Ernst Kossak
Humoresken
Ernst Kossak

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Vom Trauerspiele.

Die Heilkunde verzeichnet in ihren Heften sorgfältig die verschiedenen Entwickelungsmomente des Menschen. Von der Geburt an bis zum traurigen Verfall des höchsten Alters, vom ersten bis zum letzten Zahne sind alle Erscheinungen des sich entwickelnden und wieder abnehmenden Lebens genau untersucht und niedergeschrieben. Nichts destoweniger giebt es noch mehrere Phänomene, welche sich die ernsten Männer der Gelehrsamkeit haben entgehen lassen, weil dieselben entweder nicht mit der erforderlichen Regelmäßigkeit bei allen Individuen aufzutreten pflegen, oder aber sich der rein ärztlichen Beobachtung entziehen und auf ein anderes Feld hinüberspielen.

Die Windpocken und Masern werden von den Aerzten wohl allgemein als kleine Uebel des Lebens angesehen, welche jeder Mensch durchzumachen hat; in keinem medicinischen Werke haben wir dagegen unter derselben Abtheilung »das Trauerspiel« gefunden, obgleich es nach unserer Meinung, zumal, was das deutsche Vaterland mit seinem melancholisch poetischen Klima betrifft, 163 unter die Krankheiten zu rechnen ist, welche halb und halb der körperlichen und geistigen Entwicklung angehören und ohne erhebliche Störungen oder ungeschickte Eingriffe selten nachtheilige Folgen hinterlassen.

Bei der Schwierigkeit und Neuheit des Gegenstandes bitten wir zunächst um Nachsicht, wenn unsere Ansichten nicht mit der erforderlichen Systematik, sondern in der anspruchlosen Form von Wahrnehmungen vorgetragen werden. Wenn wir noch einen Sommer und Herbst erleben, in welchen das »Trauerspiel« mit gleicher epidemischer Heftigkeit in Deutschland auftritt, werden ohnehin fähigere Köpfe sich veranlaßt finden, gründliche Untersuchungen über das Leiden anzustellen und dasselbe vielleicht in besonderen Stationen der städtischen Krankenhäuser zu behandeln.

Das Trauerspiel gehört überwiegend unter die Krankheiten des jugendlichen Alters, befällt jedoch zuweilen auch in reiferen Jahren den Menschen und tritt alsdann mit besonderer, oft gefährlicher Heftigkeit auf. Es ist vorzüglich unter die auf Gymnasien und Universitäten grassirenden Krankheiten zu rechnen, kommt aber auf ersteren nur selten zu seiner gehörigen Entwicklung. So viel wir bis jetzt ergründet haben, pflegt die Krankheit auf den erstgenannten Lehranstalten aus der Lectüre Schillers und irgend einem seefahrenden Helden, Columbus oder Vasco de Gama, sich zu entwickeln und in einem anhaltenden Friesel von fünffüßigen Jamben zu bestehen. Der vom Trauerspiel Ergriffene beginnt damit, seine mathematischen Arbeiten und algebraischen 164 Aufgaben zu vernachlässigen. Demnächst leiden seine lateinischen Extemporalia und geschichtlichen Aufsätze. Er kommt unvorbereitet für Virgil und Tacitus in die Klasse, äußert ein auffallend geringes Interesse für die Antigone und den Oedipus auf Kolonos, und verbirgt in seinem Exemplare aus Sophokles mehrere Blättchen mit Versen. Dieser Zustand hält zur Unzufriedenheit seiner Herren Lehrer längere Zeit an, ergötzt aber die Mitschüler ungemein, da der Leidende zugleich Symptome der Vorleserwuth zeigt, welche sehr häufig mit dem Trauerspiele zugleich ausbricht, und ihnen somit willkommene Veranlassung bietet, ihm irgend einen kränkenden Spitznamen anzuhängen. Bei dem Heranrücken des Abiturientenexamens verliert die Krankheit viel von ihrer Heftigkeit, das unvermeidliche Bangen des Gemüthes wirkt der tragischen Versfabrikation entgegen, und der Patient pflegt nach glücklich bestandenem Examen nur in ungewöhnlichen Fällen von wirklichem Talent abermals vom Trauerspiele überfallen zu werden. Solche Fälle bewahrt dann die Literaturgeschichte auf, allein sie gehören nicht vor unser Forum. Gewöhnlich endet aber das Leiden mit der andächtigen Aufbewahrung zweier oder dreier Monologe von der Länge mehrerer hundert Verse, welche auf die Universität mitgenommen, und gutmüthigen, geduldig stillhaltenden Commilitonen bei einem Glase Grogg und einer Pfeife Ermeler Canaster vorgelesen werden.

