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Solch ein Wiederfinden entfremdeter Gemüter hat das Eigentümliche, daß kurz auf die Einigung ein Gefühl von Scham folgt, ein schüchternes Fliehen und Meiden, als ob die alte Trennung noch bestände. Das Auge glaubt nicht, was es schon gesehen, und wie aus Gewohnheit zuckt die Lippe bitter, die bereits gelächelt hat. Nur schwer lebt sich die Seele in die Wirklichkeit hinein, sie vergißt nicht so leicht den Druck des düstern Traumes.
Als Nachime am andern Morgen aus der Schlafkammer in die große Wohnstube trat, lag auf ihrem Antlitz derselbe dunkle Schatten, den Mann und Kinder seit ihrem Aufenthalte auf dem Dorfe an ihr kannten. Erst als Rebb Schlome von seinem Schemel aufstand und ihr mit den Worten entgegentrat: »Wie ist dir, Nachime?« da hellte sich ihr Antlitz auf, und sie sagte leise mit schämig niedergesenkten Blicken:
»Wie nur mir sein kann und keinem andern Menschen.«
Als sie sich hierauf in der Stube umblickte und die beiden Kinder auf den niedern Fußschemeln sah, mußte die Erinnerung an den erlittenen Verlust gewaltig sie überkommen haben. Mit einem Schrei fuhr sie nach ihrem Herzen und rief:
»Gott verzeih mir meine Sünd', ich hab' meinen Elieh ganz vergessen.«
Dann setzte sie sich ebenfalls auf den Trauersitz neben ihren Mann und weinte leise vor sich hin. Eine geraume Zeit hindurch hörte man in dieser Stube nichts, als dieses unterdrückte, leise Klagen um den unglücklichen Sohn, bis sie allmählich ruhiger und stiller wurde.
»Kann ich jetzt mit dir etwas reden, Nachime?« sagte Rebb Schlome und berührte sie an der Hand.
»Red,« sagte sie tonlos.
»Es liegt mir schwer auf dem Herzen,« begann er, »aber ich muß es herunter haben, und doch weiß ich, daß es dir neues Weh hinzufügen wird. Aber zwischen uns beiden, Nachime, darf kein Fußbreit Unwahrheit oder Lüge sein . . . Ich hab' unsern Elieh nach Brandeis zum ›guten Ort‹ gebracht.«
»Nicht zu uns?« fragte Nachime erbleichend.
»Nicht zu uns!« wiederholte Rebb Schlome.
»Und darf ich auch nicht fragen, warum?« sagte Nachime nach einer Weile mit großer Anstrengung.
»Willst du, daß jeder, der auf unsern ›guten Ort‹ kommt, sagen soll: Da liegt Nachimes Sohn! Das ist die Buß', die ihr Gott geschickt hat, weil Schlome, ihr Mann, sich so benommen hat gegen sie? Und die schlechtesten Menschen, die nicht wert sind, daß du ihnen ins Gesicht siehst, die Scheinheiligen und Versteckten sollen stehen bleiben am Grabstein unseres Elieh, sollen uns vorwerfen können: ›Das ist Schlomes und Nachimes Buß‹! Das kleinste Kind in der Gass' hätt' das bald so gut auswendig gewußt wie ein Amen. Bist du dir dazu nicht zu gut, Nachime? Ich frag' dich, . . . du brauchst mir nicht gleich zu antworten.«
»Auf dem fremden ›guten Ort‹, nicht bei seiner Freundschaft zu liegen!« rief sie jammernd. Sie schien nur von dem einen Gedanken beherrscht.
»Ich frag' dich wieder, Nachime . . .?« sagte nach geraumer Weile Rebb Schlome, aber seine Stimme zitterte; er vermochte nicht, sie dabei anzublicken.
»Du hast ganz wohl daran getan, Schlome,« sagte Nachime und berührte ihn leise an der Schulter.
»Meinst du das wirklich im Ernst?« rief Rebb Schlome sie anstarrend, als ob er Unerhörtes, nicht Erwartetes von ihr vernommen hätte.
