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Seitdem Anschel das neue Leben in sich trug, das so unerwartet gleich mit dem ersten Eintritt ins Dorf ihm aufgegangen, erschien ihm seine Familie als ein anderes. Sie war ihm mit einem Male fast gleichgültig geworden, es war, als gehörte er ihr nicht mehr an, als sei ihr Leid ein ihm ganz fremdes, als hätte er keinen Anteil an ihrem innern Dasein zu nehmen. Es wird dies niemanden wundern, wer die Selbstsucht solcher ersten Gefühle kennt. Berge und Täler sollen sich verrücken, das Flußbett sein altes Lager verlassen, in dem sich die Woge seit Menschengedenken wälzt, untreu soll alles werden den ewigen und menschlichen Gesetzen, damit nur sie hochaufschreiten können durch die Welt, durch nichts gehindert, von niemandem gekränkt!
Rebb Schlome hatte seine Freude, wie anstellig sich Anschel in dem neuen Stande zeigte. Er hatte das hinter dem träumerischen »Jüngel«, für den das »Geschäft« nicht den mindesten Reiz gehabt, nicht gesucht. Anschel war unermüdlich in seinem Eifer. Früh morgens war er mit den Knechten schon aufs Feld gegangen, wenn Vater und Mutter noch schliefen; selbst zu Mittag mochte er nicht heimkehren; er hatte es durchgesetzt, daß er sein »Essen« neben Wojtech auf dem Felde verzehren durfte, weil es sich so besser »schicke«.
Das erstemal, als dies geschah, sträubte sich Nachime mit allen Kräften dagegen; es war unerhört, daß man einem ihrer Kinder das»Essen« wie einem »Schnorrer« hinausschicke. In ihrem Vaterhause und auch anderswo halte man es für das höchste Glück, sagte sie, wenn man die Kinder schön um sich herum sitzen haben könne; jetzt aber solle sie ihren Anschel ganze Tage lang nicht zu Gesichte bekommen, solle nicht wissen, wie ihm das Essen geschmeckt und ob es ihm auch wohl bekommen sei. Den schärfsten Ausdruck legte sie aber darauf, daß ihr Kind mit Knechten und Mägden »zusammen essen« sollte. »Deswegen sind wir aufs Dorf gezogen, das hätte mein Anschel nicht anderswo auch haben können?«
Nachime vergaß, daß es Anschels eigner Wunsch gewesen war; aber ein wundes Herz kettet fast mit Absicht alles, was es drückt, nicht an dasjenige, was ihm im Augenblicke ein Leid bereitet, sondern steigt immer und wieder zu der Quelle zurück, woher es überhaupt ausgegangen; es übersieht stets das ganze Gebiet seiner Krankheit. Wie ein erfahrener Arzt weiß es selbst ein unwesentlich scheinendes Weh mit dem am Leibe nagenden, unausrottbaren Krankheitsstoffe in Verbindung zu bringen.
Es war überhaupt mit Nachime eine ganz eigentümliche Veränderung vorgegangen. Die demütig schweigsame Frau war mit einem Male fast überlaut in ihren Aeßerungen geworden; täglich, ja stündlich konnte sie davon sprechen, wie ganz anders es in der »Kille« sei, warum sie mitgegangen, warum sie sich mit »Händ und Füß« dagegen gestemmt habe, fortzuziehen. Es schien, als sei sie sich plötzlich der ihr im Hause vorenthaltenen Stellung bewußt geworden, und trachtete nun danach, keinen Fuß breit des gewonnenen Landes wieder abzutreten. Man weiß, was zu geschehen pflegt, wenn Menschen, namentlich Frauen, zu einem Aufgeben ihrer eigentümlichen Natur gezwungen sind. Nachime war aus dem Kreise ihres bisherigen Daseins zu unvorbereitet gerissen worden, als daß dies nicht einen merklichen Einfluß auf ihren Charakter hätte ausüben sollen. Niemand hätte in ihr, wenn er sie so sprechen hörte, wenn er den harten Ton vernahm, mit dem sie Knechten und Mägden gebot, oder die verdrossene Miene sah, mit der sie die häuslichen Angelegenheiten leitete – niemand hätte in ihr die milde duldsame Nachime erkannt. Alles an ihr schien verändert; selbst in ihrer Kleidung zeigte sich dies, die bereits Spuren von Vernachlässigung an sich trug. Man machte ihr darüber keine Vorwürfe, wie man ihr überhaupt immer weniger zu antworten oder ihre bitteren Bemerkungen zu entkräften suchte. Dafür antwortete sie sich selbst, machte sich selbst Vorwürfe, denen sie dann, als wären sie ihr von einem andern gemacht worden, entgegentrat. »Ob sie sich für die Bauern oder die Kühe im Stall die ›Jontefhaube‹ aufsetzen solle?« hieß es dann; »ob nicht das allerschlechteste Kleid, wie sie es nur im Winter auf den Märkten getragen, gut genug sei?« Selbst am Sabbat machte sie davon keine Ausnahme; es schien ihr eine Art von Befriedigung zu gewähren, in den schönen Tag der Ruhe die düstern, grauen Farben ihrer Stimmung hineinzutragen.