Auch die Trauerspiele der ersten Studentenjahre pflegen höchst unschädlich zu sein. Sie entstehen aus schlecht verdauten deutschen Kaisern, 165 mythischen Königen, wunderlichen Sagen, und besitzen bei heftigerem Auftreten des Leidens lange Chöre von Barden, Walkyren, Nornen, Waffenträgern, Landsknechten und biederen Einsiedlern. Der Held des Trauerspieles äußert eine räthselhafte Vorliebe für jenen ganz unmodernen Tod, welchen die heilige Schrift mit dem Ausdruck »er stürzte sich in sein Schwert« bezeichnet, und spricht dadurch stillschweigend seine Verzichtleistung auf jegliche irdische Aufführung in einem Theater aus. Ist der Kranke minder heftig vom Trauerspiele befallen, so begnügt er sich, seinen Helden das Haupt zu verhüllen und ihn von seinem Leibknappen erstechen zu lassen. Die Geliebte giebt sich selbst mit einem Dolch den Tod, jedoch nicht, ohne sich vorher des Breiteren über die unpassende Einrichtung des Lebens für metrische Naturen auszulassen. Dergleichen Trauerspiele werden oft Jahre lang im Manuscript umhergetragen, vorgelesen und an Gläubige verliehen. Endlich duften sie so stark nach Taback und werden im Papiere so mürbe, daß ihr Verfertiger für ihre Niederlassung in einer Schieblade sorgen muß. Er widmet sich dann seinen Repetitorien, macht das Auscultator-Examen und ist meistens von dem Uebel für die Folge befreit.

Viel bösartiger äußert sich das Trauerspiel des dritten oder vierten Studien-Jahres. Es wird von thätigen Buchhändlern vorzugsweise gefürchtet, da es gedruckt sein will. Seinen äußeren Kennzeichen nach hat es große Fieberhitze mit Angstschweiß und hier und da eingestreuten Sonnetten. Alle Abgänge sind gereimt 166 und citiren die Objecte der Astronomie und aller irdischen Naturwissenschaften mit vielem falschen Pathos. Der Kranke ruft häufig »Ihr Götter!« und malt mit schadenfrohem Harm eine spanische Geliebte aus, die sich, aufs Aeußerste verkannt von ihrem Liebsten, in ein entlegenes, immer gewölbtes Souterrain ohne Fenster begiebt und ein mäßig rasches Gift zu sich nimmt. Noch ehe es seine guten Dienste geleistet, aber stets wenn Hülfe zu spät ist, stürzt der Liebste mit gesträubten Haaren und nie ohne Begleitung der gesammten Bevölkerung des Ortes nebst einer Anzahl schwer Geharnischter in die letzte Scene und bekennt sich schuldig. Der Held betitelt sich fast immer Don oder Sennor, und die Klosterglocken läuten bei jeder unpassenden Gelegenheit. Von der Leipziger Messe kommt es stets als Krebs zurück und wird alsdann in den Schränken der Antiquare mit der bekannten Ueberschrift: Preis 1 Sgr. öffentlich ausgestellt, oder von dem hoffnungslosen Verleger den Käse- und Butterhändlern für einen billigen Preis überlassen. Nicht selten schielen diese Trauerspiele auch heimlich nach der Bühne und bleiben häufig zehn Jahre in den Bibliotheken der Intendanturen und Directoren liegen. Hat der Verfasser aus Heimtücke die einzelnen Blätter stellenweise aneinandergeklebt, um zu erfahren ob man es gelesen, so erhält er das Exemplar stets in demselben Zustande zurück. Schon das Verzeichniß der Personen übt auf den theatererfahrenen Leser einen niederschmetternden Einfluß aus. Die Verfasser dieser Trauerspiele sind interessante junge Leute und haben oft hübsche 167 Schulden, nehmen auch Gelder zu hohen Zinsen auf, um ihr Trauerspiel auf eigene Kosten drucken zu lassen, wenn die Renitenz der Verleger allzu hartnäckig ist. Der Naturselbstdruck ist jedoch die einzige Radicalcur des Trauerspieles. Ein junger Mensch, der durch diese Schule gegangen, ist für alle Folgezeit geheilt und vererbt die Krankheit niemals auf seine männlichen Kinder. Auch erkennt man ihn noch im vorgerückten Alter an seinem Abscheu vor Buchhändlern und gedruckten Stücken; dafür fängt er auffallend früh an Whist zu spielen, und erlangt eine bemerkenswerthe Fertigkeit darin.