»Soll ich dir darauf noch schwören?« sagte sie trübe lächelnd. »Ich sehe ja doch ein, daß du wieder der Gescheitere bist. Er liegt auf dem Brandeiser ›guten Ort‹ ebenso gut wie auf dem unsern, ja besser noch, und was die Freundschaft anbelangt – einmal sehen wir uns ja doch alle wieder. Bis dahin soll er sich in Brandeis ausruhen.«
»Du bist doch das bravste Weib auf Gottes Erdboden, ich verdien' dich gar nicht,« sagte Rebb Schlome in tiefer Bewegung und stand auf.
»Wegen dem?« lächelte Nachime wehmütig. »Das wird mir unser Elieh schon verzeihen.«
Rebb Schlome war sich in diesem Augenblicke wohl bewußt, welches blutende Opfer Nachime seinem Rechte gebracht hatte; er glaubte nicht ihren Worten und hätte sie den heiligsten Eid darauf geschworen. Wenn er noch eines Beweises bedurfte, daß Nachimes Umkehr nicht aus Zerknirschung hervorgegangen, nicht erst erzwungen und durch äußere Umstände herbeigeführt, sondern in Wahrheit eine Wiedergeburt war, die in ihrem Gemüte vorbereitet lag – diese offenbare Lüge hätte es ihm bewiesen. Mit starken Schritten ging der tiefergriffene Mann in der Stube auf und nieder. Endlich blieb er wieder vor Nachime stehen; er sah sie wieder scharf an, die zu ihm demütig ergeben aufblickte, dann brach er in die Worte aus:
»Meinst du, ich werd' mich von dir übertreffen lassen? ich werd' dich allein so gut sein lassen? und mir soll gar nichts übrigbleiben? . . . Wir gehen wieder zurück, Nachime . . . Ich verkauf' Sack und Pack . . . du mußt wieder in deine alte Gasse zurück.«
Ein Schrei ertönte durch die Stube, aber er kam nicht aus Nachimes Brust. Anschel war von seinem Schemel aufgesprungen; drohend, gewaltig in seiner hochstämmigen Gestalt, die jetzt noch größer erschien, stand er hinter seinem Vater.
»Ja, fort mußt du von hier, Nachime,« fuhr Rebb Schlome fort, »ich laß dich keinen Augenblick länger da, als nötig ist. Verzehren soll ich dich hier lassen vor lauter Herzeleid, soll zugeben, wie sich das Weh täglich mehr in dein Gemüt einfrißt? Du mußt wieder in deine Gasse, zu deiner Freundschaft, zu deinem Geschäft zurück . . .! Auf den Händen will ich dich zurücktragen, und da soll einer dann auftreten und sagen: Schlome Hahn hat an seinem Weib nicht wieder gut gemacht, was er an ihr verbrochen hat. Und wem's nicht recht ist, der soll mir nur vorwerfen, daß ich mich wie ein Trenderl her und hin werfe und daß ich ein unruhiger Geist bin, der keine Geduld hat? Was mach' ich mir aus dem Gerede der Welt! Gibt mir die Welt noch einmal so ein Weib?«
Eine atemlose Stille herrschte nach diesen Worten in der Stube. Anschel stand regungslos hinter dem Vater. aber er konnte die leiseste Veränderung in den Mienen seiner Mutter erspähen. Seltsam! Nachimes Antlitz zeigte keine höhere Aufregung; sie war anscheinend fast gleichgültig.
»Und an deinen Kaiser denkst du nicht, Schlome,« meinte sie nach einer bangen Weile, »was der dazu sagen wird, wenn du so auf einmal dein Bauernwesen aufgeben wirst?«
»Spott mich nur aus, Nachime,« rief Rebb Schlome heftig, aber ohne jede Bitterkeit; »spott mich nur aus, ich hab's nicht anders verdient.«
»Ich und Spott!« beteuerte Nachime mit tiefstem Ernste. »Ich frag' dich wirklich, was wird dein Kaiser sagen, wenn er von dir hört? Ihm zulieb' bist du ja aufs Dorf gegangen.«
Rebb Schlome fand auf diese Frage nicht sogleich Antwort.
