stummen, fröstelnden Schaar auf und ab und nur zuweilen kam Leben in einige der Elenden, wenn Einer, in dem Noth und strenge Zucht den Uebermuth noch nicht ganz erstickt haben mochten, durch einen Stoß oder eine heimliche freche Bemerkung die Aufmerksamkeit seiner Nebenmänner erregte. Dann sah sich der Aufseher der Cohorte nur ernsthaft um und die Heiterkeit erstarb mit einem Schlage, wie die Schwingungen einer Saite, wenn man die Hand darauf legt. Auf einen Wink der Aufseher setzte sich die stumme Schaar in Bewegung und verschwand nach und nach in paarweisem Marsche durch die Mauer, wie ich aus dem Wartezimmer des Arztes der Anstalt mit ansah; hinter ihnen schloß sich die Thür und der Hof lag da, so still wie die Fläche eines verfallenen Grabsteines.
Im Hause aber herrschte reges Leben, ich vernahm von fern das Geklapper blecherner Eßgeschirre, und Einwohner des Hauses, waren sie 144 nun Sträflinge oder Arme, kamen vorbei und nagten an großen Schnitten Schwarzbrod. Wie arm war Alles in den Fluren und Zimmern. Nicht einmal die dürftige Spinne hätte eine vorspringende Ecke, einen bescheidenen Mauerzierrath gefunden, ihre Gewebe daran aufzuhängen; alles Holzwerk schmiegte sich so schmal und spärlich die Wand entlang, daß auch nicht der Holzwurm, der doch kein Kostverächter ist, sich einnisten konnte.
Endlich kam der Oberarzt der Anstalt und es wurden nun einige Unglückliche gemustert, die sich freiwillig zur Aufnahme gemeldet hatten. Ein halberblindeter alter Mann mit Lippen, die von Hunger und Kälte blau waren, bat um Aufnahme da er mit einem Thaler monatlichen Armengeldes nicht bestehen könne, selbst wenn er noch ein wenig zu arbeiten versuche. Der menschenfreundliche Arzt, außer Stande, den Mann bei der hier herrschenden Ueberfüllung aufzunehmen, denn der Mensch drängt sich zum Arbeitshause so gut, als zu den Vergnügungshäusern, verwandte sich sofort schriftlich für den Mann um eine Verdreifachung seiner Unterstützung und fragte ihn, ob er damit durchkommen werde. Ich werde dies Kopfnicken und diese Handbewegung des alten Mannes nie vergessen; sie waren die tiefgreifendste Kritik dieser Hundecomödie, die wir Leben nennen. Wie der Mann langsam die herabhangende gelähmte Hand erhob und sie schweigend mit Achselzucken halbbilligend umkehrte, das hättet ihr sehen müssen, ihr Prasser und Verächter der Menschen!
Nun begann die Wanderung durch die Säle. 145 Gemischt mit kranken Sträflingen, lagen hier auf dürftigen, schmalen Betten, zugedeckt mit einer dünnen Hülle, unheilbare Kranke, sieche Greise und Elende, die man auf der Straße in hülflosem Zustande gefunden und hiehergebracht hatte. Ach, wie die Menschen in der Gesellschaft beschaffen sind, erweisen ihre Gesetze dem Versinkenden nur noch das unentgeltliche Begräbniß und das Aeußerste, was davor ist, das Sterben unter Dach und Fach. Hier lagen einige Schwindsüchtige, auf ihren Gesichtern das verhängnißvolle rothe Morgengrauen der Ewigkeit. Matt richteten sie sich auf, gaben auf die liebevolle tröstende Ansprache des Arztes hoffnungsreiche Antwort und sanken dann schwach in ihre Kissen zurück. Dort wurden die Bandagen von einer klaffenden Wunde am Haupte eines Mannes gezogen; es war offenbar eine gewaltthätige Handlung verübt, der Mann sah trotzig und verbissen aus, aber man erfährt nichts über Leben und Schicksal des Einzelnen. Nur auf schwarzen Täfelchen über jedem Krankenbette stehen: Name, Alter und Krankheit einer jeden Person. Mehrere waren Fieberkranke, wie sie oft in Gefängnissen und bei Kost von feuchtem Schwarzbrod vorkommen, und unter ihnen lehnte an seinem Bette als Reconvalescent ein junger Sträfling in blaugestreifter Leinenkleidung. Achtzehn Jahre mochte er zählen, aber ich hoffe, daß seine Mutter todt ist, denn ich wollte nicht ihre Thränen zählen, um dies Kind ihrer Sorge, das so früh schon auf der letzten Stufe des Lebens weilt. Der Knabe war zart und fein, in seinen hellbraunen seidenen Locken sah man 146 noch die Spuren einer liebendstreichelnden Mutterhand, auf seinen veilchenblauen Augen lag noch ihr Kuß und die große Mutter Natur hatte in der gewölbten Bildung seines Schädels ihre schönsten Gaben der Phantasie und des Nachdenkens niedergelegt. Als wir zu ihm traten, schlug er verschämt die Augen nieder und erröthete – er war ein Ladendieb. Solcher unglücklichen jungen Leute waren nur wenige vorhanden; das hülflose Greisenalter herrschte in diesen Sälen. Auf einem Bette lag ein alter Mann, dessen Jahre auf siebzig angegeben waren; wir traten zu ihm heran und fragten nach seinem Befinden. Mit einem gewissen Unwillen, der sowohl der Lebensweise des Hauses, als der ärztlichen Wissenschaft gelten konnte, behauptete er, daß es mit ihm total vorbei sei, er werde in den nächsten Tagen sterben; es schien dem Manne sehr wohl zu thun, als ich ihm einige noch vorhandene Spuren seiner früheren Kraft wies: sein klares Auge und erträgliches Gebiß. Das Trosteswort war auf des Armen Lager wie ein goldener Sonnenstrahl gefallen – wie arm und verlassen muß doch der Mensch sein, wenn ihm schon ein freundliches Wort hilft!
Sein Nachbar bat um Zulage zu seiner Fleischportion, weil er dabei nicht bestehen könne, aber der Wärter des Zimmers verrieth, daß er das fingergroße Stückchen Kalbfleisch nur haben wolle, um es an seinen Nachbarn zu verkaufen und sich für die eroberten Bettelpfennige – Schnupftaback zu verschaffen. Ein schäbiges braunes Döschen auf der Bettdecke und das Verstummen des Bittstellers bewiesen denn auch die 147 Wahrheit der Angabe und wir bereicherten aus unseren Dosen den Tabacksvorrath des Schwelgers, der lieber hungerte, als das Schnupfen entbehrte. Hart neben ihm lagen in mehreren Betten so arme schwache Leute, daß sie nichts als die Augenlieder bewegen konnten und ihre matten gleichgültigen Augen hatten keinen andern Ausdruck als der Frage, ob dieses Jammerleben denn nicht bald vorbei sei. Wie ein blühender Antinous sah zwischen solchen Schmerzenslagern ein weißhaariger Alter an seinen Krücken aus, der sich aufgemacht hatte, dem Doktor seinen freundlichen Gruß zu bringen. Der Mann mochte eine schönere Vergangenheit gehabt haben. Wie sich in grobes Conceptpapier ein zufällig unzermalmt gebliebener feinerer Lumpen verirrt, so diese Höflichkeit unter die stumpfe Grobheit des Elends und der Hülflosigkeit. Auch lagen auf seiner Stirn Andeutungen von Intelligenz. Seinem Bette gegenüber befand sich ein vom Dilirium tremens wiederhergestellter Handwerksbursche. Der Branntwein war natürlich nicht die Ursache seiner Krankheit gewesen, sondern nur heftige Anstrengung auf der Wanderschaft! Man sah dem Manne an, daß er wahrscheinlich bald wieder hieherkommen würde; er gehörte zu den blassen, versunkenen und unheilbaren Säufern. Noch ein solcher Anfall und das rettende Morphium mußte seine Hülfe für immer versagen.