Alle diese flüchtig skizzirten Anfälle hat wohl Jeder in seinem Leben theils selbst durchgemacht, theils an anderen Personen beobachtet; sie gehören zu den Alltäglichkeiten, wie Husten und Schnupfen, die Individuen pflegen sich nach den erfolgten tragischen Ausscheidungen einer gebesserten geistigen Gesundheit zu erfreuen und nützliche prosaische Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Ein anderes ist es mit dem Trauerspiele der dreißiger Jahre.

Die Poesie kommt gleich der Liebe in jedem Individuum einmal zu Tage. Von der Liebe wissen wir, daß sie um so bedenklicher um sich greift, je später im Leben sich die Regungen dieser wichtigsten aller Leidenschaften äußern. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Poesie, nur daß, was dort einen tragischen Anflug zeigte, hier der Lächerlichkeit nicht zu entrinnen vermag.

Ein Mann ist über seinen Berufsgeschäften fünfunddreißig Jahre alt geworden. Durch Fleiß, 168 praktischen Verstand und gute Connexionen hat er es bis zu einer einträglichen, wohlklingenden Stelle gebracht, und verzehrt sein Gehalt mit weltbürgerlichem Anstand. Als einem wohlgebauten Staatsbürger ist ihm auch eine angenehme Frau zu Theil geworden. So lebt er in blühender Gesundheit nach einem prosaischen Leisten, und sein Ehrgeiz begnügt sich vorläufig auf dem in der Welt errungenen Platze. Derselbe Mann verliert unerwartet die Eßlust, tippt bei Tische mit der silbernen Gabel auf den Teller und versinkt in Gedanken, geht Nachts ungewöhnlich spät zu Bette und Abends ungewöhnlich oft in das Theater. Die Frau Gemahlin zieht anfänglich besorgt den Hausarzt zu Rathe, als dieser aber keine genügende Auskunft zu geben vermag, wird sie eifersüchtig, hat Verdacht auf ein paar schöne und kokette Schauspielerinnen, neckt und quält den Mann, weint zuletzt im Style eines reißenden Hochwassers und ergründet dennoch nicht das hereinbrechende Uebel. Endlich bessert sich wieder der Appetit des Gemahls und an seinem Tische erscheinen häufig Männer mit bleichen, gelehrten aber mißvergnügten Gesichtern, Männer, die Verschworenen gleichen. Er schließt sich mit ihnen ein, die Frau Gemahlin kann aber an der Thür nichts hören als einzelne furchtbare Schreckensrufe mit irgend einer Verzierung von Interjectionen z. B. »O Nacht voll Schrecken! O Tag des Grauens! O blut'ges Schicksal! Ha, welch' ein Scheusal!« Sie glaubt, daß ihr Mann ein Verbrechen begangen habe und durchsucht heimlich seine Papiere, als er in Geschäften abwesend ist. 169 Da findet sich in einem versteckten Fache ein Packet kleiner Bücher mit dem Motto: »Den Bühnen gegenüber als Manuscript gedruckt«, auf dem Titelblatte steht mit großen Buchstaben der Name ihres Mannes als Verfasser des darauf genannten Trauerspieles. Das Packet entsinkt ihren Händen und sie muß sich auf den Lehnstuhl neben dem Pulte niederlassen. Da geht die Thür auf. Der Mann tritt ein.

»Unglückliche! was hast Du gethan? warum wühlst Du in meinen Papieren?«

»Aber lieber Mann, Du hast ja ein Trauerspiel geschrieben! warum wolltest Du mir das verheimlichen?«

»Weil ich Deine trivialen Anschauungen kenne, liebes Kind, weil ich weiß, daß Du alle dichterischen Schöpfungen nur vom Standpunkte der sinnlichen Unterhaltung aus betrachtest. Läugne nicht – ich habe Dich oft genug im Schauspielhause beobachtet.«

»Mein Gott, Heinrich, soll es denn wirklich aufgeführt werden? Das halte ich nicht aus, Heinrich, nein, das schickt sich nicht!«

»Sei keine Närrin, Julie, das Trauerspiel ist vor acht Tagen eingereicht worden und ich bezweifle nicht, daß man, sobald es gelesen worden ist, unverzüglich zum Einstudiren schreitet. Ich halte es für eines der gelungensten Werke seit Egmont.«

»Heinrich, bedenkst Du denn, was Du thust? und wenn es nun ausgepfiffen wird und Du mußt es mit anhören?«

Der am Trauerspiel erkrankte Mann hört 170 mit Entsetzen so frevelhafte Bemerkungen, aber er antwortet nur mit verächtlichem Lächeln und läßt die Frau fortfahren.