»Für wen sie denn Sabbat machen solle?« warf sie sich dann vor, »ob für den Knecht Wojtech, der ›einen‹ gern in einem Löffel Wasser vergiften möchte? Sie könne ja nicht einmal in ›Schul‹ gehen und Gott loben und preisen, sie werde zuletzt jedes ›jüdisch‹ Wort verlernen und nicht mehr wissen, wo Gott wohnt?«
Solche Worte, namentlich am Sabbat gesprochen, verletzten tief und rissen noch mehr in der bereits weit klaffenden Wunde. Der Sabbat ist der Tag, an dem man solch schneidendem Wortgefechte gern aus dem Wege geht und die Seele frei halten will von den kreischenden Tönen des Gemeinen. Wenn aber diese friedselige Stimmung gewaltsam angegriffen wird, so wehrt man sich dagegen mit allen Kräften. Darum fehlte es besonders an diesem Tage nicht an harten Gegenreden.
»Wenn man sie so sprechen höre,« klang es dann bitter von Rebb Schlomes Lippen, »so meine man nicht anders, als sie hätten alle, was Gott verhüte, das ›Taufwasser‹ über sich ergehen lassen . . . in Rebb Schlome Hahns Hause warte man nur darauf, bei der nächsten Gelegenheit sich auf und davon zu machen und zum Geistlichen zu wandern. Und das sage ihm das eigne Weib! Aber er wisse schon, was es mit dem ›Frommsein‹ der Weiber sei; um Gott sei es ihnen nicht zu tun, höchstens um die schöne Haube oder um die neue goldene Kette, die sich die Nachbarin angeschafft hat. Darum sei auch in der ›Weiberschul‹ ein so lautes Lärmen und Plaudern, man könne oft sein eignes Wort nicht vernehmen. Wenn sich Nachime nach dem zurücksehne, so begreife er das, denn hier auf dem Dorfe finde sich so etwas nicht vor; ihm aber solle sie den Sabbat nicht verstören mit solchen Reden, bei denen nichts herauskomme.«
Solchen Worten gegenüber, die den Riß zwischen den beiden Eheleuten grell dartaten, hatte Nachime keine Tränen, wieder nur Worte entgegenzusetzen. Die spöttische Anspielung auf ihr »Frommsein« erschütterte sie nicht so sehr, als sie in ihr eine fast an Wut streifende Entrüstung weckte. Das ganze Wesen dieses duldenden Weibes erzitterte, als sei es von rauher Hand an der wundesten Stelle gewaltig gepackt worden. Mit kreidebleichen Lippen und kreischender Stimme rief sie: »Da könnten es alle hören, und was ich heute an diesem Sabbat sage: Wenn eines von unsern Kindern zur Taufe gehen wird, so bist nur du daran schuld; den alten Gott hast du ihnen schon genommen, indem du sie aufs Dorf geführt, und daß sie bald den neuen finden werden, davor ist mir nicht bange. Du wirst auch schon für den sorgen.«
Einen solchen Ausbruch tiefinnerster Leidenschaftlichkeit hatte Rebb Schlome nicht erwartet. Er erschrak heftig darüber. So weit hatte er nicht gehen wollen; seine Bemerkung über das »Frommsein« der Weiber hatte Nachime nur im allgemeinen gegolten; aber darin liegt eben das Verhängnisvolle solchen Streites: er fährt unabsichtlich ins Fleisch, reißt Wunden ein, die man nicht schlagen will, zerstört, was man unverletzt erhalten wollte.