Unfern dem Aufenthaltsort der greisen Männer befinden sich die kranken alten und jüngeren Frauen. Die Einbildungskraft sucht hier vergeblich nach allen jenen Eigenschaften, welche das 148 Weib unter glücklicheren und reineren Verhältnissen des Lebens umgürten. Carricaturartige veraltete Gestalten schleppen sich von Bett zu Bett, oder sitzen stumpfsinnig am Fenster und starren die durch einen weißen Ueberzug geblendeten Scheiben an oder betteln um eine Zulage zu ihrer Armenportion, um ein wenig Bier oder um Häring. Geschlechtlose Zwischenwesen von Mann und Weib, das sind die Bewohnerinnen dieses Kreises oder arme Weiber, die so lange ein Unterkommen zu finden gedenken, bis sie einem neuen Wesen, ebenso elend und hoffnungslos wie sie selber, das unwillkommene Leben geben sollen. Auch die weibliche Jugend selbst fehlt nicht, aber sie ist nur als verkümmerte Blüthe vorhanden. Seht dort das arme kleine Mädchen, ein Proletarierkind; eine furchtbare Verbrennung des rechten Beines fesselt es an ein Krankenlager voll elender eiternder Lappen. Statt des Lächelns froher Jugend sind seine bleichen abgezehrten Wangen von Schmerzen verzerrt und wimmernd streckt es abwehrend die Hände aus gegen die Aerzte, die seine Verletzung prüfend in Augenschein nehmen. Das junge Wesen im Schatten des Ofens, das ängstlich sein mit feinem Tuche umwickeltes Haupt verbirgt, sank hierher aus besseren Sphären. Schönheit und Grazie mögen es einst rosig umflügelt haben, jetzt nagt Siechthum an seinem gebrochenen Dasein.
Ueber Treppen und Corridore zieht sich nun der Weg zu dem Saale der obdachlosen Familien. Schon weithin hört man das Schreien, Weinen und Lallen der Kinder; auf den sich beim 149 Eintritt darbietenden Anblick wird man dadurch noch nicht genügend vorbereitet. In einem großen durch mehrere Oefen erwärmten Saale sitzen sie Alle auf dem kargen Raume neben ihren Betten; die elenden Vasallen der unerbittlichen Civilisation, die ihnen diese letzte Ruhestätte als Lehen gegeben hat. Arme Leute, denen bei Zahlungsunfähigkeit ihre Wirthe die wenigen Sachen zurückbehielten und sie selbst auf die Straße wiesen, finden hier zeitweise ein Unterkommen, ebenso arme Mütter mit ihren Waisen. Der Fußboden ist mit kriechenden und wankenden Kindern bedeckt, die fortwährend angeschrieen werden, denn sie können noch nicht begreifen, daß hier strenge Grenzgesetze herrschen und Niemand das Weichbild seines Bettes überschreiten darf. Bleiche, sorgenvolle Väter schaukeln Säuglinge auf ihren Armen, die Mütter sind um größere erkrankte Kinder beschäftigt. Man geht langsam und vorsichtig die hohle Gasse zwischen Ofen und Fenster entlang, um nicht die kriechenden Würmchen zu verletzen, und hält öfter an, um einem dieser kleinen armen Gesellen zuzulächeln, wenn er zutraulich hervorschleicht und sein Händchen giebt. Eine junge, noch schöne Mutter in bescheidener reinlicher Kleidung, hält ihr anderthalbjähriges reizendes Söhnchen auf dem Arm und bittet leise um einige Zulage zur Kost für das Kind: der Kleine sei an Besseres gewöhnt, und kränkle, seit er – hier sei. Der aufmerksame menschenfreundliche Arzt sagt ihr die Verbesserung mit bedauernder Miene zu, besteht sie doch nur in ein wenig dünner Kalbfleischbrühe. Das Söhnchen ist eine 150 Art Aristokrat unter der kindlichen Armuth; es trägt sogar noch zierliche Halbstiefelchen von farbigem Leder. Wie bist du armes Kind hierher gekommen? welcher verbrecherische Leichtsinn ist dein Vater und vergaß deiner jungen zarten Schönheit, da doch kinderlose Könige ihn um solchen Erben beneiden mögen?
