Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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23. Zwischen den Garben.

Rebb Schlome hatte das Versprechen, das er am Abend vor dem Schlafengehen dem Vetter gegeben, wirklich nicht vergessen. Eine seltsame Unruhe ließ ihn kaum den Anbruch des Tages erwarten; er eilte mit dem Morgengebete und wartete nicht einmal auf das Frühstück. Die Nacht hatte seinen Entschluß nicht verweht.

Verwundert blickte Nachime dem Davoneilenden nach; in ihr war der Eindruck des gestrigen Abends beinahe verwischt. Sie mußte sich erst erinnern, zu welchem Zwecke ihr Mann am frühen Morgen den Richter besuchte.

»Merkwürdig,« sagte sie zu Anschel, der mit nicht weniger Befremden die Hast des Vaters anstaunte, »merkwürdig, wie er ist. Da fürchtet er sich, daß ihm Vetter Koppel das Haus verschreien könnt', und jetzt geht er ungebeten, wie wenn ihm's einer befohlen hätte, bloß weil der alte Vetter seinen ›Mogen Dovid‹, sein Spielzeug will! Wie versteht man das?«

»Mir scheint, Mutter,« entgegnete Anschel, »wir verstehen uns alle auf den Vater nicht.«

Nachime schüttelte den Kopf.

Es dauerte nicht lange, so kam Rebb Schlome zurück. Sein Gesicht schien kummervoll, seine sonst aufrechte Haltung gedrückt. Vetter Koppel war in der Stube und verzehrte sein Frühstück; er hatte den Eintretenden nicht bemerkt. Als aber Tille, wenn auch im leisen Tone, dem Vater nur das einzige Wörtchen: »Nun?« zurief, horchte er auf und legte den Löffel sogleich zur Seite.

»Er gibt's nicht her,« sagte Rebb Schlome halblaut, »ich könnt' ihm Tausende dafür anbieten . . . er gibt's nicht her.«

»Wirklich nicht?« rief das Kind in seiner Enttäuschung.

»Was willst du tun?« meinte Rebb Schlome, und jetzt erst zeigte sich, wie kummervoll und grämlich der ganze Ausdruck seines Wesens war. »Willst du mit einem Bauer Weisheiten ausreden? Der Bauer hält auf den Mogen Dovid, man kann auf die schönste goldene Uhr nicht so viel halten. Das wenigste meint er, ist, daß Stall und Hof vor Unglück bewahrt sind und daß kein Feuer Gewalt hat über sein Haus. Aber er hat noch eine andere Idee davon. Er meint, solange er ihn hat, kann überhaupt nichts Böses in sein Haus kommen.«

»Glaubt das der Bauer auch?« rief das Kind.

»Wer glaubt's denn noch?« fragte Rebb Schlome und ein scheuer, erschrockener Blick glitt hastig über Tille hin.

»Ich mein' nur!« sagte Tille und brach schnell ab.

»Was willst du aber tun, wenn er's doch nicht hergibt?« sagte er dann ärgerlich. »So ein Bauer hat einen harten Kopf. ›Herr Richter,‹ hab' ich gesagt, ›ich hab' einen alten Vetter im Haus, der hat nichts auf der weiten Welt, als das, es hängt ihm sein Leben daran, und er weint und jammert danach. Gib's dem zurück, wenn du mir schon den Gefallen nicht tun willst.‹ Da ist er fast zornig geworden und hat aufbegehrt mit mir. ›Was geschenkt ist, ist geschenkt!‹ hat er geschrien, ›und ich geb's nicht zurück.‹ Was hätt' ich da tun sollen, ich frag' dich selbst? Der ist imstande und hetzt das Dorf gegen uns auf, bloß weil ich ihm den ›Mogen Dovid‹ wegnehmen will.«

Vetter Koppel, den doch all das anging, hatte die ganze Unterredung schweigend angehört; nur die Augen hatte er abwechselnd bald auf Rebb Schlome, bald auf Tille gerichtet. Als jetzt Rebb Schlome geendigt, stand er auf und schlich zur Stube hinaus.

»Der tut sich ein Leid an, wenn man ihm nicht bald seinen Mogen Dovid zurückbringt,« rief Nachime.

Rebb Schlome sagte dagegen kummervoll: »Ich hab' ja dem Bauer nicht mit Gewalt kommen können? Ich hätt' ihn ja gerne selbst wieder zurück.«

»Wieder Gewalt?« meinte Nachime in tonlos spitzem Tone zu Tille gewendet. »Aber sieh, was er tut,« setzte sie sogleich laut hinzu; »ich fürcht', er tut sich ein Leid an.«

Anschel und Tille eilten auf dieses Geheiß zur Stube hinaus. Draußen im Hof fanden sie den Vetter neben dem Brunnen auf bloßer Erde sitzen, den eisgrauen Kopf wie sinnend in beide Hände gedrückt.