Beschwichtigend trachtete er einzulenken, meinte fast scherzend, die ganze Welt wisse, Rebb Schlomes Nachime brauche sich, was das »Frommsein« betrifft, nicht vor einem Landesrabbiner zu schämen; sie werde doch vom eignen Manne einen »Spaß« hinnehmen. Aber Nachime wollte dem Streite nicht diese Pforte aufschließen, was doch zuletzt das beste gewesen wäre, verstand den Spaß nicht und rief bitterlich:
»Gott kann das nicht ungestraft lassen, was man an mir getan hat. Den Dieb, der einem eine Kleinigkeit stiehlt, den sperrt man ein; mir aber hat man alles genommen, es ist mir nichts geblieben, nicht einmal der heilige Schabbes, den doch der ärmste ›Schnorrer‹ auf der Welt hat.«
Als darauf Rebb Schlome, durch diesen Vorwurf erbittert, zornig meinte: »Eine schöne Schnorrerin bist du! Tausende von jüdischen Weibern möchten sich auf die Knie werfen vor Gott und dem danken mit aufgehobenen Händen, wenn sie der Mann zu einer solchen Schnorrerin gemacht hätte,« rief sie unversöhnlich:
»Dazu werde ich mich besinnen. Mein Gott wird mir das nicht ungut nehmen, wenn ich mich für das, was man an mir getan hat, nicht bedanken kann. Wenn man mir alles nehmen wird, was ich habe, wenn ich arm und barfüßig dastehen werde, dann erst werde ich sagen: Großer Gott in deinem Himmel, wie gut hast du's mit mir gemeint. Aber jetzt?!«
Solche Auftritte endigten gewöhnlich damit, daß beide Teile fast aus Erschöpfung die Waffen sinken ließen. Die Kinder selbst, teils aus Scheu vor dem elterlichen Ansehen, teils weil ihnen das Herz dabei vor Wehmut und Bekümmernis anschwoll, begaben sich nicht in die heiße Luft solcher Wortkämpfe. Sie suchten sich zu entfernen, und wo das nicht anging, schwiegen sie. Aber weder für Nachime, noch für Rebb Schlome hatte dieses Schweigen der nächsten Glieder ihres beiderseitigen Daseins etwas Verdammendes. Merkwürdig war es, daß solche Auftritte gerade in Gegenwart der Kinder stattfanden, als hätten sie Zeugen haben müssen; das Alleinsein vermieden die Eheleute.
Es ist bezeichnend für das menschliche Herz, daß es sich in solchen Lagen gern nach Stützen, gleichsam nach Verfechtern und Anhängern seiner Partei, umsieht. Selten macht ein Gemüt, und sei es eisenfest und genietet, von dieser Regel eine Ausnahme. Im Gegenteil! Je stärker es ist, desto mehr will es gestützt und in seiner Wucht erhalten werden. Wir haben gesehen, wie auch Rebb Schlome trotz seiner herrischen Natur diesem Gebote sich nicht zu entziehen vermochte, wie er, zu Anschels Erstaunen, ihm sein Leid auf Herz gelegt. Aber was für den starken Mann vielleicht das Bedürfnis eines drangvollen Augenblicks gewesen, das gestaltete sich für das schwache Weib zu einer Lebensaufgabe. Sie mußte jemanden haben, mit dem sie sich »ausreden« konnte, bei dem sie Billigung und Gedankengemeinschaft fand. Aber wo war er? Sie sah sich unter ihren Kindern um; sie horchte angstvoll nach der Stimme unter ihnen, die der ihrigen entgegen tönen würde. Anschel, ihr Lieblingskind, war von ihr abgefallen, das fühlte und begriff sie. Das sah sie täglich, ja stündlich mehr ein! Arbeitete er nicht, als wäre er der niederste Knecht? Zeigte er nicht einen Eifer im Bewältigen des neuen Lebens, das für sie so schreckenvoll begonnen hatte? Entzog er sich nicht fast absichtlich ihrem Anblicke? Wenn die arme Mutter sein gedachte, wie er früh morgens, ohne sie gesehen zu haben, fortzog mit den Knechten, ohne Liebeswort, ohne sie zu fragen: Mutter, wie ist dir? dann überwallte sie ein Gefühl, das in Augenblicken fast dem Hasse ähnlich war. »Hab' ich das um ihn verdient?« klagte sie dann; »hab' ich ihm denn nicht immer gezeigt, daß er mir mein liebstes Kind ist?« Dann geschah es auch, daß Anschel bei seiner Rückkunft von der Arbeit mürrisch, ohne Gruß von ihr empfangen wurde, wie sehr es auch in ihr stürmte und drängte. – Sie, die milde, aufopfernde Mutter, fand dann kein Wort des Erbarmens für seine Müdigkeit, fand keins jener die gesunkene Kraft wieder hebenden Mittel für ihn, setzte ihm das Abendessen hin, wie einem Fremden, den man nur um Gottes willen speist und tränkt, nicht mit jener Freudigkeit des Gebens, mit jenem leuchtenden Glanze des Auges, den wir an unsern Müttern kennen, so oft sie uns beschenken. Wenn dann Anschel mit dem Vater vom Felde sprach, wenn er oft warm wurde vom Gespräch, von Wojtech erzählte, dessen rätselhafte Natur er noch immer nicht begriff – ihr schnitt jedes Wort wie eine scharfe Klinge durch die Seele. Wozu erzählte er das? Wußte er nicht, daß es sie kränke, alle Geister der Sehnsucht in ihr wachrief, ihr ganzes Elend ihr immer neu vorrückte? Mußte sie nicht annehmen, daß er es mit Absicht tat?