Man sagt Armuth und Schmutz und bezeichnet damit wirklich unzertrennliche Dioskuren. Unser Führer, der Arzt der Anstalt, hatte in edelster Absicht die Vorkehrung getroffen, daß alle Kinder wöchentlich zweimal warm baden könnten, aber er war, man sollte es kaum glauben, auf den heftigsten Widerstand gestoßen. Alle diese armen unwissenden Mütter sträubten sich mit Entsetzen gegen die Idee, ihre Kinder baden zu lassen und legten alle entstehenden Unpäßlichkeiten und kleinen Leiden der Kinder dem warmen Bade zur Last. Dieses Vorurtheil ging aus Murren in offene Widersetzlichkeiten über, und erst ein dictatorisches Wort und Arreststrafen gegen die Hauptrebellen konnten die wohlthätige Maßregel durchsetzen. An diesem Orte des Jammers ist der Name eines edlen Fürsten, der oft aus den Hallen des Reichthums und nie mit leeren Händen hieher eilt, eine himmlische Melodie. Dieser Fürst ist der Prinz Radziwill, ein Wohlthäter und Helfer der Armen, und sein menschenfreundliches demüthiges Herz ziert seine Brust mehr, als alle die stolzen Orden, welche darauf glänzen. Als in den Weihnachtstagen vorigen Jahres einige Wohlthäter und Beamte der Anstalt den Hospitaliten, Kranken und Armen Kaffee und weißes 151 Brot zum Feste bescheeren wollten, zeigte es sich, daß für letzteres die gesammelte Summe nicht ganz reiche. Noch am späten Abend ging der Prinz selbst zu einem benachbarten Bäcker und bestellte in eigener Person für zehn Thaler Semmel, die er aus seiner Tasche zulegte, obschon er erheblich zum Ganzen beigesteuert hatte. Dieses Brot wiegt die Festtafel und das Goldgeräth der Könige auf.
Das Arbeitshaus ist auch ein Aufbewahrungsort für arme und unheilbare Irre. Nur Tobsüchtige, also einer steten und strengen Ueberwachung Bedürfende, werden der Charité übergeben.
Der Wahnsinn an sich hat keinen poetischen Gehalt, nur gemessen an einer Vergangenheit voll Sinn, besitzt er tragische Berechtigung. Die ärmlich gekleideten umherwankenden Gestalten sind für den Beobachter nur Schemen, vor denen der Geist zurückschaudert, das Herz sich beugt in namenlosem Kummer: Wo sonst als hier findet man so tiefen Verfall der menschlichen Natur? welch anderes Krankenhaus bietet ähnliche Mannigfaltigkeit der Verzerrungen, ähnliche Ruinen zerstäubter Denkkräfte, ähnliche Nachlässe der Armuth und der Laster?
Auf den Corridoren herrscht Todtenstille, aber auch in den Stuben hört man keinen Laut des Lebens. Die Thür wird geöffnet und man tritt in ein geräumiges Zimmer, angefüllt mit etwa fünfzig bis sechszig Männern. In der Mitte der langen Wand steht ein großer Ofen von schwarzen Kacheln und um ihn drängten sich etwa 152 zwanzig der Unglücklichen. Sie sind alle unschädliche harmlose Leute. Der Eintritt mehrerer Aerzte und eines Fremden bringt eine Aufregung unter ihnen hervor; sie stehen auf und grüßen ehrerbietig und freundlich. Das Gesicht ihres Arztes ist für die Wahnsinnigen wie der Abendstern, der am Himmel des Geistes noch lange über einer versunkenen Glorie in der Nacht zurückbleibt. Nur ein Eisenkopf, alter Mann, mit schönem blondgrauen Haar und Bart, in seinen Mienen Spuren von früherem trotzigem Humor, bleibt auf einer der langen Bänke um die beiden schweren Tische liegen und nimmt sein pfiffig sitzendes Pelzmützchen nicht ab.