»Gott im Himmel,« rief er hierauf, »will nicht, daß sich ein Mensch zu viel quält und martert – wird's der Kaiser wollen? Danken werd' ich ihm immer mit aufgehobenen Händen, daß ich mir durch ihn mein Feld und mein Haus habe kaufen dürfen, aber etwas Unmögliches kann er von mir nicht verlangen . . . ›Majestät!‹ möchte ich zu ihm sagen, wenn ich mit ihm mich aussprechen könnte, ›mein guter kaiserlicher Herr! Du bist ein großer und gütiger Herr, du hast uns allen eine Gnade erwiesen, für die dich unsere Kinder und Kindeskinder noch segnen werden. Ich hab' dir dafür meinerseits einen Gefallen erweisen wollen, weil ich weiß, du willst, daß wir einmal unsere Gewölber und Krambuden schließen sollen, und bin ein Bauer geworden . . . Ich hab' Feld und Haus gekauft, bin unter Bauern gegangen, und mein Sohn ist selbst auf dem Felde gestanden und hat geackert und gesäet. Keiner hat sich den Schweiß verdrießen lassen; alles hat dir einen Gefallen machen wollen. Aber was willst du, wenn es doch nicht geht? Wenn das eigene Weib darunter leidet? Kannst du verlangen. daß ich darüber mein Weib, meine Nachime, verliere? Ich hab' sie zwingen wollen . . . ich hab' ihr blutiges Herzweh abgepreßt; aber die Sünde, daß ich einen Menschen und dazu noch mein Weib habe zwingen wollen, ist auf meinen Kopf zurückgefallen. Willst du noch, daß ich ein Bauer bleiben soll? . . . Wirst du mich nicht freisprechen von meinem Wort?‹ Der Kaiser, das glaub' mir, kann gar nicht nein dazu sagen . . .«
»Aber eines hast du vergessen, Schlome, und darauf möcht' er dich gewiß fragen,« sagte Nachime, und auf ihrem Antlitz begann es zu leuchten und zu glänzen, wie von inneren Flammen, die nach außen wollten.
»Nun?« fragte Rebb Schlome.
»Warum will dein Weib nicht, Schlome? wird er fragen,« sprach Nachime leise, als fürchte sie, ein zu laut gesprochenes Wort könnte eine alte, vielleicht wunde Stelle ihres Gemütes berühren.
»Auch darauf hätte ich eine Antwort,« rief Rebb Schlome in leidenschaftlicher Aufregung, als wäre ihm in der Tat die Gelegenheit geboten worden, im Angesichte des kaiserlichen Herrn Rede stehen zu müssen. »Wie soll sie wollen, mein Kaiser und Herr, möcht' ich sagen, wenn sie nicht dazu geboren ist? Ist sie denn das gewöhnt? Wie kannst du von ihr verlangen, daß sie über Nacht werden soll, was man so eine Bäuerin nennt? Ein Mensch hat zu der einen Sache Lust, ein zweiter wieder zu einer andern. Mein Weib hat nur zum ›Geschäft‹ Lust, darin findet sie sich zurecht. Es muß ja nicht jeder ein Bauer sein können, laß ihr das Geschäft! Hab Geduld mit uns älteren Leuten! Von uns darfst du auch nicht zu viel begehren. Wir haben noch das jüdische Gemüt, das findet sich nicht gleich in die neuen Sachen. Die Jungen, die sind etwas anders! . . . Und meine Nachime kann kurz und gut keine Bäuerin sein!«
»Laß gut sein, Schlome,« sagte Nachime und stand auf, »du wirst zum Kaiser nicht zu gehen brauchen, und der Kaiser wird dir nichts zu sagen haben. Denn das allerbeste hast du doch vergessen.«
»Wieso, Nachime?« rief Rebb Schlome aufhorchend.
»Du fragst mich gar nicht, ob ich will?« sagte sie milde.
»Was heißt das, Nachime?« schrie Rebb Schlome.
»Nichts heißt das,« sagte sie ruhig, aber entschiedenen Tones, »als daß ich in die Gasse nicht mehr zurück will und daß ich hier auf dem Dorfe bleibe.«
Bei den letzten Worten schrie eine Stimme gellend auf, es war Anschel.