»Vetter, was machst du?« rief Tille unüberlegt hastig, indem sie zu ihm herantrat.

Vetter Koppel sah auf; sie hatten geglaubt, er weine; aber mit Staunen blickten sie in ein eigentümlich entschlossenes Antlitz, auf dem auch nicht die leiseste Spur eines Schmerzes zu lesen war. Die Augen warfen sogar einen Glanz zurück, den sie niemals daraus hatten leuchten gesehen. Er mahnte an Verstand.

»Ich denk' an meinen dicken Wald,« entgegnete er ruhig, »und ich bekomm' ihn doch, wenn Rebb Schlome mich auch tausendmal noch foppt.«

»Laß ihn gehen und komm,« flüsterte Anschel seiner Schwester zu, »der tut sich sobald kein Leid an.«

In der Tat verhielt sich Vetter Koppel an diesem Tage ruhig, und nichts an ihm verriet, daß er sich seiner plötzlichen Bedeutsamkeit bewußt geworden war. Bald nachdem ihn die Geschwister verlassen, stand er auf und machte, wie er dieses täglich tat, seinen gewöhnlichen Gang durch die Gasse des Dorfes. Nur am Hause des Richters blieb er längere Zeit stehen, und blickte mit seinen trüben Augen über die Planke in das Innere des Hofes hinein; dann entfernte er sich und setzte seinen Weg fort. Zu Mittag stellte er sich pünktlich im Hause ein; das Essen schien ihm trefflich zu munden, und alle schauten vielleicht zum ersten Male mit einer Art Genugtuung, wie wacker der Vetter den Speisen zusetzte, nicht anders, als ob er tagelang keinen Bissen zu sich genommen hätte.

Nach Tische zog Rebb Schlome Anschel auf die Seite.

»Meinst du denn,« sagte er zu ihm leise, »ich hätt' nicht schon schneiden lassen, da ich seh', daß auch die andern schon angefangen haben?«

»Und warum doch, Vater?« wagte Anschel zu fragen.

Rebb Schlome starrte einen Augenblick vor sich hin, wie auf eine Antwort sinnend. Dann sagte er rasch, als wenn das Wort nicht schnell genug über seine Lippen kommen könnte:

»Ich hab' gewartet, bis ich den Richter schneiden seh'! Denn er ist doch die erste Person im Dorfe und von allen der Gescheiteste. Beeilt sich der noch nicht, hab' ich mir gedacht, so brauchst du dich auch nicht zu beeilen. Muß denn der Jude zuerst anfangen? Daß sie dann zu sagen haben: Der Jud' kann's nicht abwarten, bis er die Gottesgabe in seiner Scheuer hat? Er möcht' sie gern noch ganz grün sich nach Hause führen? Jetzt weiß ich, der Richter läßt morgen schneiden – also halt ich's für das beste. daß wir übermorgen anfangen.«

Anschel vermochte nur zu sagen:

»Du hast recht, wie immer, Vater, und verzeih mir.«

Trotz der eigentümlichen Beweisgründe, mit denen Rebb Schlome sein plötzliches Nachgeben rechtfertigen wollte, sah Anschel ein, daß der Vater im Grunde, um sich nicht zu demütigen, keinen bessern Ausweg hätte finden können.

Über das eisenharte Antlitz Rebb Schlomes schlich nach den Worten Anschels ein trübes Lächeln.

»Du wirst auch einmal anders werden,« sagte er.

Von diesem Augenblicke an ging ein merkwürdig bewegtes Leben, wie ein frischer Windhauch nach erstickender Hitze, durch das Haus. Wohin man schaute erblickte man Anschels stämmige Gestalt, wohin man horchte vernahm man ihn. Er schien vielgestaltig und vieltönig geworden. Bald lief er absichts- und willenlos ins Dorf, bald kam er wieder zurück, und gleich darauf wieder ins Dorf, weil er, wie er meinte, dem einen oder dem andern Drescher es nicht gehörig eingeschärft habe, morgen auch pünktlich zu erscheinen.

»Auf was freut er sich denn so?« grollte es wieder in Nachime, »auf das bissele Korn, was sie vom Feld heimbringen werden? Es ist wahr, das ist jetzt unser ganzer Reichtum, und wenn es schlecht gerät, sind wir halbe Bettler. Aber wie er so herzfreudig sein kann! Beim ›Geschäft‹ war er immer schläfrig und hat nicht gewußt ein Seidenband von einem Baumwollband zu unterscheiden, und jetzt?«

Mehrmals versuchte sie auch dem Strome, aus dem Anschel in wilder Lust dahinschwamm, einen Damm vorzubauen, indem sie den freudebewegten Sohn festhalten und ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen meinte. Aber Anschel entglitt ihr jedesmal und stand ihr nicht Rede.