Der Arzt. Warum grüßen Sie uns nicht?
Irrer. Ich habe mit Ihnen nichts zu thun, – ich grüße keinen Menschen.
Der Arzt. Sie befinden sich unter gebildeten höflichen Leuten (Billigung und Aufmerksamkeit aller umherstehenden Irren) – Sie werden danken, wenn wir Ihnen guten Tag gesagt und die Hüte vor Ihnen abgenommen haben.
Irrer. Kein Mensch wird mich zum Grüßen zwingen!
So sagt der Alte mit der tonlosen schnellen Manier der Wahnsinnigen und streckt die Beine entschlossen aus. Der Arzt nimmt ihm die Mütze ab, was ein Murmeln der Bewunderung hervorruft und wendet sich zu einem andern Kranken der am Fenster sitzt und eifrig schreibt. Dieser ist ein ältlicher Mann mit einem ungemein gutmüthigen und rührend sorgenvollen Gesichte.
Seine Kleidung ist durchaus anständig und 153 besteht in einer blauen Tuchjacke, gleicher Weste und Beinkleid. Er repräsentirt täglich einen anderen Monarchen und schreibt augenscheinlich eben irgend ein wichtiges völkerbeglückendes Decret nieder. In den Gesichtern der wirklichen Könige liegt wahrlich nie so viel Regentensorge und herzlicher Kummer über die offenen Fragen des Menschenwohles, als in dem gefurchten Antlitz dieses Traumkönigs, der über Millionen von bedürftigen Geschöpfen seiner siechen Phantasie herrscht. Und macht ihn nicht sein unheilbarer starker Wahn wirklich zu einem Regenten? erfährt er nicht thatsächlich ebensoviel oder ebensowenig von seinen Unterthanen, als manche Könige in der Realität? naht sich ihm nicht Jeder mit Ehrerbietung und frommer Schonung und erlaubt sich erst hinter seinem Rücken ein Urtheil über ihn zu fällen? ist er nicht glücklicher als die verbannten Könige ohne Königreiche, mit denen er doch gemeinsam ein Reich der Einbildungskraft beherrscht? die Wahnsinnigen um ihn sind seine Minister, der Doctor sein Leibarzt, durch die trüben Fensterscheiben hält er die Holzhöfe für seine Parkanlagen und die kahle Bank ist sein goldener purpurbedeckter Thron! Was ist denn zwischen der Höhe des Lebens und dieser wahnsinnigen Tiefe für ein Unterschied? einige Fetzen Purpur, ein goldener Reif und endlich ein Winkel Persepolis und ein metallner Sarg, gegen einen fichtenen Nasendrücker auf dem Armenkirchhofe.
Alles ist hienieden Wahn
Und wir dulden unbewußt
Oder gar mit stiller Lust
Daß uns Täuschungen umfah'n.
154 Ein anderer Irrer scheint über seinen Beziehungen zu Behörden wahnsinnig geworden zu sein. Seine Anstellungsfähigkeit und doch erfolgte Zurücksetzung hat ihm den vielleicht an sich geringen Verstand verwirrt.
Der Arzt. Wie geht es Ihnen? Was treiben Sie heute?
Irrer. Ich bin augenblicklich ein unbeschäftigter Mann und kann jeden beliebigen Posten annehmen – mir ist alles gleich, Herr Doktor – Sie wissen ja – Auch habe ich alle meine Beschwerden niedergeschrieben und kann Ihnen Alles mitgeben, wenn Sie es besorgen wollen.
Der Arzt begütigt ihn und der Irre setzt sich nieder, um durch sein Beispiel das bekannte Sprichwort zu Schanden zu machen. Dem glücklichen Manne hat Gott den Verstand genommen, ehe er ihm ein Amt gegeben; zum Unglück für die Menschheit pflegt das im natürlichen Laufe der Dinge in umgekehrter Zeitrechnung zu geschehen.