»Nein, Heinrich, denke an den armen Baron, als die Leute sein Original-Lustspiel »die kalte Bratkartoffel« am Schlusse auspfiffen und er versteinert im ersten Range sitzen blieb, weil er sich nicht nach Hause zu gehen getraute, wohin er eine große Gesellschaft geladen hatte, zur Feier der ersten Aufführung mit Lorbeerblättern; wenn Dir das auch so ginge?«

Der Gatte verzieht den Mund in die Quere und bemerkt, daß er weit davon entfernt sei, ein ähnliches Schicksal zu fürchten. Sein Stück besitze ungleich höhere Eigenschaften und der Baron könne nicht zu den studirten Männern gerechnet werden. Madame läßt sich jedoch nicht beruhigen.

»Ich leide es nicht, Heinrich, Du magst sagen, was Du willst. Für mich wäre es ebenso entsetzlich, wenn Dein Stück Glück machte und Du würdest bei Deinem Namen herausgerufen. Sei versichert, ich stürbe vor Scham, wenn Du herausgerufen würdest und die Schauspieler schleppten Dich nun auf der rechten Seite heraus, wie den letzten schwarzen Burschen mit den krummen Beinen und dem schmutzigen Oberhemde! für eine ehrliebende Frau ist das eine zu starke Zumuthung!«

Die liebenswürdige Frau wetzt den blanken Schnabel ihrer Beredsamkeit noch einige Zeit an dem ehrgeizigen harten Herzen ihres Gemahls und verstummt dann vor Erschöpfung. Der Zauber weiblicher Ueberredung ist zu schwach für das hitzige Trauerspielfieber; die Krankheit muß ihren 171 Verlauf nehmen. Der Dichter bewegt Himmel und Erde, Intendanten und Regisseure, die einheimische und auswärtige Presse, Mimen und Claqueure, um sein Stück herauszubringen, und seine kaum glaublichen Anstrengungen werden endlich von Erfolg gekrönt. Das Trauerspiel wird gegeben und fällt, wie Madam richtig geahnt hat, glänzend durch. Der gebeugte Dichter nimmt für ein Vierteljahr Urlaub, geht nach Thüringen und gebraucht eine Wasserkur, worauf sich die poetischen Gelüste nach der Bühne zwar legen, der Unglückliche aber von einem schleichenden Fieber herunter gebracht wird, in welchem er jährlich ein, nur für den Druck bestimmtes Trauerspiel schreibt.

Die Exsudate des Leidens dieser Herrn werden an gewissen Symptomen erkannt. Der Held lehnt sich bei ihnen nur auf eine anständige Weise wider das Schicksal oder den Landesherrn auf, wird aber nichts desto weniger im vierten Acte immer durch schwache oder feile Richter verurtheilt und im fünften Acte hinter der Scene hingerichtet. Es handelt sich nur um eine Tragik von der Milde der politischen Ansichten des Centrums; die Doctrin wächst hart an dem südlichen Wendekreise des blühenden Unsinns. Die schwerfällige Gedankenentwickelung verräth Hartleibigkeit und Verfassungshämorrhoidarismus. Die Wirkung dieser Stücke schwankt zwischen wildem Hohngelächter und krampfhaftem Gähnen der Zuschauer. Alle Patienten besagter Gattung gründen sehr bald nach der Niederlage ihrer ersten Stücke Lesezirkel in ihrem Hause, tragen auch wohl allein die Dramen Shakespeare's, Göthe's, Calderon's 172 vor. Unter den Eingeweihten grassirt die Ansicht, daß Tieck als Vorleser mit ihrem Freunde verglichen nur ein Stümper sei. Der Gesichtsausdruck durchgefallener Dichter ist von einem gewissen mitleidigen Weltschmerz erfüllt. Aesthetiker werden auf der Promenade gern von ihnen wehmüthig angelächelt, aber auf alle Theaterdirectoren blicken sie mit tiefer Verachtung herab. Jährlich einmal geben sie ein großes Diner mit Austern und dramatischen Künstlern, auf welchem über den Verfall der heutigen Schaubühne und die Mißhandlung der vaterläudischen Poeten bitter geklagt, aber sonst vortrefflich gegessen und getrunken wird.

Zu ihrer Ehre sei es gesagt, daß sie zu den harmlosesten Irren des Trauerspiels der reiferen Jahre gerechnet werden müssen und nichts gemein haben mit den Tobsüchtigen der Tragik.