»Leider Gottes,« sagte sie betrübt, »er ist heute wie ausgewechselt. Man kann sich gar nicht mit ihm ausreden.«

Der Morgen brach an. Schon in aller Frühe waren Anschel und Wojtech nebst den anderen Knechten fortgegangen. Es war nicht lange nach Sonnenaufgang. Später folgte ihnen Rebb Schlome. Als Nachime um ihre gewöhnliche Aufstehstunde erwachte, fand sie das Haus leer; denn auch Elieh und Vetter Koppel waren nicht zu finden. So war sie mit Tille allein. Es läßt sich kaum sagen, welch ein Gefühl von Bangigkeit wieder über ihr Gemüt kam. Daß der wichtigste Abschnitt ihres jetzigen Lebens, von dem so viel abhing und der entscheiden sollte, ob die neue Heimat zugleich eine festbegründete sein werde – daß dieser Zeitpunkt gekommen war, ohne daß sie tätig eingriff, daß man sie so zu Hause lassen konnte, als wäre sie zu gar nichts zu gebrauchen, fiel mit Zentnerlast auf ihr wundes Herz. Das war es aber nicht allein. Sie hatte im Grunde geglaubt, das würde so in alle Ewigkeit hinein dauern; all das, was sie seit Tagen und Wochen in Bitterkeit und Groll, in Widerstand und Streit erlebt, würde nie aufhören. Nun war die Ernte gekommen, das »Brot der Ähren« sollte ins Haus geschafft werden. Draußen auf dem Felde standen sie im heißen Sonnenbrande, und die Torflügel der Scheuer waren weit offen, um die goldene Last zu empfangen! Daran hatte sie nicht gedacht, es kam ihr zu früh; sie war beinahe nicht vorbereitet darauf! Was hatte jetzt all ihr Groll und Widerstand für einen Sinn? Warum sollte sie noch in ihrer Bitterkeit verharren? Hatte ihr Mann nicht redlich Wort gehalten? Hatte er sie belogen? getäuscht? Und wieder, wie an ihrem ersten Feldgang, überall, wohin sie immer ihre Schritte lenkte, glitten ihr die vor fünfundzwanzig Jahren zwischen den Ähren eines Feldes gesprochenen Worte ihres Mannes nach: »Sieh her, Nachime, das ist Gottes Gab', da draus wird Brot! Wenn mir Gott die Kraft gibt. sollst du und das was nachkommt immer Brot haben«

Wie die Stimme eines Gottesgerichtes schreckten sie diese Worte auf; sie war sich zum ersten Male mit voller Klarheit bewußt, daß sie sich versündigt hatte. Aber an wem? Ob an Mann und Kindern, ob an Gott oder an sich selbst, dazu schwieg ihr aufgeregtes Gemüt, darauf verstummte jede Antwort. Doch dessen war sie sich bewußt, daß eine Sünde nicht an einem allein begangen werden kann, daß sie mit glühenden, feurigen Zungen nach allem lecke, was in den Bereich ihres heißen Atems kommt!

Aber ob sie gar kein Recht gehabt habe? Auch solche Stimmen ertönten in ihr und wurden zuweilen stärker als ihr Bangen und Entsetzen. Wenn sie gar kein Recht gehabt hatte, wie war das aus ihr geworden, was sie jetzt war? Sie konnte sich doch erinnern, daß sie ehemals einen ganz andern Charakter, eine andere Sinnesweise und Lebensanschauung hatte! . . . Was hatte sie so geändert, daß sie sich selbst nicht zu erkennen vermochte? . . .

Wie es immerhin mit diesem Rechte oder Unrechte stand, das fühlte sie: heute am Tage der Ernte konnte keine Rede davon sein. Lebendig, wie nie zuvor, drängte sich ihr das Bedürfnis auf, die jetzige Lage ihres Gemütes Gott anheim zu stellen . . . sie wollte beten.

Sie nahm nicht die täglichen Gebete vor; sie wollte jetzt nicht beten, was sie nicht verstand, und die Sprache Zions war ihr natürlich ein heiliges Geheimnis. Mit gieriger Hand langte sie nach einem kleinen Büchlein, das aus der alten Heimat den Weg in die neue gefunden hatte. Das Büchlein war ihr am Hochzeitstage von der Mutter geschenkt worden und führte den Titel: »Die fromme Tochter Israels« und enthielt in »jüdisch-deutscher« Sprache die Gebete, deren sich nur Frauen bedienen konnten. In der Tat stand in dem dünnen Bändchen gar viel; es war darin für jede Lage und Stimmung, für jeden Umstand des Lebens, mochte dieser ein freud- oder ein leidvoller sein, gesorgt; der unbekannte Verfasser mochte das Herz des Weibes gekannt haben.

