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Rebb Schlome trat, indem er die Türe weit aufriß, mit dem üblichen Gruße: »Gut Schabbes, alle!« in die Stube. Nachime dankte nicht, ja sie blickte nicht einmal auf, ihr Antlitz hatte einen finsteren, drohenden Ausdruck angenommen. Aber er änderte sich gedankenschnell, als sie ihren Mann sagen hörte:
»Nun, Tille, du kommst gar nicht zu mir und läßt dich benschen? Bin ich dir heute so fremd, weil ich nicht aus der ›Schul'‹, sondern geradezu vom Feld komme?«
Tille drängte sich an den Vater und legte ihren Kopf unter seine segnenden Hände. Seine Lippen flüsterten leise; er hatte die alte Patriarchenformel des Segens über sein Kind ausgesprochen.
Dann rief er laut, indem er Mütze und Rock in einen Winkel warf, mit einer gewissen heftigen Lustigkeit:
»Und jetzt kann's Kieselsteine vom Himmel herunterwettern, so braucht's uns auch nicht zu ängstigen. Das Korn ist unter Dach und Fach!«
Jetzt erst schaute Nachime zu ihrem Manne auf. War es die siegesfreudige Bestimmtheit, mit der er diese Worte sprach, oder die eigene Erkenntnis, daß sie kein Recht zu zürnen habe – sie fühlte sich mit einem Male wohl und frei in der Seele.
»Was meinst du, Elieh,« wandte er sich dann zum Bocher, »hab' ich noch Zeit für den ›Mairiw‹ (Abendgebet)? Es ist mir heute abhanden gekommen, ich weiß nicht wie?«
»Du hast noch Zeit,« sagte Elieh lautlos.
Allsogleich begann Rebb Schlome, in der Stube auf und nieder schreitend, das Abendgebet des Sabbats. – Nachime kam es vor, als jauchze eine gewisse Lustigkeit aus dem singenden Tone heraus, mit dem er das uralte Gebet begleitete. War er so herzfreudig, warum sollte sie nicht wenigstens ruhig sein? Hielt er sich so wenig in Gottes Schuld, daß er beinahe den innerlichen Jubel nicht zu unterdrücken vermochte, warum sollte sie länger sich martern? Während Rebb Schlome bei dem »Schmona-Eßra-Gebet«, das man stehend verrichten muß, sich an das Fenster gestellt hatte, näherte sich Anschel der Mutter und flüsterte ihr zu:
»Bist bös, Mutter, daß wir so spät gekommen und in den Sabbat hinein gearbeitet haben? Wir haben genug an dich gedacht, und er besonders hat nicht gewollt . . . deinetwegen. Was hätten wir aber tun sollen? Zwei Tage warten und nicht wissen, was indessen vorgeht? Wäre dir das recht gewesen?«
»Meinetwegen hat er's nicht tun wollen?« fragte Nachime so leise, daß es Anschel kaum vernahm.
»Ja, Mutter,« sagte dieser, »ich hab' ihm zureden müssen, gewaltig zureden, daß er eingewilligt hat. Jetzt sind wir aber fertig und können sagen: Wir haben unser Brot zu Haus! . . .«
Nachime sagte mit einem ernsten Lächeln:
»Es ist nur gut, daß ihr schon zu Hause seid. Ich war in Sorge.«
»Und jetzt aufgetragen!« rief Rebb Schlome, nachdem auch das letzte Gebet zu Ende gediehen, mit der Lustigkeit eines speisebedürftigen Gemütes. »Heut' wollen wir die großen Herren spielen, spät essen und spät schlafen gehen. Jetzt weiß ich erst, was das heißt, hungrig wie ein Drescher sein. In der ›Gass'‹ hat man gar keine Vorstellung von so einem rechtschaffenen Hunger. Meinst du nicht auch, Anschel?«
»Wissen denn die dort, was Arbeit ist?« sagte Anschel mit einem gewissen Stolze. »Sie meinen, wenn sie einen Pack mit Kattuntücheln oder Hasenhäuten von Dorf zu Dorf tragen, oder wenn sie auf einen Markt fahren, da haben sie gearbeitet.«
»Hast recht, Anschel, Gottes Rechte rief Rebb Schlome laut auflachend, »sie wären wie ein Federl bei der Arbeit, der kleinste Wind möcht' sie beim Flügel nehmen . . . ein ganz Spital könnt' man mit ihnen anfüllen.«