Jemand ist praktischer Arzt, besitzt ein ansehnliches Vermögen als Erbschaft seiner verstorbenen Eltern, hat also schon die trefflichen Früchte desselben in einer sorgenfreien glücklichen Jugend, einer abgerundeten Erziehung und späteren erleichterten Stellung zur Welt genossen, aber unser Doctor ist nichts desto weniger nicht glücklich. Der Verbrauch einer jährlichen Rente von 3000 Thalern befriedigt viele Wünsche seines Herzens, jedoch nicht den erwachten Ehrgeiz. Die thörichte Menschheit will nicht viel von seiner Praxis wissen. Sobald einer seiner Kunden ernsthaft krank wird, beruft er spornstreichs irgend einen andern berühmten Praktikus; man betrachtet ihn nur als einen Schnupfenarzt, spricht mit ihm nicht von 173 alten körperlichen Leiden, sondern von den neusten Theaterstücken und eben angekommenen Gästen. Niemand fragt ihn, welchen Gesundbrunnen er in der Kurzeit besuchen soll, aber wohl, ob die neue Oper anzuhören, das neue Ballet anzusehen sei. Aus Mangel an ernsthafter Beschäftigung geräth er in seinen unaufhörlichen Grübeleien auf den Gedanken, er habe als Mediciner seinen eigentlichen Lebensberuf verfehlt; er sei vielmehr berufen, etwas in der Kunst zu leisten. Längere Zeit schwankt er hin und her, da seine gute Erziehung mancherlei Fähigkeiten in ihm herangebildet hat. Er tupft etwas das Piano, er singt den zweiten Tenor in einem Männerquartett, er malt schauderhaft in Oel, er versteht einige ganz gelungene Kartenkunststücke zu machen, aber er hat Liszt spielen und Roger singen gehört, er besitzt selber Bilder guter Meister und ist ein Schüler Houdin's, mithin weiß er, daß Meisterschaft nur unendlich schwer erlangt werden kann. Da bringen ihn die Unterhaltungen mit seinen Patienten endlich auf andere Gedanken. Die fortwährenden ästhetischen Fragen und Gespräche flößen ihm allmählich den stillen Glauben ein, der Schwerpunkt seines Geistes läge in der Poesie. Die schlechten Trauerspiele des heutigen Repertoirs bestärken ihn darin. Unzufrieden mit den Dichtern, fühlt er sich unendlich erhaben über sie; er ergreift die Feder und beginnt ein Trauerspiel über einen wichtigen welthistorischen Stoff. Als gebildetem Manne fließen ihm nach einigen Scharmützeln mit den wiederspenstigen Jamben die Gemeinplätze, welche über 174 ernsthafte Dinge seit hundert Jahren durch zahllose deutsche Bücher verbreitet sind und wie der Staub auf der Chaussee auf allen Gehirnen liegen, mit größter Leichtigkeit zu. In der gewöhnlichen menschlichen Bescheidenheit, ohne deren segensreiche Einwirkung wahrscheinlich die meisten Gespräche und Schreibereien der Menschen aufhören und verstummen würden, hält er diese Gedanken für sein Eigenthum und sich für den begabtesten Dichter seines Zeitalters. Mit jeder weiteren Scene wächst diese Ueberzeugung; er vollendet die Katastrophe und glaubt Shakespeare verdunkelt zu haben. Das fertige Trauerspiel wird in hundert Exemplaren auf Velinpapier abgezogen und zuerst nur an einige der ihm bekannten Kunstfreunde vertheilt. Da sie bei ihm speisen und mit ihm spazieren fahren, sind sie von dem Meisterwerke entzückt; sie bringen ihn endlich durch ihre Lobeserhebungen so weit, daß er selber eine neue Epoche der Poesie von seiner Erscheinung an datirt. Das Werk wird eingepackt, er begiebt sich, da er Bedenken trägt, in der Residenz allzugroßes Aufsehen zu erregen und die Poeten, seine neidischen Concurrenten, zu erbittern, nach einer großen und reichen Nachbarstadt, wo ihm viele begüterte Verwandte, darunter Actionäre des Theaters, leben, und bringt das Trauerspiel auf die Bühne. Die Decoration mit dem aufgehenden Monde, in dessen Schimmer der Held einen vier Seiten langen Monolog spricht, hat er nebst den neuen Costümen und der Musikbande hinter der Scene, wann das entscheidende Banket gefeiert wird, aus seiner Tasche bezahlt. Diese verständigen Maßregeln 175 verhindern nicht, daß sein Drama kaum ausgespielt werden kann. Die Handlung kennen die Zuschauer aus den Geschichtsbüchern, seine Gemeinplätze versenken sie also in einen todesähnlichen Schlaf, aus dem sie im fünften Akte voller Erbitterung, ihre nächtliche Ruhe auf so hinterlistige Weise verkürzt und beeinträchtigt zu sehen, erwachen und ihre Lebensgeister munter trommeln. Die Kritik schließt sich ihnen an, sie fordert den Doctor auf, sein Trauerspiel neben Opium in den Arzeneimittelvorrath einführen zu lassen. Doch warnt sie gleichzeitig vor einem solchen drastischen Medikament, da zartere Naturen leicht aus diesem Schlafe in das Jenseits hiuüberschlummern könnten.