Ihr war das fromme Büchlein fast fremd geworden; sie hatte darin seit dem Einzug ins Dorf nicht gelesen, und das Aufsuchen der Gebete ging ihr darum schwer von statten. Sie blätterte lange darin herum, ohne eigentlich sich klar bewußt zu werden, welches Gebet sie aus dem reichen Inhalt für ihre jetzige Lage und Stimmung herausheben sollte. Es sollte ein Gebet sein, das mit dem »Felde« im Zusammenhange stand, etwa »was eine Bäuerin sich zu erbeten hat,« wenn zum ersten Male die Ernte nach Hause kommt.

Sie las alle Überschriften; aber in keiner fand sie, was sie suchte. Da waren Gebete für alle Fast- und Feiertage, in und außer der »Schul« zu gebrauchen; dann kam eine große Reihe von solchen, die nur für gewisse Gelegenheiten und Anlässe bestimmt waren. Das erste begann mit der »jungen Braut« »vor der Chuppe« (Trauung) zu beten und begleitete sie so in auf und ab steigenden Linien durch alle Wechselfälle des ehelichen Lebens. Nachime überblätterte sie alle; als sie zu der Überschrift kam »nach dem Aufstand zu beten«, worunter der Verfasser nicht die Schrecken einer Revolution, sondern einfach das Wochenbett verstanden haben wollte, mußte sie sogar lächeln. Aber dieses Lächeln verschwand sogleich, als sie auf einer der nächsten Blattseiten das Gebet zur »Jahrzeit« auf dem Grab einer Mutter fand. Doch auch darüber huschte sie leicht hinweg; ihre Seele wollte ja aus schmerzlichen Erinnerungen heraus und Worte für den gegenwärtigen Moment finden. Immer trüberen Inhalts wurde von da an das Büchlein; da betete eine Frau »für ihr krankes Kind«, auf einer andern Seite dankte sie wieder dem Schöpfer, daß er es genesen ließ. Gleich darauf hatte sie wieder Anlaß, sich an ihn zu wenden: »das Kind hatte einen schlechten Lebenswandel eingeschlagen« und die Mutter bat um Erleuchtung, um Besserung ihres Kindes.

So hatte sie das ganze Büchlein vom Anfang bis zum Ende durchblättert und nicht die kleinste Überschrift »überschluppert«; aber als sie nun an die letzte Blattseite gekommen war, bemerkte sie mit einer gewissen Verblüffung, daß sich das rechte Gebet nicht gefunden hatte. In fünfundzwanzig Jahren hatte ihr »die fromme Tochter Israels« die treuesten Dienste geleistet; es war nicht eine Lebensfrage, auf die sie ihr während dieser langen Zeit nicht eine gehörige Antwort geleistet hätte, – und jetzt schwieg auch sie? Nachime hielt das für unmöglich; mit fieberhafter Hast durchflog sie noch einmal den Inhalt des Büchleins; nirgends fand sie, »was sich eine Bäuerin zu erbeten hat, wenn zum erstenmal die Ernte nach Hause kommt.«

»Lebendiger Gott!« seufzte sie aus der Tiefe ihrer Seele, »ist das auch eine Schickung von dir, daß ich jetzt nicht einmal ein Gebet finden kann, was mir paßt? Ich will ja beten.«

Plötzlich fuhr es wie ein jähes Licht an ihren Augen vorüber; jetzt wußte sie, warum »die fromme Tochter Israels« für sie keine Antwort hatte.

»Wie ist mir?« schrie sie, »wie soll der, der dieses Buch gemacht hat, wissen, daß ich einmal existieren werde? Hat es denn damals schon Bäuerinnen gegeben? Da sieht man erst recht, was sie aus mir gemacht haben . . . Nicht einmal ein ganz kurzes Gebet ist ihm für mich eingefallen. Wie hätt' er auch daran denken sollen? Es hat ja keine Bäuerinnen gegeben, und ich – ich, Nachime Hahn, muß eine sein!« Erbittert warf sie das Buch weit weg von sich, und hob es dann wieder erschrocken auf.