Prüft man im Allgemeinen den gesellschaftlichen Ton der wahnsinnigen Leute, so findet man ihn etwas feiner als die gewöhnlichen Umgangsformen der großstädtischen Gesellschaften; der Gesammteindruck mag ein trauriger sein, allein er ist nicht in aesthetischem Sinne verletzend. Nirgends wird wider die Logik verstoßen, man schweigt in Gegenwart der klügeren Leute, wenn man seiner Sache und Denkkraft nicht ganz gewiß ist, man beträgt sich in diesem Salon, mit kurzen Worten gesagt, als wohlerzogener Verrückter. So geht es in ähnlichen Sälen ähnlich zu.
155 Stiller Wahnsinn ist oft wie die holde Mischung aus Helle und Dunkel, die wir Zwielicht nennen, eine sanfte Lebensstunde, reich an melancholischer Träumerei, aus der wir erst auffahren, wenn der Tod mit dem ewigen Lichte in der Hand herein tritt und unsere Augen blinzeln oder – brechen.
Ein Zimmer ist die Grabkammer der Vernunft – wir treten in den Saal der Blödsinnigen. Ein furchtbarer Geruch dringt uns trotz der löblichen strenge beobachteten Reinlichkeit der Aufseher entgegen; diese Unglücklichen stehen auf der untersten Stufe der Wesen. Sie sind Thiere ohne den Segen der Instincte, ohne den freien Gebrauch der Glieder. Theils stehen sie am Ofen, theils sitzen sie auf ihren Betten oder auf Stühlchen davor. Keiner von ihnen bemerkt den Eintritt mehrerer Personen, man glaubt sich in einem Cabinet von Automaten zu befinden und das leise Geräusch der Bewegungen klingt wie das klägliche Summen und Wimmern der in ledernen Puppenbälgen versteckten Räder und Gewichte. Ein unglücklicher Knabe blickt, auf einem niedrigen Schemel zusammengekauert, in das Tageslicht. Was ist Verwesung, die zuerst das Auge anfällt und »den Geist von seinem lichten Throne« stößt, gegen das wirre Flimmern der Augensterne, das Phosphoresciren des sich zersetzenden Geistes dieses Armen. Das Auge will einen Lichtstrahl auffangen, ihn in sich fangen, davon zehren und leben, aber das edle Organ ist hinterwärts gelähmt; der flüchtige Wasserstaub, in den die Sonne ihre 156 sieben Farben malt, scheint ein festeres Ding als dieses Knaben Auge.
Vor ihm liegt Einer in seinem Bette und vollbringt die gescheuteste That seines Lebens – er stirbt. Ein hagerer Mann mit eisgrauem Haar und schneeweißen Bartstoppeln. Blödsinnige sterben schwer, denn hier hat sich kein lebenssatter Gedanke loszumachen. Nur der sich langweilig aufspinnende Organismus rollt bis auf das letzte Fädchen ab; der Mann starb unermeßlich langsam. Als er todesträge die Augenlieder bewegte, schien doch ein Schimmer von Vernunft in ihren Sternen zu leuchten. So ein gemeines Ding Leben ist, so etwas hohes Philosophisches ist es um das Sterben; die vernünftige Idee steht wie in der Fabel – am Ende. Jeder Comödiant, auch der schlechteste, geht mit Anstand ab.