Der Doctor reist sofort nach Hause und kommt gerade an, um eine vorzugsweise beißende Kritik im Auszuge von mehreren Zeitungen mitgetheilt zu finden. Als einem stadtkundigen Manne glaubten die Redactionen ihm diese Artigkeit schuldig zu sein. Am nächsten Morgen fügt ein ungenannter »Civis« die Nachricht hinzu, daß der Herr Doctor in seiner Praxis noch vor zwei Jahren einem Geheimen Rathe habe den Bauch aufschneiden wollen, daß derselbe aber von einem anderen Arzte nur durch die Anwendung des Wiener Tränkchens von dem Uebel glücklich geheilt worden sei. Wäre der tragische Docter ein kluger Mann, so thäte er jetzt im Stillen Buße und unternähme eine wissenschaftliche Reise nach dem Orient, allein er setzt sich hin, schreibt wuthentbrannt eine Broschüre gegen die Kritik, kauft Knotenstöcke und Lebensretter, um bei einem Zusammentreffen mit 176 Kritikern ihnen die Schädel einzuschlagen, läuft in allen Gesellschaften umher, beklagt sich über Verkennung und Zurücksetzung; kurz er verfällt in die tragische Tobsucht. In untergeordneten Blättern schreibt er unausgesetzt anonym gegen Schauspieler und Recensenten, er entblödet sich schließlich nicht, eine Denkschrift über Reform des deutschen Theaters an das Cultusministerium zu richten. Unterdessen kündigen ihm die Miether die Quartiere in seinem Hause, weil sie das nächtliche Declamiren des Trauerspieles nicht aushalten können, und keiner seiner früheren Freunde will sich, weder bei ihm, noch mit ihm auf der Straße sehen lassen. Endlich berathen seine Verwandten, die Erbansprüche auf sein Vermögen haben, ob es nicht gerathen sei, ihn zu seiner ferneren poetischen Ausbildung einer ländlich gelegenen Anstalt, wo nach dem Zeitungsausdruck: Nervenkranke eine liebevolle Pflege empfangen, zu übergeben?

