Leopold Kompert
Am Pflug
Leopold Kompert

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14. Blumen des Feldes.

Glück und Unglück haben das miteinander gemein, daß, wie es im Sprichwort heißt: die Zeit für sie nicht besteht. Wie Wind und Welle, sagt man ferner, eilen sie dahin. Unhörbar, fast geräuschlos, gleiten sie, huschen sie vorüber. Nur fragt das eine, wenn es mit glänzendem Antlitz und lächelnden Lippen einmal erwacht: »Schon?« das andere kummervoll »Noch?«

Tage und Wochen waren so vergangen; ihr Nahen und Gehen ward nicht bemerkt; nur als Elieh zum ersten Male wieder ins Freie trat, wußten sie, daß er volle vier Wochen die Frühlingsluft nicht gekostet.

Denn indessen hatte sich draußen in der Natur alles wunderbar verändert; in den Furchen, die Anschel selbst gezogen, war das hineingestreute Leben kräftig erwacht; es wogte und rauschte in den grünen Wellen des Feldes; Sonnenlicht glitzerte darauf. Aber nur einer Seele war dieses Wachstum der Gottesgabe bemerklich, nur sie allein nahm Anteil daran. Anschel fand es beinahe unbegreiflich, wie das alles so keimen konnte. Er sollte da mitgearbeitet, sollte seinen Teil daran haben, was jetzt so lustig emporschlug? Er hatte die Erde auch grünen gemacht, und der Halm war aus dem Korne geworden, das er geworfen? Wenn er bedachte, was er vor einem Jahre gewesen, wie er da auf Märkten herumgezogen, mit unwilliger Seele, mit widerstrebender Hand den Kunden die Waren zugemessen, und nun, wie er etwas so ganz anderes geworden, dann meinte er, es sei ein Wunder geschehen. Des Vaters Gedanke müsse doch von »oben« gekommen sein, rief es dann in ihm, wie könnte sonst alles so prächtig grünen und blühen? Sei das nicht ein Zeichen sichtbarer Huld? Nur einmal sollten die Leute aus der »Kille« zu ihnen kommen, um anzusehen, wie sich bei ihnen alles geändert. »Nicht erkennen werden sie uns mehr,« antwortete er sich selbst, »so hat sich alles bei uns geändert.«

Was aber Nachime dazu gesagt hätte, wenn plötzlich Zeugen ihres Leids gekommen wären, und gerade diejenigen, deren Anblick sie am meisten fürchtete, deren bloßes Nennen sie erschreckte, das bedachte Anschel nicht. Wie jeder Glückliche war er eigennützig geworden; er dachte nur an sich.

»Hättst du das in deinem Leben gedacht,« sagte er eines Tages zu seinem Vater, »daß so etwas von uns kommen kann? Wenn mir einer aus der »Kille« vor einem Jahre gesagt hätte: Rebb Schlome, du und deine Familie, ihr werdet in einem Jahre von dem Korn essen, was ihr selbst angebaut habt, hätten wir ihn nicht ausgelacht? Und jetzt ist es doch eingetroffen.«

»Essen wir's denn schon?« meinte Rebb Schlome.

»Wir werden aber,« sagte Anschel mit dem Tone innerster Überzeugung.

»Narrele,« sagte Rebb Schlome, während eine Art höhnischen Lächelns über seine Züge fuhr, »meinst du, wir werden von dem Korne essen, wenn deine Mutter nicht will, oder es kann einem ein Bissen schmecken, wenn sie nicht auch mitißt? Und zu dem wirst du sie nicht bringen, ich kenne sie jetzt. Sie hat einen Willen bekommen, der ist stärker als Eisen und Stahl. Will sie doch schon, daß Elieh in die ›Kille‹ zurückgeht! Wie lange wird's dauern, so geht sie ihm nach. Bleib du dann allein auf dem Dorf!«

»Um Gottes willen,« rief Anschel erschrocken, »du wirst doch nicht wieder verkaufen wollen?«

»Hältst du deinen Vater für so einen Maulmacher,« sagte Rebb Schlome, indem er sich groß und stark, wie er war, vor seinem Sohne aufrichtete, »für so einen, der heute das und morgen jenes tut? Bloß damit die Leut' etwas von ihm zu reden haben? Da kennst du mich wenig, und deine Mutter, die kennt mich auch nicht. Und wenn ich den Bettelstab vor meinen Augen seh', so geh' ich auch nicht vom Dorf fort.«

Diese kräftige Versicherung des Vaters erfüllte Anschels Gemüt mit Freude und zugleich mit Schmerz. Gut gearteten Kindern schneidet ein solches Vertrauen, wenn Vater oder Mutter gegenseitig sich an ihr eigenes Blut wenden, um sich anzuklagen, tief durch die Seele. Sollen sie, die eigenen Kinder, Schiedsrichter sein?