In einem besonderen, weit ausgedehnten Raume findet man die wahnsinnigen Frauen. Bei der größeren Reizbarkeit des Geschlechtes ist auch der Eindruck des Männerbesuches ein bedeutend größerer, auf den Fremden selbst ein unheimlicherer. Sie richten sich in ihren Betten auf, oder erheben sich von den Stühlen und umgeben die Besucher, an die sie ihre tollen Reden richten. Eine kleine Person mit schwarzem graumelirtem Haar und gelblich galliger Gesichtsfarbe dringt herbei und sagt: »Mein Herr, wenn Sie Nachmittags die Königin sprechen, so sagen Sie ja, daß meiner Feindschaft mit Nicolaus von Sachsen ein Ende gemacht werden muß, die Weber'n hat gestern schon meine Kaffeekanne zerschlagen und die rothe Katz' soll auf Advent am Hochgericht 157 zerrissen werden . . . . .« Sie würde weiter fortfahren, wenn man ihr nicht den Rücken kehrte und rasch in ein anderes Zimmer träte. »Laßt mich hinaus – hinaus – ich will nicht in diesem furchtbaren Hause bleiben,« schreit es aus einer Ecke und eine dürftig bekleidete noch junge Person will sich ihre grobe Hülle von der Brust reißen, »hier gehe ich zu Grunde unter Verbrechern und Dieben – hinaus – ich muß sonst sterben!« Der Arzt redet ihr zu, betheuert ihr, daß sie ja nicht zur Strafe hier sei und entlassen werden solle, wenn man sie wiederhergestellt habe. – Alles ist umsonst und der Aufseherin und dem begleitenden Krankenwärter wird im Stillen die Anordnung kalter Uebergießung aufgetragen. Nahe der Unglücklichen sitzt eine alte, verwundert lächelnde Frau; sie begreift nicht den Lärm, weil sie sich glücklich und zufrieden fühlt, obgleich sie die heftigsten Schmerzen in ihrem Arme zu fühlen scheint, den sie dem Arzte wie ein Kind hinreicht. Sie ist eine alte Wäscherin und setzt in stillem Wahnsinn ihr mühseliges Geschäft fort. Erst gestern hat sie Abends spät, ganz heimlich, ihr Bette gewaschen und sich auf die nassen Tücher gelegt. Sie nennt das »auf schlesische Art waschen« und hat eine rheumatische Lähmung des Armes davongetragen. Ein wahnsinniges junges Mädchen kommt heran und fragt den Arzt, ob sie nicht einmal ausgehen könne? Die Antwort lautet: »Wenn Deine Verwandte Dich einmal abholen kommen. »Zufrieden setzt sie sich nieder, wie um zu warten. Ach, sie hat ja gar keine Verwandte mehr! wie mir der Arzt im Stillen zuflüstert. 158 Eine ungemeine Aufregung entsteht im Nebenzimmer, weil eine Epileptische plötzlich ihre Zufälle bekommen hat und sich in entsetzlichen Krämpfen am Boden windet. Zitternd umstehen sie die hülflosen Wesen, unfähig irgend welchen Beistand zu leisten. Voller Entsetzen entferne ich mich durch ein dunkles Vorzimmer, um im Corridor den Geist einen Augenblick ausruhen zu lassen, da ergreift mich eine schlanke Frau am Arm und ruft, indem ihre heißen Thränen herabrinnen: »Haben Sie die Geschichte von der Genoveva gelesen, so geht es mir auch – ich bin in diese Wildniß hinausgestoßen – aber von meinen Kindern – meine Kinder selber haben mich hieher gebracht.« Wer erträgt das? wer fragt nicht, ist das Wahrheit des Verbrechens, oder die Lüge des Wahnsinns? Auf dem Corridor ist Alles ruhiger und nur von ferne schallt das Schnattern der Irren in den Stuben herüber. Da tritt aus einem Winkel plötzlich eine winzige gnomenartige Alte hervor; unter ihrer Haube bäumt sich ein Busch ungekämmter grauer Haare. »Mein Herr, Sie tragen ja eine Brille, ich habe mein zweites Brillenglas verloren und wollte Sie bitten, mir eins zu geben.« Während der Capitulation mit der Alten kommt glücklicher Weise der Arzt und die Gehülfen herbei – die Alte hat nie eine Brille gehabt. Man begiebt sich in andere Zimmer zu stilleren Leidenden. Die Meisten von ihnen sind Stimmenhörerinnen, glauben sich von geheimnißvollen Personen durch Schimpfreden und Beleidigungen verfolgt und schreiben eifrig an ihren Bekenntnissen und Memoiren. Einige 159 tragen Reste von Wohlhabenheit an sich, ja eine graue alte Jungfer hat noch ein eigenes weiß überzogenes Bett und verräth den Wunsch, ein wenig zu gefallen.