Wie hätte Nachime in solcher Gemütslage das keimende, neue Leben ahnen können, das in ihrem Kinde fast mit dem ersten Beginne schon unausrottbare Wurzeln geschlagen hatte? Sonst erraten das die Mütter oft auf den ersten Blick; sie haben das Auge dafür; sie verstehen sich auf Zeichen. Nachime aber lebte nur in sich; in ihrer Selbstsucht lauschte sie nur auf ihr eignes Leid. So war ihr das Nächste entgangen, die Flamme, die still und unbewacht unter dem Dache loderte, das sie alle einschloß.
In ihrem Drange sich »auszureden« fiel sie sogar auf Tille. Aber bei dem ersten Versuche schreckte sie zurück. Das Kind war, seitdem sie hierhergezogen, beinahe wild und unbändig geworden; befand sich am liebsten unter Knechten oder Mägden, oder lief im Dorfe umher, wobei es gewöhnlich den Vetter Koppel zum Begleiter hatte. Ja, Nachime wollte sogar bemerken, daß sie seit dem Wegzuge aus der »Kille« nicht mehr so »gescheit« und »ausgefallen klug« sich darstellte. Alle jene Künste und Reize, die das Kind sonst zum Entzücken der ganzen Familie besessen, schienen mit einem Male von ihr gewichen; sie erheiterte niemanden mehr. Wollte sie mit ihr ein »gescheit« Wort reden, so lachte sie, tat ungebärdig und lief davon. Nachime begriff nicht, daß auch für das Kind neue Verhältnisse angebrochen waren, begriff nicht, daß Tille in eine andre Luft, unter andre Menschen gekommen, unter denen ihr bisheriges Wesen nichts galt; sie sah auch in ihr eine Abgefallene, und mehr als einmal, wenn sie das Tun des Kindes erwog, sagte sie kummervoll vor sich: »In der steckt ein zweiter Anschel.«
So waren alle, die ihr bisher so nahe gelegen, in schreckliche Ferne gerückt worden; es führte kein Weg, keine Spur zu ihren Herzen. Wie in einem furchtbaren Schneesturm war jede Spur und jeder Steg zu ihnen verweht worden, und Nachime hatte nicht den Mut, war zu unglücklich, um sich schon jetzt den alten Weg zu ihnen zu bahnen.
So war ihr nur Elieh geblieben; an ihn drängte es sie mit allen Sinnen sich zu klammern. Wenn sie irgendwo Hilfe und Trost finden konnte, so war es bei ihm; denn auch er, der fleißige »Bocher«, mußte an demselben innern Gebreste leiden; auch ihm, dachte sie, sei das größte Unrecht geschehen. Hatte ihn »ein Mensch« gefragt, ob er fort wolle? War er nicht gleich ihr, willenlos und gebunden »wie ein Lamm zur Schlachtbank« ergriffen und fortgeführt worden?
Wenn in Nachimes verbittertem Herzen sich noch irgendwo eine Spur jenes alten Erbarmens regte, das einst milde das kleinste Wehe ihrer Kinder umfangen hatte, so fiel es nun auf Elieh. Er erschien ihr noch mitleidwerter, als sie sich selbst. Sie war doch »ein Weib«, mußte hingehen, wohin ihre Familie ging, aber was sollte er mit seinem Talmud und seinen sonstigen Studien hier auf dem Dorfe mitten unter Bauern anfangen? Wenn »einer« nicht hieher gehörte, so war es Elieh. Und doch hatte sie selbst unter den Zubereitungen zur Abfahrt an diesen Umstand nicht gedacht; er fiel ihr erst jetzt, aber mit desto verstärktem Drucke, aufs Herz.