»Wirst du nicht böse sein, Vater . . .,« sagte er schüchtern nach einer Weile, »wenn ich dich um etwas frage?«

»Red!« meinte Rebb Schlome barsch.

»Warum hast du die Mutter nicht gefragt, ehe du die Felder kauftest? Es wäre vielleicht dann ganz anders gekommen,« sagte Anschel, furchtsam den Blick auf den Vater richtend.

»Weil das niemals meine Gewohnheit ist,« entgegnete Rebb Schlome kurz; »ich bin, Gottlob, kein Kind, und wenn ich Rat brauche, so frag' ich mich selbst.«

Nach einer solchen Antwort stockte Anschel in seiner Rede; er empfand deutlich, es komme ihm nicht zu, dem Vater Vorwürfe über diesen Punkt zu machen. Nach einer Weile meinte er jedoch:

»Möcht's einer glauben, daß die Mutter noch gar nicht unsere Felder gesehen hat? Vielleicht, wenn sie sehen möchte, wie schön alles darauf steht, und daß es ihr gehört, meinst du nicht, sie käm' auf andere Gedanken? Sie weiß ja gar nicht, was sie alles hat, und kränkt und zehrt sich ab.«

»Ich red' ihr nicht zu,« sagte Rebb Schlome bestimmt.

»Wer sollt's denn tun,« fragte Anschel, »als du? Von dir wird sie es am besten aufnehmen.«

»Nicht um alles in der Welt red' ich ihr zu,« rief Rebb Schlome mit Kraft; »meinst du, ich bin ein Stück Holz, dem nichts weh tut? Damit sie wieder anfängt und mit ihrem Klagen und Weinen mir das Herz abstößt? Meinst du, das tut mir nicht weh, und besonders, weil ich ihr nicht helfen kann?«

Mehr als je fühlte Anschel in diesem Augenblicke, wie weit Vater und Mutter, wie weit er selbst von seiner eigenen Mutter stand. Sie einzuladen, daß sie auf ihr Hab' und Gut einen Blick werfe, dazu fehlte dem Vater die Demut, ihm aber der Mut. Anschel wußte, daß es ein Wagnis seinerseits sei, vor die Mutter mit dieser Bitte hinzutreten; im voraus glaubte er sie abgeschlagen. Dennoch faßte er den Vorsatz, die Mutter zu dem Gang aufs Feld zu bereden; mit schwerem Herzen entschloß er sich dazu.

Anschel schlich an diesem Tage um die Mutter herum; niemals aber fand er den geeigneten Augenblick. Öfters stand er ihr gegenüber von Angesicht zu Angesicht, aber wenn das Wort hinausdrängte, hielt es eine gewaltige Kraft ungesprochen zurück. Nachime merkte wohl eine Absicht ihres Sohnes. aber sie wollte ihm nicht entgegenkommen; sei es aus Groll, sei es, weil sie in die bittere Stimmung sich bereits so sehr verwirrt hatte, daß es ihr schwer fiel, sich auch nur auf einen Augenblick davon zu befreien.

Trotzdem war Nachime an diesem Tage viel heiterer im Gemüte als sonst; denn Elieh hatte zum ersten Male die Kammer verlassen und saß draußen im Garten unter den Bäumen, von den Strahlen der Sonne angeschienen. Still, wie sie in ihren besten Tagen im Hause gewaltet, war sie heute; durch den Groll der überstandenen Leiden war wieder der milde Ausdruck ihres Antlitzes gebrochen.