Von einem ganz anderen rührenden Charakter ist der stille Wahnsinn des Trauerspieles Ein gelehrter Narr von feinen Manieren, Liebling vornehmer Damengesellschaften, schwärmerischer Verehrer Goethe's, und denkender Schriftsteller, hat in jungfräulicher Schüchternheit, tief verborgen vor den Augen der Profanen, das Leben eines großen Mannes dramatisirt, und hält diese Arbeit für ein bühnengerechtes Trauerspiel. Er entfaltet schöne Gedanken, eine schwungvolle Sprache, sinnige Wendungen und Situationen voll von jener Poesie, die gleich einer zarten Melodie in dem Schweigen der Natur genossen wird, kurz 177 nicht eine der Eigenschaften, welche das stoffbegierige heutige Publikum, die kassenfrohe Bühne erfordern. Der gelehrte Schriftsteller ist ein zu unterrichteter Mann, um sein talentvolles Werk so zu überschätzen, wie der tobsüchtige Doctor seine platte Jambenmache, aber die unheimliche Magie der Bühne umstrickt ihn, denn wer für die Bretter geschrieben hat, der bescheidet sich nicht, gleich dem Romancier, mit der schweigenden Anerkennung der fernen zerstreuten Leser, der verlangt, daß die Arbeit vor seinen Augen, vor aller Welt, erscheine und verwirklicht werde. Er liest das dramatische Gedicht einzelnen Vertrauten vor, die in aufrichtigem Entzücken über die den Geist fesselnden Schönheiten es mündlich verherrlichen und schriftlich darauf in guten Journalen aufmerksam machen. Ein hoher geistreicher Herr, alter Gönner unseres Dichtergelehrten, heißt ihn kommen und die Arbeit recitiren. Sie fesselt ihn gleichfalls und läßt ihn den Wunsch aussprechen, sie auf der Bühne zu sehen. Sein Wunsch ist Befehl und das Stück wird einstudirt. Aber ach! schon während der Vorbereitungen bricht beinahe das Herz des Aermsten. Spielte man das Stück wortgetreu, man müßte schon am Morgen des Tages beginnen, oder erst am Morgen des andern enden! Es enthält mehr als achthundert Verse über das marktgerechte Maaß der gewöhnlichen Stücke. Die Regisseure kommen mit dem Dichter zusammen und beweisen ihm, daß die Handlung so viel als möglich erhalten bleiben, daß aber so viele Reflexionen und Schilderungen als möglich gestrichen werden müssen. Ihm klingt diese 178 Auseinandersetzung fast so schrecklich, wie einer Mutter die Nachricht der consultirenden Aerzte, daß an ihrem jüngsten Kinde eine lebensgefährliche Operation vollzogen werden müsse. Stillschweigend hört und duldet er; sie mögen nach ihrem weisen Ermessen handeln. Vor einem auserwählten Publikum wird nach reiflichen Studien, von den besten Künstlern, mit der trefflichsten Ausstattung das Drama gegeben und mit wahrer Andacht gehört. Der Name des Verfassers, die Selbstachtung der Zuschauer unterdrücken jede mißgünstige Bemerkung. Er erhält Beweise von Anerkennung, aber man flüstert einander in die Ohren: das Werk sei zu gedankenvoll, zu sublim für die Schaubühne, es habe eine zu empfindsame Organisation. Einen Todkranken erschrecken die zärtlichen lügenhaften Hoffnungsbetheuerungen der Angehörigen nicht mehr, als den Verfasser in den nächsten Tagen die schweißtriefenden Anstrengungen der Kritik, das Stück zu retten, ihm eine Ehrenstelle in der öffentlichen Anerkennung zu sichern. Noch mehr erschreckt ihn der leidenschaftliche dithyrambische Erguß eines seiner jungen Verehrer, der für den Meister auftritt und den Gegner herausfordert. Der Unglückliche verliert die Besonnenheit und läßt sich zu der öffentlichen Bemerkung verleiten, das Werk habe durch unbesonnenes Streichen verloren! Nun sind die Regisseure entrüstet, sie legen das Stück zurück, nachdem schon in der zweiten Aufführung das Haus leer gewesen ist, und das Werk verschwindet aus dem Gedächtnisse der Menschen, aber nicht aus dem seines Dichters. Er trägt tiefes Leid um das Musenkind, 179 verschwindet aus dem Umgange, vergräbt sich unter Büchern und Handschriften, studirt Kirchenväter in Klosterbibliotheken, tritt architectonischen Vereinen bei, und vergißt über diesen Zerstreuungen gelehrter Herren doch nicht sein Leid. Seine Gesichtsfarbe vergilbt, er vernachlässigt die einst so gewählte Toilette, sein graues Haar hängt wirr über seine Schläfe; er giebt das Trauerspiel nicht auf. Viele Jahre hat er, nur in nächtlichen Stunden, als ob sein Streben der Welt verrathen würde, die Dichtung umgearbeitet und gefeilt; Horaz verlangte nur neun Jahre, ihm waren kaum achtzehn genug. Wirklich erscheint das Trauerspiel im Druck. Leider sind Alle, die mit dem Dichter die Aufführung und seine glückliche modische Epoche durchlebt, gestorben, verphilistert, oder hohe Beamte geworden, die nur noch Eingaben und politische Actenstücke lesen, eine jüngere realistische Generation führt das große Wort. Rücksichtslos packt sie den Dichter mit Schergen-Händen, bezüchtigt ihn der Romantik mit Vorbedacht und mißhandelt ihn und das Gedicht bis auf den Tod. Seitdem begegnet man dem Verlorenen nur noch in der Dämmerung, wenn er einen gelähmten unverheiratheten Freund besucht, mit dem er über philosophische Themen zu disputiren und russischen Thee zu kochen pflegt. Nichts hält ihn aufrecht, als der Glaube, bei dem nächsten Ordensfeste für sein Stück mit einem ehrenden Abzeichen bedacht zu werden.