»Du kannst ja nicht dafür,« sagte sie, wie zur Entschuldigung der beleidigten »frommen Tochter Israels«, indem sie einen sühnenden Kuß darauf drückte, »daß ich für meinen Zustand in dir nichts finde! Für eine Bäuerin gibt es kein Gebet, darauf hat das Buch ganz vergessen.«

Nachime betete also nicht; ihre Seele schwankte zu sehr unter der Wucht der verschiedenartigsten Stürme, denen sich ihr Sinnen und Trachten an diesem merkwürdigen Morgen willenlos hingab. Die Folgen dieser Selbstmarter stellten sich auch bald heraus. Nachime fühlte sich plötzlich matt zum Sterben. Sie mußte sich niedersetzen; vor den Augen hing es ihr wie ein grauer Schleier, nur ihr Herz pochte und schlug; es war das einzige, was noch Leben in ihr zu haben schien. Da glaubte sie wirklich zu sterben, und ein Gefühl süßer Zufriedenheit überkam sie, wie es aus solcher Seelenmattigkeit sich gewöhnlich zu erzeugen pflegt.

»Wenn mich jetzt Gott zu sich abberufen möcht',« sprach es in ihr, »so wär' es doch das Beste, was mir geschehen könnt'. Was soll ich noch auf der Welt? Besseres wird so nicht nachkommen, und so fortzuleben, wie ich lebe, steht ja gar nicht für die Mühe. Meinen Leuten mach' ich so nichts als Herzleid und Kummer; sie werden noch Gott danken, daß er mir den Gefallen getan und mich zu sich genommen hat. Der Tod wär' mir das Beste.«

Der Gedanke an das Ende ihrer Tage hatte für sie seine Schrecken verloren in diesem Augenblicke; sie schloß auch die Augen, als ginge es wirklich zum Sterben. Allmählich sänftigte sich der Strom des Blutes, der ihr noch immer wild und unbändig durch die Adern schoß; die mächtigen Gewalten, unter denen sie vorher erbebt, wie ein schwaches Rohr im Winde, hatten sich in unnahbare Tiefen begeben; sie schlief. Ohne Traum, ruhig atmend, lag sie auf dem Stuhle. Wie lange sie so geschlummert, wußte sie selbst nicht, aber plötzlich wachte sie auf und sah Tille lächelnd vor sich stehen.

»Bist müd', Mutter?« fragte das Kind. »Warum schläfst du denn nicht weiter? Ich will gleich fortgehen.«

»Hab' ich denn geschlafen?« rief Nachime erschrocken, indem sie rasch vom Stuhle aufsprang. »Du wirst mich schön auslachen, Tille,« setzte sie hinzu, »wieso ich grad' heute, am hellen lichten Tag hab' schlafen können, und es gibt doch heute so viel zu tun!«

»Warum nicht?« sagte Tille, »du warst müd' und da sind dir die Augen zugefallen.«

»Bist du bei Sinnen, Tille,« rief dagegen Nachime zürnend. »Heut' willst du, daß ich schlafen soll? Für so viel Leut' ist zu kochen und zu sorgen . . . Wie Wölfe werden sie kommen, die ein paar Tage gefastet haben, und ich soll faul sein und mir wohl tun? Ich weiß gar nicht, wie du darauf verfällst. Ich sollt' schon am Feuer stehen . . .«

»Dafür hab' keine Sorge, Mutter,« sagte lachend das Kind, »es sind ja kaum die Kühe ausgetrieben worden.«

Wunderbares Spiel der Seele! Nachime hatte alle Müdigkeit vergessen. Ihre Augen blickten hell und leuchteten in einem eigentümlichen Glanze. Am prasselnden Feuer, angeleuchtet von der freundlichen Glut, geschäftig hin und her wandelnd. wer hätte in dieser Nachime dieselbe erkannt, die vorhin zu sterben vermeinte? Tille half ihr getreulich, trug zu und ab, und man sah es dem Kinde an, mit welcher Freudigkeit es die Mutter unterstützte. Nachimes ganze Seele, all ihr Sinnen und Trachten schien jetzt beim »Kochen« zu sein; sie schien keine andere Sorge zu kennen als daß das Fleisch gar werde, die Suppe nicht anbrenne, und das Schmalz nicht in die Flamme gerate.

So war der halbe Vormittag Nachime vergangen, sie wußte nicht wie? Mitten in ihrer Geschäftigkeit hatte sie nur wenig an die draußen auf dem Felde arbeitenden gedacht. Zum ersten Male seit langen Wochen befand sie sich in jenem Zustande von Gedankenlosigkeit, die zuweilen das Anzeichen einer innerlichen Glückseligkeit ist . . .

Es mochte nicht weit zu Mittag sein, als Tille mit einem Male in die Küche mit den Worten stürzte: »Sie kommen, sie kommen, Mutter! Gleich werden sie dasein!«

»Wer, wer?« rief Nachime.