So war es Abend geworden, und Anschel wußte noch immer nicht, wie er die Einladung an die Mutter anbringen sollte. Mehrmals war er sogar im Begriffe, die Sache ganz fahren zu lassen. »Sie wird ja so nicht wollen!« raunte ihm der böse Geist der Mutlosigkeit zu, »und weißt du schon, ob sie dann nicht noch erzürnter auf dich wird? Man darf ja vom Felde gar nicht anfangen zu reden, das bringt sie gleich auf und macht ihr Ärger.«

Solche Gedanken blieben aber nicht lange in Anschels Seele haften. Anschel besaß ein weiches Gemüt, und sein Mitleid mit dem Zustande der Mutter trug den Sieg davon. Und eben, als er im Begriffe war, aus seiner Mutlosigkeit heraus und an die Mutter heranzutreten, kam ihm ein glücklicher Umstand zu Hilfe.

Nachime hatte sich unter das Hoftor gestellt und schaute, wie es ihre Gewohnheit war, die Gasse des Dorfes entlang. Weiter war sie noch nicht gekommen, seitdem sie die heimatliche Gemeinde verlassen. War es eine Art Sehnsucht, die sie stets unter das Tor trieb? Sah sie ihrem Manne entgegen? Plötzlich hörte Anschel, der ihr nachgeschlichen war, wie sie mit dem Tone der größten Verwunderung halblaut die Worte vor sich rief:

»Gott, wie schön ist das Kind!«

Anschel fragte rasch:

»Wen meinst du, Mutter?«

»Sieh dir nur unsere Tille an,« sagte sie mit leuchtenden Blicken und zeigte mit der Hand, »sieh dir sie an! Hast du einmal schon etwas Schöneres gesehen?«

Anschel sah hin. Kaum zwanzig Schritte von ihnen stand Tille in einem gar merkwürdigen Aufputz. Sie hatte ihr schwarzes Haar durchaus mit blauen Korn- und roten Mohnblumen geschmückt, daß fast kein Raum mehr verblieben war für die Haarflechten. Zudem fiel gerade die ganze Strahlenpracht der untergehenden Sonne über das Kind, und alles glänzte und leuchtete an ihm. Den Kopf mußte sie wegen des Blumenschmuckes hoch aufgerichtet tragen, so daß sie Anschel und der Mutter für größer vorkam.

»Du hast recht, Mutter,« sagte Anschel, der sich an dem Anblicke des Kindes fast nicht satt sehen konnte; »es kann gar nichts Schöneres in der Welt geben.«

Indes war Tille näher gekommen, und nun sahen sie erst, daß das Kind noch tausendmal schöner sei, als es ihnen aus der Ferne geschienen. Es war ihnen in seinem wundersamen Aufputz eine Erscheinung, deren Fremdartigkeit sie gar nicht begriffen.

»Wer hat dich denn so hergestellt, du närrisch Kind?« rief Nachime mit jenem liebevollen Tone des Vorwurfs, der Müttern eigen ist, wenn ihnen das Herz vor Freude zittert, der Mund aber eine Rüge aussprechen will.

»Warum?« fragte Tille mit mutwillig aufgeworfenen Lippen. »Seh' ich vielleicht nicht schön aus?«

»Närrisch Kind,« sagte Nachime mit einem Lächeln, das siegreich und milde durch all den erkünstelten Groll ihr auf die Lippen trat, »denk, wenn jetzt einer von ›zu Haus‹ käm' und er möcht' dich so sehen, was könnt' er sich denken?«

»Bin ich denn nicht zu Haus?« meinte das Kind mit einer Art Staunen.

»Ich meine auf der ›Kille‹,« verbesserte sich Nachime rasch; dann setzte sie hinzu: »Wer hat dich aber so herausgeputzt?«

»Des Richters Tochter,« sagte das Kind unbefangen.

»Die?« meinte Nachime in einem Tone, der Anschel erbeben machte. »Wen kennst du denn nicht alles schon im Dorf?«

»Jeden,« sagte das Kind mit großem Ernst, »aber sie besonders.«

»Du läufst auch genug herum,« sagte Nachime wieder unlustig, aber nicht erzürnt genug, um das Lächeln ihrer noch immer in das Ansehen der Kindesschönheit versenkten Mutterfreude zu verbannen, »wär's denn ein Wunder, wenn du zuletzt so eine Bauermagd wirst, mit der man sich schämt, vor der Welt zu erscheinen.«

»Schämen?« sagte das Kind und hielt die schwarzen Augen weit offen, »warum schämen? Schämt sich des Richters Tochter?«

»Die ist drin geboren,« meinte Nachime ernst, »die braucht sich nicht zu schämen. Sie war ja früher nicht etwas anderes, und ihr Vater und ihr Großvater und ihr Urgroßvater sind niemals etwas anderes gewesen, als Bauern. Aber wir?«

Nachime hielt inne.