Elieh war nämlich bis dahin immer kränklich gewesen, hatte eine entbehrungsvolle, leidende Kindheit gehabt, die ihn still, mit blassem Aussehen, wie mit gebrochenen Schwingen an die späteren Tage des Jünglingsalters abgegeben hatte. Er hatte sich im Hause nie bemerkbar gemacht; trug seine Kränklichkeit mit jener Fassung. die nichts fordert, die nicht einmal bemitleidet sein will, und alles erreicht hat, wenn man sie ungefragt und ungestört in sich selbst verkehren läßt. Aber so unscheinbar solche Naturen im Hause auftreten – von denen, die mit ihnen wandeln, fordern sie die sorgfältigste Beachtung; üben auf sie einen wahrhaft tyrannischen Druck aus. Das war nun bei Elieh zwar nicht der Fall; er quälte niemanden mit seiner Laune, er forderte nicht mehr, als wozu er berechtigt war. Aber um so mehr fühlten sich die anderen gedrängt, ihm entgegenzukommen, Rücksichten auf ihn zu nehmen, die Leuten von tätigem Lebensberufe oft so schwer fallen. Man mußte frühzeitig darauf bedacht sein, für Elieh eine Lebensstellung zu finden, die seiner Natur am meisten zusagte. Für das »Geschäft« paßte er ebensowenig als Anschel, er war zu still dafür. Wie hätte er auch die Mühseligkeiten eines zum größten Teile auf Märkten sich bewegenden Treibens ertragen können? Der erste Luftzug, der leiseste Regentropfen, hatten die Eltern gemeint, würde ihn töten; und wie viel mehr hatten sie beim »Geschäfte« zu erleiden. Ein Handwerk, und sei es selbst das leichteste, erschien ihnen nicht weniger aufreibend; zudem hatte Elieh schon als Kind viel Neigung zum »Lernen« gezeigt, am liebsten mit Büchern verkehrt. Diese Neigung erschien ihnen so ausgesprochen, in so klaren Umrissen, daß sie ihr wie einem Fingerzeige Gottes Folge leisteten. Man ließ Elieh »lernen« und »lernen«, fragte ihn nie: »Bist du so zufrieden?« und wie auf Verabredung strebte alles dahin, aus seiner Nähe alles Lärmende und Beunruhigende zu verbannen; man umspann ihn sozusagen mit dem tiefsten Frieden, und glaubte um so mehr alles getan und aufs Beste gesorgt zu haben, als Elieh nie es merken ließ, daß ihm sein häusliches Gefängnis zu enge sei. Welchen Entwicklungsgang Elieh unter dem Einflusse dieser Behandlung zurücklegte, war allen, ihm selbst ein Geheimnis geblieben; das viele »Lernen« erschien ihnen eben als Beschäftigtsein in freudlosen Tagen, als ein Ausfüllen der Zeit. Keiner ahnte, ob die Seele des kränklichen Jünglings, der tagaus tagein in den toten Schätzen verschollener Gottesgelahrtheit brütete, von dem sie selten einen andern Ton vernahmen, als jenen eigentümlich singenden, der das »Lernen« der talmudischen Bücher begleitet; – ob diese Seele auch andere Gesänge hörte, ob nicht zuweilen Stimmen in ihr erschollen, die ungehört an ihrem Ohre vorüberrauschten. Elieh war ihnen zuletzt das geworden, was für die meisten Menschen irgend ein Ding ist, das aus Gewohnheit in die feinsten Teile ihres Daseins sich verflüchtet hat; dessen Notwendigkeit, ja Zusammengehörigkeit mit ihnen selbst sie erst begreifen, wenn es eines Tages fehlt.
Es gibt Leute, die in der Nacht aufwachen, wenn die Uhr plötzlich ihr heimlich schnurrendes Räderwerk einstellt. – So wäre es der Familie des »Bochers« ergangen, wenn es Elieh eines Tages angekommen wäre, seine Bücher um eine Stunde früher zu schließen.