»Der Wagen, das Feld, ich will sagen das Getreide,« rief das Mädchen in atemloser Verwirrung, »und oben auf dem Wagen sitzt Anschel und kutschiert.«

Kaum hatte sie das gesagt, als sie schon wieder zur Küche hinauseilte. Nachimes Wesen erzitterte unter dieser Nachricht! Dieselbe Mattigkeit, die sie am frühen Morgen überfallen, kam wieder über sie; sie war dem Umsinken nahe. Wovor erschrak sie? Diesmal war sie jedoch stärker als diese ermattende Gewalt. Ohne daß sie es wollte, hatte sie die Kraft errungen, sie zu überwinden. Sie hörte lustiges Peitschengeknall . . . zögernd ging sie aus der Küche und kam, wenn auch mit wankenden Füßen, über den Hof an das Tor, von wo sie in die Gasse des Dorfes blicken konnte.

Da kam der mit Garben hochauf beladene Wagen, von zwei Pferden gezogen, die nur langsam mit der goldenen Last einhertrabten, die Gasse herauf. Oben, bis an den Hals in den Halmhaufen verborgen, saß wirklich ein menschliches Wesen, nur etwas. das einem mit einem Hut bedeckten Kopfe glich, war sichtbar. Sollte das wirklich Anschel sein? Der saß, um des lebendigen Gottes willen, auf so gefährlicher Stelle? Im ersten Augenblicke zweifelte Nachime; aber je näher der Wagen kam, desto begreiflicher war es ihrem Auge, daß derjenige, den sie auf so schwindelnder Höhe sah, dennoch ihr Kind, ihr eigener Anschel sei. Fast schwanden ihr die Sinne; sie konnte den Anblick nicht ertragen. Dennoch blieben ihr die Augen weit offen, wie von einer unsichtbaren Kraft weit aufgetan, daß sie nach dem Wagen sehen mußte. Pferde und Garben schwammen zu einem grauen Nichts zusammen; aber den Kopf auf der Höhe sah sie deutlich; es war wirklich Anschel.

Auch der »Kopf« mußte sie bemerkt haben, denn mit einem Male zogen die Pferde rascher an, und setzten sich auf einen Zuruf, der aus den Lüften zu kommen schien, in schnellern Trabe. Dadurch meinte Nachime, der Wagen käme auf sie zugeflogen, und sie erschrak noch mehr. Solche Tollkühnheit von ihrem eigenen Kinde hätte sie nie erwartet . . . Sie drückte sich an den offenen Torflügel an; sie hätte von diesem Platze nicht weichen können!

Doch kam erst jetzt ein in der Tat gefährlicher Augenblick. Um in den Hof einzufahren, mußte der Wagen in eine Wendung gelenkt werden. Der Roßführer mußte eine stark regierende Faust besitzen, um dieses Wagestück zu bestehen, oft hatte sie bemerkt, wie selbst Wojtech mit kleineren Lasten vorsichtig in das Tor gefahren kam, wie stramm er die Zügel anhielt, um ungefährdet sein Gespann über den gefährlichen Weg zu bringen. Jetzt war Anschel daran! . . . nur ein einziger Zug am Leitseil genügte, und die schauerliche Tat war entweder gelungen, oder er lag, herabgeschleudert von der Höhe des Wagens, zerschmettert auf der Erde! Sie hatte die Augen schließen müssen.

In demselben Moment rief es:

»Mutter, geh vom Tor weg, ich bitte dich.«

Sie hatte Anschels Stimme erkannt, trotz der Ohnmacht, die sie anwandelte. Das weckte sie auch gewaltsam wieder zum Bewußtsein. Sie war vom Tore hinweggesprungen, sie hätte nicht sagen können, ob die Füße sie getragen, oder luftige Geister sie von dieser Stelle fortgerückt hatten. Sie blickte wieder auf . . . da kam das hochaufgelastete Gespann knarrend durch das Tor, daß die Garben wie Wasserwogen rauschend dahinschossen. Jetzt hielt der Wagen mitten im Hofe.

»Nun, Mutter,« rief die Stimme in der Höhe, »jetzt können wir Gott danken; es geht alles gut und vom ›Aufessen‹ kann gar keine Rede mehr sein.«

Nachime atmete erst jetzt auf; es lag eine wahre Totenblässe auf ihrem Antlitze.

»Du hast mich aber erschreckt, Anschel . . .« sagte sie nach einer Weile, »ich werde mein Lebtag daran denken müssen.«

»Warum? warum, Mutter?« rief verwundert die Stimme in der Höhe.