»Und soll ich dir noch etwas sagen, Vater?« rief Anschel, »es ist zwar nicht schön, daß ich's sage, aber wahr ist es! Die in der ›Gass'‹ möchten schon gern arbeiten, wenn sie nur Felder hätten. Es hat halt nicht jeder ein Feld!«
»Jetzt stillt gebot Rebb Schlome ernst, mit einem flüchtigen Seitenblick auf Nachime, »jetzt wollen wir an gar nichts denken.«
Ehe das eigentliche Nachtmahl begann, verrichtete Rebb Schlome erst die üblichen Segnungen über den Wein und die Sabbatbrote, deren zwei vor ihm auf dem Teller lagen. Zuerst pries er den Schöpfer des Weltalls, »der den siebenten Tag, als der Himmel und die Erde und alle ihre Heere vollendet waren, als Tag der Ruhe und der Heiligung eingesetzt«, und indem er dann das volle Glas aufhob, sprach er mit erhobener Stimme den Preis und Ruhm des »Königs der Welt« aus, »der die Weinfrucht geschaffen«. Dann nippte er an dem Wein und gab das Glas weiter, worauf zuerst Nachime, dann die anderen der Reihe nach, wie sie am Tische saßen, davon kosteten. Tille war die letzte. Hierauf schnitt er das weiße Sabbatbrot auf, teilte zuerst sich einen Bissen zu, über den er früher das Lob Gottes, der das »Brot aus der Erde hervorkommen« läßt, aussprach, und schnitt dann den anderen davon ab, damit auch sie die Segensformel über die Gottesgabe aussprächen.
Längere Zeit stockte nun jedes Gespräch, das reichliche Mahl nahm aller Sinne in Anspruch; es schien allen zu munden, als hätten sie zwei Fasttage zu bestehen gehabt. Nur hie und da fiel ein lobendes Wort von Anschel oder von Rebb Schlome selbst über die Vortrefflichkeit der Speisen dazwischen, aber zu einer zusammenhängenden Unterhaltung führte es nicht; es sah fast aus, als fürchteten sie dann, mit ihrem Teil am Mahle zu kurz zu kommen.
Gegen das Ende des Essens, als Tille bereits die letzten Teller abzuräumen begann, war es wieder Rebb Schlome, der das Stillschweigen brach.
»Weißt du, was mir da soeben eingefallen ist während dem Essen?« sagte er zu Anschel, an den er überhaupt heute das Wort allein zu richten pflegte, »unsere Scheuer ist noch gar nicht verassekuriert. Wie sie so leer dagestanden ist, hab' ich gar nicht daran gedacht, aber seitdem alles unter Dach und Fach ist, werd' ich keine ruhige Minute haben, bis sie von unten bis oben, bis jeder Halm darin verassekuriert und eingebüchert ist, auf alle Fälle!«
Nachime horchte auf; jeder Nerv in ihrem Körper zuckte, als sei er besonders getroffen worden.
Was war das? Assekurieren wollte er die Scheuer? War das die erträumte, unangreifbar gedachte Sicherheit? Unter Dach und Fach war ihr Hab und Gut also doch gefährdet?
»Wird es nicht Zeit haben bis ganz nach der Ernte?« meinte Anschel.
»Brauch' ich schon wieder deinen Rat?« fuhr Rebb Schlome mit zorngeballter Faust auf. »Gleich am Montag in der Frühe,« setzte er dann gelassener hinzu, »machst du dich auf und gehst nach Brandeis zu dem Kaufmann, der die Assekuranz bei sich hat und . . . hoch, ganz hoch wirst du verassekurieren!«
»Ja, ganz hoch,« konnte Nachime sich nicht enthalten anzufügen, »mit wenigem ist nicht geholfen. Es muß für etwas stehen.«
Anschel vernahm diese im Tone der Aufregung herausgestoßenen Worte mit Verwunderung, aber er kannte die Mutter zu gut; viel weniger begriff er den Vater mit der hastigen Assekuranz! Kurz vorher in solch übersprudelnder Stimmung, lag jetzt ein düsterer Schatten von Sorge auf dessen Antlitz. Dazu fühlte er sich von dem aufbrausenden Zorne gekränkt. Das verlieh ihm die trotzige Entschiedenheit, zu sagen:
»Vater, der Kaufmann wird meinen, wir wollen unsere eigenen Scheuern anzünden.«
»Anschel, Anschel,« schrie Nachime gellend, daß alles erschrocken aufschaute.