»Still, Anschel, mein Sohn,« sagte sie, »an dich kommt schon die Reihe.«
»Du mußt aber,« rief Rebb Schlome heftig, »du mußt. Und wenn ich dich auf meinen Händen müßt' forttragen, Hunderte von Meilen weit, so tu ich's auch nicht anders. Du mußt wieder zu dir kommen, zu deinem alten Zustand.«
»Willst du mich schon wieder zwingen, Schlome?« meinte Nachime mit feuchten Augen. »Und wenn ich dir sage,« setzte sie mit einem feinen Lächeln hinzu, das sie wundersam verschönte, »daß ich mich nicht zum zweiten Male werde zwingen lassen, was tust du dann? wenn ich dir sage, daß ich gar nicht in meinen alten Zustand zurück will und mich davor fürchte? Du hast mich ja kennen gelernt, sagst du, und daß ich einen eisernen Kopf auf mir habe, . . . soll ich dir davon eine neue Probe geben?«
»Verzeih mir, Nachime,« sagte der starke Mann nach geraumer Weile, ganz außer Fassung gebracht, beinahe verwirrt. »Verzeih mir! Früher als du da auf dem Dorfe unter den Bauern nicht hast bleiben wollen, das hab' ich verstanden und ist mir in den Kopf eingegangen. Jetzt, wo ich dich wieder zurückbringen, dich an den Schrank führen will, wo du das Korallenschnürchen versteckt hast, willst du nicht? Wie soll ich dich verstehen?«
»Du mußt mich ja nicht verstehen, Schlome!« sagte sie schmerzlich lächelnd.
»Nachime!« rief Rebb Schlome beinahe mit drohendem Tone, »sei nicht zu gut, Nachime. Das kannst du heute sein, und morgen – wer steht dir aber dafür, daß nicht ein Übermorgen kommen wird, wo du mit blutigen Tränen beklagen wirst, daß du zu gut gewesen bist.«
»Ich hab' gar nicht gewußt, Schlome,« meinte hierauf Nachime mit einem gewissen leichten Spotte, »daß du so ein guter Prophet bist? Wie du alles erraten willst, was heute und morgen und übermorgen mit mir alles geschehen wird? Weißt du aber, daß in mir noch eine bessere Prophetin steckt, und die all dein Voraussagen zuschanden macht?«
»Nachime, fopp dich nicht,« rief er hierauf ingrimmig, »du meinst, ich ringe mir's schwer vom Herzen herunter, daß ich wieder mit dir in die Gasse zurückgehen will. Da irrst du dich aber gewaltig. Lieber heut' als morgen möcht' ich gehen . . . und wenn mir einer gleich bar Geld aufzählt, so heiß' ich nicht Schlome Hahn, wenn ich Feld und Haus nicht um die Hälfte hingebe, was es mich gekostet hat.«
»Du wirst Schlome Hahn bis zu hundert Jahren heißen,« sagte Nachime mit feinem Lächeln, »und wirst Haus und Hof doch nicht um ein Spottgeld wegschleudern. Was ereiferst du dich auch? Was willst du mir einreden? Ich weiß vielleicht nicht, wie dir das Leben daran hängt?«
»Aber du, Nachime, du?« meinte Rebb Schlome und ahnte nicht, wie sehr er sich durch diese Frage dem scharfen Auge eines Weibes bloßgestellt hatte.
In der Tat war ihr dieses Offenbaren seiner eigentlichen Anschauung nicht entgangen; aber jenes feine Tastgefühl, das Frauen angeboren ist, belehrte sie zugleich, daß sie an dieser Entdeckung schonend vorübergehen müsse, wenn sie den Mann ins Verleugnen und Verstellen nicht noch tiefer drängen wollte.
»Ich?« rief sie im Tone der Verwunderung, »ich? Ich will gar nicht mehr ins Geschäft, ich will eine Bäuerin sein! Ich seh' auch nicht ein, warum ich noch einen Haß gegen Haus und Feld haben soll! Bin ich denn blind? Ich seh' nicht, was in unserm Hab und Gut steckt? Ich weiß nicht, wie es in unserer Scheuer aussieht, und daß dies nur der Anfang ist? Daß Gott noch weiteren Segen für uns aufgehoben hat? Das allererste, mein' ich, was man im Hause haben muß, ist doch Brot, und hab ich das nicht? Kann ich mich über etwas beklagen? Es soll ein jüdisch Weib aufstehen, für das der Mann besser gesorgt hätte!«
»Nachime, fopp dich nicht!« unterbrach sie wieder Rebb Schlome.