»Lebendiger Gott! du kannst noch fragen,« sprach Nachime mit Anstrengung. »Wer hat dich geheißen, da oben auf der Spitze zu sitzen, wie auf einem Turm? Hätt'st du das nicht einem andern überlassen können und wärst lieber zur Seite des Wagens gegangen?«

»Das geht nicht, Mutter . . ,« rief Anschel mitten aus seinem Versteck heraus, »das geht nicht. Da wär' ich ein schöner Bauer, wenn ich nicht einmal das könnte . . .? Und dann hab' ich ja mein Probestück ablegen müssen!«

»Dein Probestück?« klang es schneidend von Nachimes Lippen zurück.

»Weißt du das nicht, Mutter,« rief Anschel aus seiner Höhe, »daß jeder neue Bauer ein Probestück geben muß? Es soll einer aus unserer ›Gasse‹ jetzt kommen, und soll mir das nachmachen, mit einem vollgeladenen Wagen durch ein enges Tor zu fahren, daß auch nicht ein Federl herunterfällt! Meinst du, das ist eine so leichte Kunst?«

»Ich hab's ja gesehen, daß sie nicht so leicht ist,« sagte Nachime mit an Hohn streifendem Tone, »und an deine Mutter hast du gar nicht gedacht!«

Anschel mochte es diesem Tone angehört haben, wie schmerzlich die Mutter bewegt war.

»Was wär ich für ein Bauer,« rief er, indem er sich in der Strohlast aufzurichten versuchte, um sich ihr vernehmbarer zu machen, »wie hätten sie mich ausgelacht und ausgespottet, wenn ich's nicht zustand' gebracht hätte. Sieh her, Mutter! Das erste Korn bringen wir heim, auf dem eigenen Feld ist es gewachsen, und da hätt' ich mir nehmen lassen sollen, die erste Fuhr' in unsere Scheuer zu schaffen? Ich hab' mich so lange darauf gefreut.«

»So komm doch nur einmal herunter.« sagte Nachime nach einer Weile, »ich bekomme dich ja gar nicht zu sehen da droben auf dem Turm.«

Das klang zwischen Besänftigung und Zorn.

»Ich kann ja noch nicht, Mutter,« rief Anschel lustig »ich muß ja das erst herunterwerfen.«

So sprechend, ergriff Anschel mit kräftigen Händen zwei der mächtigsten Garbenbünde und schleuderte sie im kühnen Schwunge weit von sich, daß sie gerade vor der Scheuer niederfielen.

»Da sieh her, Mutter,« rief er dazwischen, indem nun Garbe auf Garbe rauschend niederfiel, »da sieh dir das Korn an und frag dich dann, ob du jemals etwas Schöneres gesehen hast. Sie sagen auch alle: unser Feld muß etwas ganz Besonderes haben, weil es gar so gut gediehen ist. Das Korn ist so glatt und steckt in den Hülsen, man kann's unbeschrien kaum zählen. Der Vater ist herzfreudig und geht wie ein Kaiser unter den Schnittern herum; du solltest ihn sehen, Mutter, wie er befiehlt und angibt und wie sie Respekt haben alle vor ihm. Er hat ihnen Bier und Essen aus dem Wirtshause holen lassen, und du solltest jetzt hören, wie sie von uns Juden sprechen.«

»Weiß er denn schon, ob's so viel ertragen wird?« unterbrach ihn Nachime.

»Das sieht jetzt schon ein Kind ein,« gab Anschel zur Antwort. »Was hättest du gesagt, Mutter, wenn wir dir zum Beispiel das Mutterkorn ins Haus gebracht hätten.«

»Was ist das?« fragte Nachime, der das Wort noch nie zu Ohren gekommen war.

»Das ist etwas Schreckliches, Mutter,« entgegnete Anschel unter seiner Arbeit, »der Bauer, dem es auf seinem Feld zustößt, vergißt es in seinem ganzen Leben nicht. Das sind schwarze giftige Punkte, die sich ins Korn hineingefressen haben. Aber Gift muß es sein, wie von der Schlange, wenn sie einen beißt. Denn Wojtech hat mir erzählt, daß schon Menschen gestorben sind, die von solchem Brot gegessen haben.«

»So etwas ist's?« meinte Nachime schaudernd. »Und das hätt' auch an unserem Feld uns zustoßen können?«

»Das kommt wie eine Krankheit,« sagte Anschel. »Heut' ist das Feld frisch und gesund wie ein Mensch, und kommst du am andern Morgen in der Früh hinaus, so ist es todkrank, und dafür ist kein Arzt. Man kann dem Feld keine Medizin verschreiben.«

Nachime schwieg zu diesen Erklärungen; Anschel ahnte nicht, welches Unrecht, ja welche Unklugheit er beging, gerade jetzt diese landwirtschaftliche Vorlesung zu halten.