»Ich schäm' mich doch nicht, Mutter . . .,« rief Tille lustig, indem sie den blumengeschmückten Kopf schalkhaft zur Seite neigte, »und wenn der Herr Lehrer Arnsteiner mit dem großen Stecken tausendmal aus der ›Kille‹ kommt. Ich schäm' mich doch nicht.«

»Geh, geh,« sagte Nachime mit Mühe ernst bleibend, »wenn man dich so reden hört, meint man nicht anders, als ob deine Eltern niemals etwas anderes gemacht haben, als Erdäpfel ausgraben und Kühe melken. Du bleibst immer die leichtsinnige Tille, die du immer warst.«

Auf Tille schienen diese ernsten Worte der Mutter nur einen flüchtigen Eindruck hervorgebracht zu haben. Erst blickte sich das Kind forschend um, dann ging es rasch, hochaufgerichteten Hauptes in das Haus hinein. Nachime sah ihr nach; das auf einen Augenblick verschwundene Lächeln kehrte schnell auf ihre Lippen zurück und blüht nun, weil es sich ungesehen glaubte, um so wundersamer auf. Anschel verlor es nicht aus den Augen; unverwandt hing er an den Lippen der Mutter.

»Wie schön sie war!« sprach sie halblaut vor sich hin und sah noch lange in das Haus zurück, als wollte sie sich noch immer an der Spur der entschwundenen Kindesschönheit erquicken. Dann wandte sie sich ab. Jetzt, glaubte Anschel, sei der günstige Augenblick gekommen, mit der Mutter zu sprechen; solch ein Lächeln hatte er nicht gesehen, solche Worte nicht vernommen, seitdem sie die alte Heimat verlassen. Diese Stimmung wollte er benutzen.

Was Anschel aus banger Scheu schon lange nicht gewagt, das wagte er jetzt; er berührte mit der Hand den Arm der Mutter, doch so leise und zaghaft, daß Nachime, die dem entschwundenen Kinde aufs neue nachschaute, nichts davon bemerkte. Sie wandte sich endlich um, über das ganze Antlitz ein einziges, glückliches Lächeln, gleich dem Sonnenschein im Frühlinge.

»Was willst du, mein Kind?« sagte sie.

»Mutter, wie schön war das Kind!« rief jetzt Anschel in tiefster Begeisterung. Mehr vermochte er für den Augenblick nicht hervorzubringen; er rang offenbar nach einem Anfange.

»Still, still,« meinte Nachime, indem sie den Finger an den Mund legte und sich dann wieder umwandte, »red nicht so hoch, sie könnt's hören und eitel werden.«

»Und du meinst, Mutter,« rief Anschel laut, trotz der Mahnung, »man müßt' sich schämen, wenn Leut' aus der ›Kille‹ kämen und das Kind erblickten? Sie sollen sich doch umsehen, die Leut' in der ›Gasse‹, ob sie in ihrem ganzen Leben etwas Schöneres gesehen haben, als wie unsere Tille ist. Aufreißen möchten sie die Augen und sich das Herz abessen vor Neid. Und du wirfst dem Kinde vor, es sollt' sich schämen?«

»Still, still!« sagte Nachime noch einmal, aber ihre Augen leuchteten dabei in einem Glanze, der höher sprach, als all das, was sie verschwiegen haben wollte. »Meinst du denn, ich seh's nicht ein? ich hab' keine Augen? Nur möcht' ich nicht, daß das Kind es hört. Du weißt, sie ist gescheit, und wozu führt es, wenn sie auch noch eitel wird?«

»Die wird nicht eitel,« meinte Anschel mit Bestimmtheit.

»Weißt du das so gewiß?« fragte Nachime, verwundert den Sohn ansehend.