So war Elieh keinem im Hause weder nahe, noch fremd genug; er hatte sich daran gewöhnt, für nichts mehr angesehen zu werden, als für eine geduldete Notwendigkeit; nie eine andere Berechtigung anzusprechen, als die, ungehindert seiner Neigung folgen zu dürfen. In der Gasse pries man die Eltern glücklich, die so etwas an ihrem Kinde tun konnten, pries den Sohn glücklich, der solche Eltern besaß. Jeder glaubte diesem Lobe, die Familie sowohl, als der Bocher selbst; und das war keineswegs übertrieben. Konnte für den kränklichen Jüngling wirklich mehr getan werden?
Elieh war gleichfalls mit auf das Dorf gegangen, weil sich dies von selbst verstand, ungefragt, unvorbereitet, wie Vetter Koppel mitgenommen ward, wie alle andern folgten. Er tat nicht den geringsten Widerstand, kaum, daß man die Frage von ihm hörte, wohin man gehe, und wie die neue Heimat heiße? Warum hätte er sich sträuben sollen? Blieb er nicht bei seinen Eltern? Werden die nicht auf dem Dorfe für ihn sorgen, wie sie es in der »Gasse« getan? – Für ihn änderten sich nur die vier Wände einer Stube; sonst blieb alles unverrückt, wie es seit der Kindheit war. Als die großen Bücher verpackt und in die Kisten gegeben waren, hatte Elieh alles getan; er brauchte nichts, als zu gehen.
Der Aufschrei seiner Mutter im Augenblicke des Scheidens schien in seiner Brust keinen Widerhall gefunden zu haben. Verstand er ihn nicht? War es ihm selbst nicht klar geworden, daß die herrische Natur seines Vaters, wie sie seinen Willen, seine Stellung als selbständiges Wesen mißachtete, auch über den Willen und die Zustimmung Nachimes sich hinwegsetzt? Insoweit hatte sich Rebb Schlome auch nicht verrechnet. Elieh nahm das »Dorf« in seiner Weise hin, äußerte sich nicht, ob es ihm da wohlgefalle, ob nicht, packte seine Bücher aus, und die neue Heimat war aufgerichtet. Nur eines hatte sich geändert. Er »lernte« jetzt nicht mehr unter den Augen seiner Eltern; man hatte ihm eine eigene Kammer angewiesen, die still und abgelegen von der Hauptwohnung war. Dahin sollte der Bocher all sein Dichten und Denken bringen, da sollte er »lernen« so viel und so lange es ihm beliebe. Ein noch tieferer Frieden sollte ihn da umspinnen; »er durfte«, wie sich Rebb Schlome ausdrückte, »nicht einmal wissen, daß er auf dem Dorfe sei«.
Was in der Nacht ihrer Ankunft geschehen, war bisher allen, selbst Anschel ein Geheimnis geblieben. Man wird es schon längst erraten haben, daß Elieh es war, der die sonderbare Unterredung seines Bruders mit dem Mädchen an der Gartenplanke belauscht hatte. Weder er, noch Anschel hatten das Feuer in der Nähe gesehen. Beide begegneten sich in der nämlichen Lüge. Nur das eine war Anschel klar geworden, daß Elieh ein Zeuge jener Szene war. Aber warum log auch er? Was bewog auch ihn, in die Verstellung. einzugehen? Eliehs Ermahnungen in der Nacht, auf die Bauern sich nicht zu verlassen, die schneidende Weise, mit der er beim Zusammentreffen mit seinem Bruder auf der Straße ihm entgegentrat, waren seitdem aus Anschels Gedächtnis nicht verschwunden. Allmählich begann sich in ihm ein Urteil über den stillen Bruder festzusetzen, das ganz anders als das bisherige lautete. Er konnte ein gewisses Gefühl von Furcht nicht bemeistern, das ihn jedesmal überfiel, wenn er in seine Nähe kam. Bangte ihm davor, daß Elieh eines Tages sprechen könnte? Seitdem war zwischen ihm und Elieh kaum ein Wort verhandelt worden. Das neue Leben in Anschels Gemüt verkroch sich scheu vor dem glanzlosen Blicke Eliehs.
Unsichtbar hatte sich zwischen den Brüdern eine Kluft gebildet, ein Fliehen und Meiden, dessen innere Geschichte vielleicht keinem von beiden ganz klar war.
Gewaltsam drängt sich nun Eliehs Wesen in den Vordergrund dieser Blätter; wir werden ein Rätsel zu lösen genötigt sein.