Endlich ist die Irrfahrt beendet, wir wenden uns zu den Abtheilungen, wo die unfreiwilligen Bewohner der großen Anstalt hausen, vorher aber gehen wir durch die Schulzimmer, in denen Knaben und Mädchen in getrennten Klassen Unterricht erhalten. Alle tragen das graue Sträflingskleid. Neben ganz erwachsenen Frauenzimmern, zum Theil von Schönheit und jugendlicher Frische, zum Theil von lasterhaften, niedrigen Zügen, sitzen kleine Mädchen auf denselben Schulbänken. Die Polizei hat sie theils als Vagabondinnen aufgegriffen, theils sind sie wegen kleinerer Vergehen hier. Das Gesetz ist leider geschlechtslos, wie das Reich des Unorganischen. In gleicher Weise verhält es sich mit den Knaben; viele der kleinen Subjecte, die uns auf den Promenaden bettelnd oder mit ihrem kleinen Handel ansprechen, mögen hier »schulpflichtig« und »schulflüchtig« sein.
Die erwachsenen Sträflinge sind in großen Arbeitssälen beschäftigt. Ein bewaffneter Aufseher führt, an einem Tische sitzend, schriftlich Buch über die Thätigkeit seiner Beaufsichtigten. Nur so viel wird gesprochen, als zum Betrieb der Arbeit nothwendig ist; auch ohne die Sträflingskleidung würde man sogleich den Unterschied von der freien Fabrikarbeit entdecken. Räder sausen, Maschinen klappern, Spulen summen – Zimmer auf – Zimmer ab – dasselbe 160 furchtbare Einerlei der Zwangsarbeit – blasse aufgedunsene Gesichter, Jünglinge und Greise – sind das Menschen? ist das des Sterblichen gedankenvolles Tagewerk? Erinnert euch an die schweigende Arbeit des Bienenstockes und erfreut euch in der Phantasie an dem sonnigen duftenden Werke der Wachs und Honig bauenden Insecten. In Gottes freier Natur fliegen sie von Morgen bis Abend von Kelch zu Kelch und wenn sie für den Menschen eintragen, pflegt er sie und schont sie um ihrer selbst willen; sie dürfen summen, soviel sie wollen und springen, wohin sie wollen.
Nun kommt zuletzt in die Tretmühle. Die Thür öffnet sich und ihr steigt ein paar Stufen in einen dunklen, übel riechenden Raum hinab. Langsam klimmen etwa zwölf Männer die Speichen des großen Rades hinan, von denen sich immer zwei oder drei an der mit Latten verschlagenen Oeffnung zeigen; zwölf andere sitzen schweigend auf einer langen Bank und sollen ihre Genossen nach einiger Zeit ablösen. Das ist die Sisyphusarbeit des Hauses; das Getreide für die Anstalt wird hier gemahlen. Gehen wir noch in die Küche im Souterrain, aus der uns kein lockender Geruch, sondern ein schlaffer Wasserdampf entgegenqualmt, essen wir von der dürftigen Kost, welche nur dreimal im Jahre – Fleisch aufzählt? – unsere Wanderung ist vollendet; wir haben hier nichts mehr zu suchen.
Gilt es für eine Unvermeidlichkeit des Gesetzes, daß der Verbrecher arm werde, so sträubt sich doch die Humanität dagegen, daß der Arme durch seine Armuth selbst zum Verbrecher und 161 gleich diesem behandelt werde. Diese Zeilen sind in einander gefügt, wie zwei gefaltete Hände, welche für die arme Menschheit bitten und die Herzen derer rühren sollen, die heute ihre Hände zum Gebet falten und morgen nach dem Schwerte greifen, aber das Brod der Barmherzigkeit in der Ecke liegen lassen. Der Mensch soll von seinem Vaterlande wissen, als von einem Lande, das ein Vaterauge für ihn hat und ihn nicht verkommen läßt in der Hoffnungslosigkeit. Besser als Meinungen spalten und Ueberzeugungen brechen, ist Brod brechen mit der Armuth, und zum Elend gehen heißt auch in sich gehen! 162