»Warst du eitel, Mutter . . .?« rief Anschel tiefbewegt »und ist sie nicht deine Tochter? Ob sie nun unter den Bauern ist, und mit Bauern lebt, oder ob sie in der ›Gasse‹ erzogen wird, kommt das zuletzt nicht auf eins heraus? Die wird nicht verdorben werden, dafür möcht' ich einstehen mit meinem Blut und Leben, sie nicht. So ein paar Kornblümchen, die sie draußen auf dem Feld gefunden hat, sollten sie eitel machen? sollten sie verderben? Das kannst du, Mutter, unmöglich glauben, und wenn du es glaubst, so – verzeih mir – hast du nicht recht.«

Die letzten Worte hatte Anschel mit jener Zurückhaltung in Stimme und Gebärde gesagt, die der Mutter bedeuten sollten, er habe nicht die leiseste Absicht, ihr weh zu tun. Nachime mochte das auch empfinden; mit einem unbeschreiblich frohen Ausdrucke im Antlitz blickte sie den Sohn an, der schon lange nicht so vor ihr gestanden war.

»Nimm's nicht so ernst,« sagte sie milde lächelnd, »ich hab's ja auch nicht so ernst gemeint. Ich denk' selbst, wenn Gott mir das Leben läßt, so soll aus Tille etwas werden. Wenigstens soll sie euch keine Schande machen.«

Kaum hatte sie das gesagt, als sie sich wie erschrocken mit der Hand über das Gesicht fuhr:

»Lebendiger Gott,« schrie sie fast, »ich red' da von langem Leben? Weiß ich das schon so bestimmt? Weiß ich denn, ob ich leben möcht'?«

»Du nicht leben, Mutter,« rief Anschel mit rührend klingendem Vorwurf, »wer denn von uns sollte leben? Sag selbst, Mutter, heißt das sich nicht versündigen an Gott, wenn man sich früher freut, lacht und guten Mutes ist, und dann tut, als wär' man gottverlassen, ganz allein auf der weiten Erde, und hätt' nichts anders zu tun, als sich in die Grube zu legen?«

»Über was hab' ich mich denn gefreut, über was hab' ich gelacht?« fragte Nachime mit zerstreut blickenden Augen, und sah den Sohn an.

»Über dein Kind hast du dich gefreut, über unsere Tille,« entgegnete Anschel, dem diese Zerstreutheit der Mutter tief durch die Seele schnitt. Wie stark mochte das Leid an diesem armen Weibe genagt und gezehrt haben, wenn sie selbst der Freude vergaß, die sie einen Augenblick vorher genossen.

»Und warum hab' ich mich über Tille gefreut?« meinte Nachime, die, offenbar von einem andern Gedankenstrom erfaßt, durch Anschels Aufklärung noch mehr verwirrt ward.

Anschel selbst ward durch diese Zerstreutheit der Mutter so betroffen, daß er im ersten Augenblicke nichts zu entgegnen wußte. Stockend sagte er:

»Ich weiß jetzt selbst nicht mehr, Mutter; aber daß du dich gefreut hast, darauf kann ich dir schwören. Jetzt weiß ich's,« rief er gleich darauf, »es wird über Tilles Blumen gewesen sein, die ihr so schön gestanden sind. Ja, die waren's, Mutter, du kannst dich darauf verlassen, es waren die Blumen.«

Ein unnennbar mildes Lächeln zog mit dieser Erinnerung über Nachimes Züge; Anschel sah es allmählich vor sich entstehen und wachsen, bis das ganze bleiche Gesicht der Mutter davon erstrahlte. Über ihn selbst war dadurch ein Geist und eine Kraft gekommen, wie er sie nie empfunden; es war etwas von der Weihe einer heiligen Stunde. Anschels ganzes Wesen hob und dehnte sich sichtbar in diesem Bewußtsein.

»Recht hast du, Anschel, mein Sohn!« sagte Nachime, der die ganze Besinnung wieder zurückgekehrt war, »ich glaub' selbst, es waren die Blumen. Wie schön das Kind damit ausgesehen hat! Es ist mir in diesem Augenblick vorgekommen, als gehöre Tille gar nicht zu uns, wie, als wenn sie ›etwas‹ eine Gräfin bei uns zum Aufheben gelassen hätte. Darüber bin ich vielleicht ebenso erschrocken gewesen, als wie ich mich gefreut hab'.«