»Laß mich die Gefoppte sein!« sagte darauf Nachime mit jenem entschiedenen Lächeln auf den Lippen, das sie nicht mehr verlassen zu wollen schien, »Schlome, ich bin es gerne. Nur in einem geb' ich dir recht, und das läßt sich leider Gottes nicht ändern: ich bin noch eine schlechte Bäuerin, ich bin wie ein Kind, dem der Lehrer mit aller Müh' und Gewalt nichts in den Kopf gebracht hat. Mein Kopf wird aber gut werden; das bissele vom ›Gewölb‹, was noch drinnen steckt, das muß heraus, und die Bäuerin muß hinein . . .«
»Ich begreife dich nicht, Nachime,« sagte Rebb Schlome achselzuckend.
»Und sieh dir nur den an,« rief sie mit einem Male laut und ergriff mit einer raschen Bewegung Anschels Hand, »sieh dir ihn an, Schlome, hast du so ein Bild des Schreckens schon gesehen? Sieh wie er zittert! Das ist Anschel, unser gut Kind, unser braves Kind, wie kein anderes zu finden ist auf der weiten Welt! Du weißt nicht alles, was unser Anschel ist, du kannst es nicht wissen! Wenn ich nicht aus Verzweiflung mir etwas angetan habe, so ist nur er daran schuld. Das Herz hat ihm geblutet, und er hat mich doch getröstet! Er hat mich aufs Feld hinausgeführt! Er hat mir gezeigt, wie du für das Brot des Hauses gesorgt hast. Sieh ihn nur an! Dem hängt die Seele am Felde, der ist damit verwachsen, und wenn du mit tausend Pferden an ihm zerrst und ziehst, den kannst du nicht mehr so leicht losreißen. Willst du dem Kind das ganze Leben verbittern? Das sag' ich dir, Schlome, ich laß von meinem Anschel nicht. Wo das Kind ist, da wird auch die Mutter sein, und zwingen laß ich mich zum zweiten Male nicht!«
Laut weinend und mit beiden Armen den Sohn umschließend, als fürchtete sie in der Tat, der nächste Augenblick könne ihr befehlen, von ihm zu lassen, schien sie ihren Mann dennoch dazu herauszufordern.
»Merkwürdig Weib!« rief Rebb Schlome selbst zwischen Lachen und Tränen, »wie kannst du nur daran denken, daß ich dich zwingen werde? Ich selbst will ja bleiben!«
»Gott zahl dir das, Vater,« schrie Anschel aus der Umarmung seiner Mutter heraus.
Nachime aber wand sich langsam von ihrem Sohne los, und als sie sich nun wieder gegen ihren Mann wendete, bot ihr Antlitz einen erschreckend ernsten Anblick dar. Tiefe Blässe lag darauf; um die Mundwinkel zuckte der alte bittere Schmerzenszug.
»Auf die Prob', Schlome,« sagte sie mit eisiger Kälte, »hast du mich nicht stellen müssen, du hättest das viel wohlfeiler gehabt. Hättest du nicht gleich sagen können: Nachime, ich geh' von hier nicht fort . . . willst du auch hier bleiben?«
»Sei nicht bös, Mutter,« nahm Anschel sogleich das Wort, der es wohl fühlte, der böse Eindruck des Augenblickes müsse mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, wenn nicht giftig schleichendes Unkraut nachkeimen sollte, »kennst du denn nicht den Vater und seine Art?«
Auch Tille kam herbei und ergriff flehend die Hand der Mutter. Mit feuchtglänzenden Augen blickte sie zu ihr hinan; auch das Kind wußte klar und bestimmt, um was es sich in dieser bedeutsamen Minute handle.
»Mutter,« rief es. »Laß alles so, wie es ist!«
»Hat er denn nötig gehabt, mich auf die Probe zu stellen?« sagte sie darauf noch immer grollend. Sie hatte die Blicke zu Boden gesenkt, finster und unheilverkündend stand sie da.