Nicht so ernsthaft ist die Geschichte des Freiherrn, der aus Uebermuth und Leichtsinn ein Trauerspiel schrieb und in der Blüthe seiner 180 Sünden umkam. Der gute Mann hatte ein überaus lustiges Leben geführt und darüber das von seinen Ahnen übriggelassene Vermögen vollends aufgezehrt. Seine letzte Hoffnung war ein kinderloser alter Verwandter, ein Bürgerlicher, der durch Verheirathung seiner reichen Nichte in die hochadelige Familie gerathen war. Dieser Unbesonnene beging die unverzeihliche Thorheit, am Tage vorher, als er den Freiherrn enterben und sein großes Vermögen wohlthätigen Anstalten vermachen wollte, vom Schlage gerührt zu werden und zu sterben. Der Freiherr sah sich dadurch im Besitz zweier rentabler Fabrikunternehmungen und verschiedener wohlangelegter Kapitalien und beschloß, um dem Andenken des Verstorbenen Ehre zu machen, ein ordentlicher Mann zu werden Nach reiflicher Erwägung, wie solches am zweckdienlichsten anzufangen sei, verheirathete er sich mit einer jungen schönen, aber grenzenlos dummen Schauspielerin, ließ sich in der Hauptstadt nieder und machte ein gutes Haus für Alle, die zu ihm gehen wollten. Der Freiherr hatte einen runden Bauch und litt an Leichtgläubigkeit, hielt aber gute Champagnersorten im Keller und ließ nicht ungern die Korke knallen. Wenn nun Künstler aller Gattungen bei ihm dinirten und der Freiherr sich eines sorgenfreien Lebens rühmte, tadelte man ihn wohl und sagte, daß ihm in seinem materiellen Wuste noch gar nicht der eigentliche höhere Reiz des Lebens aufgegangen sei. Derselbe bestehe nur im Genusse des Ruhms und werde durch wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen errungen. Ihm gezieme es vor vielen 181 Anderen, ein Trauerspiel zu schreiben, denn diese Sorte von Poesie gelinge dicken und lustigen Leuten am besten, während magere und ernsthafte Leute sich im Lustspiele auszuzeichnen pflegten. Dem Freiherrn leuchtete dieser Rath außerordentlich ein. Ohne sich viel zu besinnen, griff er einen Vorfall aus seiner Familiengeschichte auf, stutzte den Ausgang so traurig als möglich zu, ließ das Ding von einem jungen Manne, welcher der deutschen Sprache vollkommen mächtig zu sein schien, durchcorrigiren und reichte es dem Theater ein.

Die damalige Verwaltung desselben stand ungefähr auf der Bildungsstufe des guten Freiherrn und nahm das Stück an, theils weil sie ein gewisses heimliches Wohlgefallen an einer poetischen Freiherrnarbeit empfand, theils weil sie es in ihrer Unschuld wirklich für vortrefflich hielt. Die Schauspieler ihrerseits studirten es mit Behagen ein, da alle Proben mit den besten Rebensäften angefeuchtet worden waren und Abends nach der ersten Vorstellung ein Souper der ganzen Bekanntschaft bevorstand.

Der entscheidende Abend kam und der Dichter hatte sich so unbefangen in die vordere Reihe des Balkons im ersten Range gesetzt, als gelte es etwa ein Festspiel zu Ehren seines Geburtstages und nicht eine, allem Volke vorgeworfene theatralische Beute. Gleich anfangs befremdete es den unerfahrenen Mann, daß naseweise Individuen jedes Alters und Standes ihre Operngucker und Scknupftabacksdosen nach seiner Persönlichkeit richteten, ihn hartnäckig beobachteten und spöttische Prisen nahmen, obgleich er sich auf dem Zettel 182 nicht genannt hatte, sondern als Dichter nur einfach »Gustav« hieß. Noch schrecklicher wurde ihm zu Muthe, als hinter ihm und seiner jungen Frau ein alter Herr mit einem steifen Ordensgesichte und einer reizenden Dame erschien, und nach dem ersten, schon etwas mißfällig aufgenommenen Acte zu dieser sagte: »Meine Theure, der Herr vor Dir ist Gustav!« Nach diesen Worten ergriffen Beide ihre Augengläser und besahen »Gustav« längere Zeit sehr ruhig, um dann von ganz gleichgültigen Dingen zu sprechen, wie vornehme Personen unter ähnlichen Umständen immer zu thun pflegen. Der Freiherr gerieth in eine unendlich traurige Stimmung, die nicht durch den Erfolg des Stückes verbessert wurde. Bei den rührendsten Scenen lachte das entmenschte Volk und hustete unter schlecht versteckter Schadenfreude. Im letzten Acte nur traten einige unbescholtene Charaktere auf und versuchten dem Helden des Trauerspiels das Leben zu retten, indem sie edelmüthig die äußersten Anstrengungen machten, um das Stück nicht zu Ende spielen zu lassen. Aber die übrigen schlechten Menschen, begierig ihr Herz an den letzten Seufzern des Helden zu weiden, brachten sie zum Schweigen, und die Polizei, ihre tugendhaften Absichten offenbar falsch beurtheilend, führte sie an den Händen auf den Kassenflur und von da auf die Straße. So ward das Trauerspiel zu Ende gespielt und dann erst mit starker Instrumentation ausgepfiffen. Der bejammernswerthe Freiherr saß noch immer im ersten Range. Ihm fehlte die Kraft aufzustehen und nach Hause zu gehen, wo die geladene 183 Dichtertriumph-Gesellschaft seiner wartete; er kam sich obdachlos, ja vollständig heimathlos vor: Endlich gelang es seiner jungen Frau, ihn mit Hülfe zweier Logenschließer in die Chaise zu schleppen. Lassen wir den Vorhang vor dem nun folgenden Leichenmahle des Trauerspieles fallen. Dieser Dichter hat nie wieder einen theatralischen Federzug gethan. 184

 


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