»Sag selbst, Mutter,« begann nun Anschel, der die Empfindungen Nachimes in diesem Augenblicke klar durchschaute, »hättest du dich so freuen können, wie du dich jetzt gefreut hast, wenn du in der ›Gass'‹ geblieben wärest? Wo wär' es da unserer Tille eingefallen, sich eine Blume ins Haar zu stecken? Wo hätt' es ihr einfallen dürfen? Die Leut' hätten sie ja ausgelacht, sagst du selbst, denn die können das nicht leiden und meinen gleich, es schicke sich nicht. Seit ich aber selbst weiß, was das heißt, eine Blume aus der Erde wachsen zu sehen, und was alles dazu gehört, bis so ein kleines Korn sich herausgerissen hat, seitdem glaub' ich, die Leut' in der Gasse wissen gar nicht, was eine Blume ist. Was sollen sie damit anfangen? In die Haar' stecken, wie unsere Tille, dürfen die Mädchen dort nicht. Eine Blume ist ihnen also gar nichts, sie sehen nicht darauf und werfen sie weg. Und doch hast du, Mutter, gesehen, daß eine Blume zu etwas gut ist.«

Schweigend hatte Nachime zugehört, kein Blick unterbrach den Sohn, der in beredter Sprache Anschauungen offenbarte, die ihr fremd, wie ein nie gehörtes Märchen klangen. Aber die Tränen, die langsam und schwer über ihr blasses Antlitz herabflossen, bewiesen, daß es eine Art innerer Erlösung sein mochte, die ihr aus den Worten Anschels entgegentönte. Sie suchte nicht diese Tränen zu bemeistern; es schien ihr wohl zu tun, wieder einmal weinen zu können.

Anschel aber, der es wohl empfand, daß ihm in der Mutter jetzt eine ganz andere entgegenstand, als die sie sich seit langen Wochen ihm gezeigt hatte, fuhr fort; das Siegel, das Demut und Ehrfurcht vor den Eltern an seinen Mund gelegt, war gelöst; unaufhaltsam drangen die weichen, zum Herzen gehenden Worte heraus.

»Es wird dir sonderbar vorkommen, Mutter,« sagte er, »wie ich dazu komm', dir Lehren und Vorschriften zu geben. Ich weiß, du bist gescheiter als wir alle, und wenn du auch vieles in dir behältst und es nicht aussprichst, glaub' darum ja nicht, daß wir nicht bei allem, was uns betrifft, zuerst an dich denken und uns sagen: die Mutter weiß es vielleicht doch besser als wir. Aber muß es uns nicht das Herz abstoßen, muß es uns nicht weh tun, wie nur etwas in der Welt, wenn wir sehen, wie du dich allem entziehst, wie nichts imstande ist, dich aufzuwecken, daß du mit uns gehst und dich mit uns freust? Es ist ja gerade, wie wenn eine scharfe Schere ein Stück Leinwand auseinander geschnitten hätte, als möchten wir nicht mehr zusammengehören. Auf der einen Seite stehen wir mit unserm Feld, auf der andern du – ich weiß nicht, womit. Gutes ist's nicht, denn sonst könnt' ein Sohn so mit dir nicht reden, so dürft' er mit dir gar nicht reden, und du möchtest . . . nicht weinen.«

Nachimes Tränen flossen bei diesen Worten heftiger; war es die Demütigung, die sie empfand, von ihrem eigenen Kinde zurechtgewiesen zu werden, waren es Anschels Worte, ihr linder, besänftigender Inhalt? Anschel selbst konnte das in diesem Augenblicke nicht beurteilen, und da die Mutter schwieg, fuhr er fort:

»Du selbst hast jetzt gesagt, daß du an Tilles Blumen Freude gehabt hast. Wie wär's, Mutter, wenn du dir diese Freude täglich machen möchtest?«

»Wieso, wieso?« mußte Nachime mitten in ihren Tränen mit einem beinahe lächelnden Erstaunen fragen.