»Nachime, sieh mich einmal an!« rief plötzlich Rebb Schlome.
Da schlug Nachime, wie einem innern Machtgebot folgend, langsam die Augen in die Höhe. An dem Antlitze ihres Mannes blieben sie haften; treu und beredt glänzten ihr seine Augen entgegen.
»Merkwürdig Weib,« sagte er, »was du bist! Ich hab' dich auf die Prob' stellen wollen, ja, das ist wahr, und ich will's gar nicht ableugnen . . . Aber kannst du böse sein über so eine Probe? Das aber hör' jetzt von deinem Manne: So wahr ich hier die Hand auf Tilles Kopf lege, und Gott uns das Kind erhalten soll, so wahr hätte ich mein Wort gehalten, wenn ich nur ein Brösele gehört hätte . . . . daß du gehen willst!«
»Du wärst gegangen, Schlome?« rief Nachime aufs tiefste ergriffen von dem feierlichen Tone ihres Mannes, und mit zuckenden Lippen, noch blässer durch das Entsetzen, schrie sie: »Und wegen mir wärst du gegangen, Schlome!?«
»Ich wär' gegangen!« sagte Rebb Schlome mit der ganzen Fülle seiner Stimme.
*
Nie war die siebentägige Trauer um einen Toten in stillerer Seligkeit begangen worden als in dem Hause Rebb Schlomes. Engel der innigsten Friedsamkeit schienen durch die Räume der Bauernwohnung zu schweben und überall Spuren ihrer leuchtenden Fittiche zu hinterlassen. Eliehs selbst ward nur wenig gedacht. War das die Sühne seines Fehls? Oder ist das überhaupt der Eigennutz wiedergewonnenen Glückes?
Als sie nach den sieben Tagen wieder von ihren Trauerschemeln aufstanden, das Leben ihres Hauses sie wieder zu neuer Tätigkeit berief, war es ihnen allen, als hätten sie einen erquickend schönen Traum geträumt, einen Traum, den sich der Wachende ins Gedächtnis prägt, um ihn nicht zu vergessen.
Menschen, die einen schweren Läuterungsprozeß durchgerungen, haben das Eigentümliche, daß sie nicht gerne davon sprechen, auch wollen sie nicht, daß ihn ein anderer berührt. Eine starke Scheu, als könnte dadurch ein gewisser Bann über ihr schwererkämpftes Glück ausgesprochen werden, hält sie ab. Und so wollen auch wir die ferneren Schicksale dieses Hauses nur insoweit berühren, als es zur Einheit dieser »Geschichte« notwendig erscheint.
Rebb Schlome und Nachime blieben ihrem Worte treu; sie hielten aneinander, als wäre die Zeit um fünfundzwanzig Jahre von einer mächtigeren Hand, als der der Menschen, zurückgerückt worden, in wahrer Liebe und echtem Erkennen ihres gegenseitigen Wesens. Nachime hat sich allmählich zu einer Bäuerin ausgebildet, die dem schönen Hofe mit Tüchtigkeit und Sachkenntnis vorsteht. In ihrem Schaffen und Wirken ist, wir möchten sagen, etwas Vornehmes und Selbstbewußtes; es liegt, bei aller Mißdeutung, die dieses Wort etwa erfahren dürfte, viel Aristokratisches in ihrem ganzen Gebaren. Aber das wird sie und die Ihrigen vor dem Versumpfen bewahren, wird sie stets daran gemahnen, mitten in dem böhmischen Dorfe vor dem eigentlichen Verbauern sich zu hüten. Das Rechnen hat sie nicht abgelegt; aber ihr Rechnen ist das einer sorgsam haushaltenden Frau, die das Kleinste wie das Größte in das Bereich ihrer Augen zu ziehen weiß, nicht das finster lauernde Blicken nimmer ruhenden Argwohns. Auch zu dem Dorfe ist ihre Stellung eine andere geworden; die Frauen haben in ihr die Ebenbürtige erkannt, sie scheut nicht mehr die Berührung, sie sucht sie vielmehr auf.