»Und wenn er's glaubt,« sagte Rebb Schlome ruhiger, als sich nach dieser Bemerkung erwarten ließ, »meinst du, daran liegt mir etwas?«
»Es kommt unter die Leut',« sagte nichtsdestoweniger Anschel, »es bleibt nicht verschwiegen, und dann heißt es: Weil er sich fürchtet, der Jud', möcht' er gern das Haar auf dem Kopf verassekurieren. Darf man ihnen zeigen, daß man sich vor ihnen fürchtet? Ist das klug?«
»Ich will auf alle Fälle sicher sein, will in Ruhe schlafen, und daß mich nicht jeder Lichtschein in der Nacht um meinen Schlaf bringt,« sagte Rebb Schlome.
Auf Anschels Lippen wollten wilde, trotzige Worte treten, das Blut kochte ihm.
»Red nichts, Anschel, mein Sohn,« rief Nachime, »um Gottes willen red nichts, und tu was man dir heißt. Willst du einen denn wirklich um das bissele Schlaf, was man noch hat, bringen? Ich versteh' dich nicht, Anschel!«
Sichtbar traf der ängstlich bittende Ton, der erschrockene Blick der Mutter, des Sohnes Gemüt. Er wäre nicht der gewesen, dessen junges Herz schon so frühe das Weh einer Entsagung ertragen hatte, wenn er in diesem Augenblicke nicht nachgegeben hätte.
»Ich versteh' dich auch nicht, Mutter,« sagte er nach einer stummen Weile, mit einer Stimme, die trotzig klingen wollte und doch die natürliche Weichheit nicht übertönen konnte. »Man muß dem Dorfe nicht zeigen, daß man sich fürchtet. Gerade deswegen –.«
»Was willst du sagen?« unterbrach ihn Nachime mit schreckensvoll aufgerissenen Augen, »was: gerade deswegen? Was hast du sagen wollen?«
»Ich will es nicht mehr anhören,« sagte darauf Rebb Schlome und stand auf. Es war klar, er hielt nur mit Mühe an sich, vielleicht Nachimes wegen. Mit hallenden Schritten ging er dann eine Weile in der Stube auf und nieder; dann blieb er mit einem Male hinter Anschel stehen. »Gehst du oder gehst du nicht?« rief er mit fester leidenschaftsloser Stimme.
»Eine Scheuer verassekurieren, dreimal so hoch als sie wert ist, darüber hab' ich meine Meinung sagen müssen,« meinte Anschel trotzig.
»Gut' Nacht, alle,« rief Rebb Schlome, und ohne jemanden anzuschauen, ging er rasch auf die Schlafkammer zu.
Als er sich entfernt hatte, herrschte ein minutenlanges düsteres Schweigen in der Stube. Elieh und Vetter Koppel waren auch hinausgegangen, nur Nachime, Anschel und das Kind waren zurückgeblieben.
»Anschel, mein Kind,« sagte Nachime leise, indem sie sich ganz nahe an den Sohn stellte, »was ist dir gerade jetzt eingefallen? Ich versteh' dich gar nicht. Mich hast du zurechtgewiesen, und hast deinem Vater immer recht gegeben, und jetzt stemmst du und wehrest du dich selber gegen ihn? Wie soll ich das verstehen? Hat er denn nicht recht? Das muß ja ein Kind im Mutterleib einsehen, daß man so eine Scheuer verassekurieren muß. Soll man sich auf das Ungewisse verlassen? Warten vielleicht, bis es einem neidigen Bauer einfällt, uns daran zu gemahnen? Ich versteh' dich nicht?«
»Das ist's ja, Mutter, was mich kränkt,« rief Anschel, durch die linden Worte der Mutter an den zartesten Teilen seiner Seele ergriffen. »Jetzt mit einem Male fürchtet er sich vor den Bauern? Was haben sie ihm zuleid getan? Haben sie uns nicht aufgenommen wie Brüder?«
Nachime schüttelte traurig den Kopf zu diesen Worten.
»Gut' Nacht, Anschel,« sagte sie plötzlich und ging. Tille folgte ihr nach. Es war, als ob Nachime ein mühsam unterdrücktes Weinen mit in die Schlafkammer genommen hätte. Anschel blieb noch eine Weile beim Scheine der verlöschenden Lampe am Tische sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Begann so der erste Erntesabbat auf dem Dorfe?