»Mutter . . .,« rief Anschel mit höchster Anstrengung, daß es wie der Aufschrei einer lange zurückgedrängten Anklage klang, »weißt du, daß du noch nicht einmal unser Feld – dein Feld gesehen hast? Weißt du das?«

Nachimes ganzes Wesen erzitterte unter dem Eindrucke dieser ernsten Frage; ihre Tränen hörten plötzlich auf; ihre Lippen zuckten, als wolle sie reden, aber sie vermochte keinen Laut hervorzubringen. Als Anschel dies bemerkte, durchfuhr ihn ein jäher Schreck; er meinte, die Mutter tief verletzt und das, was er nur leise hatte berühren wollen, mit zu roher Hand angefaßt zu haben. Mit zaghafter Stimme fuhr er fort:

»Sei nicht bös', Mutter, wenn ich dir das vorhalte. Aber, wenn ich dir rate, unser Feld, welches auch dein Feld ist, zu besehen, so will ich ja, daß du eine Freude davon hast. Meinst du denn, ich geh' auf deine Kränkung aus? oder irgendeiner von uns? Wie irrst du dich dann! Jeder von uns möcht' seine Hand hinlegen, möcht' sein Blut hergeben, wenn es dir gut tun sollte. Wenn du nicht aufs Feld gehst, so verbitterst du uns die Freude daran. Was haben wir davon, wenn es auch noch so schön ist? Und schön ist's draußen, Mutter, du kannst gar nicht denken, wie! Ich weiß nicht, wie mir immer wird, wenn ich frühmorgens hinaus komm', und das grüne Feld liegt da, die blauen und die roten Blumen glänzen hervor, und mitten in dem Grün da singt ein Vogel und hebt sich dann himmelwärts auf. Anschel, schreit es dann in mir, wie ist das alles so gekommen! Ich, Anschel, hab' auch ein Korn gestreut, und aus dem Korn ist der grüne Halm geworden! Vögel wohnen in meinem Feld, singen da, bauen sich da ihr Nest! Lach mich nicht aus, wenn ich dir gesteh', daß ich manchmal so einen grünen Halm zwischen die Finger nehme und mit ihm spreche, als wär' er etwas Lebendiges. Ich weiß nicht, ob das jemals anders werden wird, aber jetzt ist mir noch alles neu, alles kommt mir wie ein Wunder vor, nicht nur das grüne Feld und der Vogel, der darin wohnt, mehr noch, daß ich da bin, daß ich auch mein Teil daran hab'. Wär's denn ein Wunder, wenn so ein Halm einmal mit mir zu reden anfangen möchte?«

So hatte Anschel gesprochen, und während er sprach, war als Abglanz seiner innern Bewegung eine Glut über seine Wangen gekommen, daß Nachime nur staunend zu ihm heranblicken konnte. So mochte die arme Mutter ihr Kind noch nie gesehen haben. Ihre Tränen hatten ganz aufgehört, aber noch feucht glänzten sie, als wäre es nicht erst lange, daß sie geweint. Als Anschel nun geendigt, entstand eine tiefe, erwartungsvolle Stille zwischen Mutter und Sohn, bis endlich Nachime, unfähig, den innern Sturm länger zu beherrschen, mit bebendem Tone ausrief:

»Nun, warum hörst du zu reden auf, Anschel, mein Kind? Ich könnt' dir so zuhören ein ganz Jahr, und möcht' nicht müde werden. Warum redest du nicht weiter?«

Dabei hatte sie die Arme ausgestreckt, als wollte sie den Sohn damit umfangen. Anschel aber ergriff beide Hände der Mutter und drückte sie an Mund und Stirne und Herz; es hatte sich eine Ausgelassenheit seiner Sinne bemächtigt, die an Wahnsinn grenzte. Halb schluchzend, halb lachend rief er:

»Du selbst heißt mich also reden, Mutter . . ., du selbst? Ich kann jetzt nichts anderes sagen als: ›Komm, komm, Mutter, und sieh dir dein Feld an!‹«

Lachend durch die neu hervorbrechenden Tränen, sagte Nachime:

»Ob ich kommen werde, Anschel . . .? Morgen gleich gehen wir alle hinaus. Ich muß ja doch hören, wie so ein Feld reden kann.«

»Gott soll dich gesund erhalten!« vermochte Anschel nur zu sagen, »du bist doch immer die merkwürdigste Mutter gewesen.«

»Und du mein best' Kind!« sagte darauf Nachime, deren leuchtende Blicke an Anschel hingen.

Mehr sprachen Mutter und Sohn nicht. Elieh erschien in der Hausflur. Wie verabredet hielt Nachime den Finger an den Mund, zum Zeichen, daß Anschel schweigen solle. Der aber hätte ohnehin nichts verraten. Ihm war das Herz zu voll von dem Eindrucke dieser heiligen Stunde, und solche Herzen reden nicht gerne!


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