Ein Umstand, vielleicht unwesentlicher Natur, belehrt uns am besten über das Verhältnis des Hauses zum Dorfe. Rebb Schlome hat die Scheuer, nach Anschels Rat, nur zu dem ungefähren Werte derselben assekurieren lassen, und Nachime hat beigestimmt. Die Glücklichen fühlen sich sicher im Schoße der neuen Heimat und fürchten nichts.
Vier Wochen nach Eliehs Heimgang, als gerade die dreißig Trauertage zu Ende waren, starb der Vetter Koppel. Ohne eigentlich ausgesprochene Krankheit, mühe- und kampflos, war der letzte Anhänger des Königssohnes Absalon hinübergeschlummert; den »Mogen Dovid«, den er seit dessen glücklicher Wiedergewinnung nicht von sich entfernt hatte, hielt er noch in den krampfhaft geschlossenen Händen. Auf dem Brandeiser »guten Ort«, in der Nähe Eliehs, damit dieser doch »etwas« von der Freundschaft neben sich liegen habe, wie Rebb Schlome sich ausdrückte, begruben sie den Vetter Koppel.
Seinem Nachlasse aber räumte man an der Ostseite der großen Stube den ihm gebührenden Platz ein; von dort soll er hoffentlich nicht sobald beseitigt werden!
Wojtech ist im Hause geblieben; er ist der treueste Knecht, ein wachsamer Hüter des Gutes seines Herrn. Der alte Trübsinn ist nicht von ihm gewichen; noch scheint die Einheit dieses seltsam zerrütteten Lebens nicht hergestellt. Aber die dunkeln leidenschaftlichen Ausbrüche haben aufgehört; er ist fast demütig geworden! Zwischen ihm und Anschel inmitten, ruht das ungelöste Geheimnis von Eliehs Liebe und Tod. Sie haben sich ihre Vermutungen nicht mitgeteilt; seitdem Anschel das bei Elieh gefundene Liebeszeichen an den Knecht abgetreten, ist der Name des Unglücklichen nicht über Wojtechs Lippen erklungen.
Ob Anschel seine junge Liebe vergessen wird? Für Wunder solcher Art hat das Schaffen in freier Natur seine Heilkraft nicht verloren! . . . Aus der schweren Prüfung wird er als ein Mann hervorgehen voll stillen Ernstes, voll gewichtiger Kraft . . .
Auch Tille, die der Mutter in allem treu beisteht, was das Haus betrifft, ist indessen zur blühenden Jungfrau herangereift. Seit sie die Verlobte eines wackern jungen Landmannes aus der Nachbarschaft ist, der gleich Anschel aus der »Gasse« heraus das grüne Feld wählte, fällt es Rebb Schlome eigentümlich, sie noch »Kind« zu nennen. Er wird sich schwer daran gewöhnen, das letzte Röschen seiner Ehe im Hause zu missen.
So wächst und gedeiht das Haus! Das grüne Feld liegt nicht mehr draußen vor dem Dorfe; es ist gleichsam ins Haus hineingewachsen, und die dazwischen wandeln und gedeihen, sind frisch wie die Frucht des Feldes, sind jünger geworden, als wären sie von einem wohltätigen Zauber umfangen.
Ein bitterer Schmerz widerfuhr kurz darauf dem Hause Rebb Schlomes; wir können ihn nicht verschweigen. Wir meinen: die teilweise Aufhebung des Rechtes, auf eigenem Grund und Boden zu sitzen. Wurde auch Rebb Schlome durch diese Maßregel nicht berührt, da die Erwerbung seines Hofes vor die Zeit, da jenes »Patent« erging, fiel – ihm und den Seinigen hat sie doch tiefes Weh bereitet. Sich so in der Ausschließlichkeit eines Rechtes zu wissen, welches eben im Bewußtsein, daß es die Allgemeinheit umschließt, wurzelte, während Tausende und Hunderttausende von Brüdern wieder mit einem Male in die dunkle Masse der Rechtlosen gestoßen wurden, hatte für sie alle etwas Beengendes und Drückendes!
Auch diese Schmerzenszeit ist vergangen. Jenes »Patent« ist feierlichst zurückgenommen worden. Gegenwärtig waltet ungeschmälerte »Besitzfähigkeit – am Pflug.«