»Und weißt du noch was, Mutter?« fuhr er unaufhaltsam fort. »Ein alter Bauer, der alte Wazlaw Smetana, auf den sie alle viel geben, hat prophezeit, daß das nächste Jahr kein gutes sein wird, und das, meint er, ist für den Bauer, der sein Getreide nicht zu verkaufen braucht, weil er Geld nötig hat, gerade das beste. Der Vater hat schon gesagt, er will kein einziges Korn verkaufen; er will die Zeit abwarten.«

»Er will nicht verkaufen?« wiederholte Nachime unwillkürlich. »Warten will er? Auf was denn?«

»Ja, Mutter,« sagte Anschel, »er will abwarten, dann schlägt er los.«

»Wovon werden wir denn das ganze Jahr leben?« fragte Nachime, der der Kopf zu schwindeln begann; sie übersah nicht sogleich diesen auf Jahresfrist in Aussicht gestellten Gewinn.

»Von dem da, Mutter,« rief Anschel, indem er auf die Garben wies. »Meinst du denn, wir werden das alles aufessen? Dazu gehören gar viele Esser!«

Jetzt war Anschel mit seiner Arbeit fertig. Die ganze Getreidelast lag vor der Scheuer auf dem Boden. Hoch aufgerichtet stand der stämmige Jüngling in seiner vollen gedrungenen Gestalt vor den Augen der Mutter. Er war von der Arbeit tief gerötet; die sehnigen Arme waren weit bis über die Ellenbogen hinauf sichtbar. Dieser Anblick jugendlicher Kraft schrieb dem Gedankenstrome Nachimes, der sich um diesen Augenblick zu trüben begonnen hatte, sogleich einen andern Weg vor:

»Du bist doch ein rechter Bauer geworden, Anschel,« sagte sie in einem Tone, aus dem nicht der leiseste Vorwurf klang.

»Wenn du das sagst, Mutter,« rief Anschel, »so möcht' ich's gerne glauben.«

»Willst du dich denn nicht ausruhen?« sagte sie nach einer Weile, »du wirst dich ja vor Müdigkeit gar nicht rühren können.«

»Traust du mir,« meinte Anschel ganz verwundert, »so wenig Kraft zu, daß mich das ›bissele‹ Arbeit umbringen sollte? Heut' ist ein umgekehrter Jom Kippur! . . . statt zu fasten und in Schul' sitzen, muß man arbeiten und auf dem Feld stehen. Vor Abend siehst du mich nicht, und morgen und übermorgen ist das nämliche Spiel.«

Damit faßte er die Zügel fester in die Hand.

»Jetzt, Mutter . . .« sagte er, »sei so gut und geh wieder auf die Seite. Ich muß umlenken.«

»Um Gottes willen, gib acht!« rief Nachime mit neuem Entsetzen.

»Hab keine Sorge, Mutter,« tröstete Anschel, »die Pferde kennen mich.«

Nachime folgte der Weisung des Sohnes und ging einige Schritte seitwärts. Aber Anschel schien mit einem Male zu zögern, hatte an den Leitseilen zu tun, worüber eine geraume Weile verging.

»Nun, warum fährst du nicht?« rief Nachime ängstlich, »traust du dich nicht?«

»Hab' ich gar nichts auszurichten, Mutter, an gar niemanden?« fragte Anschel, indem er die Mutter treuherzig ansah.

Nachime mußte die Frage ihres Kindes wohl verstanden haben. Mit gesenkten Blicken und jener feinen durchsichtigen Röte auf dem Antlitze sagte sie schnell:

»Rat ihm, er soll nichts trinken, wenn er erhitzt ist, und er soll sich nicht überarbeiten, es könnt' ihm sonst schaden.«

»Soll ich ihm das von mir ausrichten?« fragte Anschel leise, doch so, daß jeder Ton vernehmlich das Ohr Nachimes traf.

»Ist denn das . . . für deinen Vater nicht einerlei, ob es von mir kommt oder dir?« meinte Nachime noch immer mit gesenkten Augen.

»Ich richt' ihm's also von dir aus, Mutter,« rief Muschel laut und jubelvoll.

Hatte Nachime das Haupt wie zur Bejahung geneigt? Ehe sie es sich versah, hatte Anschel die kühne Wagenwendung ausgeführt; ihrer Last entledigt, schossen die feurigen Pferde an ihr vorüber und zum Tor hinaus. Sie blieb wie angewurzelt stehen und horchte auf. Das Gerassel des Wagens verkündete ihr, daß Anschel auch das zweite Wagstück, die Biegung in die Gasse, glücklich überstanden. Langsamen Schrittes ging sie dann in die Küche zurück.


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