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Es war ein Freitagabend, als dies vorgegangen war. Wie ganz anders senkte sich heute der holde Vorbote des Sabbats auf die Bauernfamilie aus der »Gasse« nieder. Zwei Seelen gingen mit einem Geheimnisse umher, einem beglückend seligen; zwei Seelen hatten sich wieder verstanden und hielten dieses Verständnis auf der Lippe zurück. Und schon das war genug, um in den verstimmten Ton des Hauses einen Klang von Harmonie zu bringen, die daraus schon gänzlich entschwunden schien.
Vielfache Zeichen offenbarten dies. Nachime zündete heute die siebenzinkige Lampe wieder an, die, seitdem sie aus der alten Heimat hinweggezogen, unbenutzt von der Decke herabhing. Dadurch gewann die große Stube an Helle, die wieder in die Gemüter zurückstrahlte. Keiner sagte es dem andern, daß es so sei, und doch fühlte sich jeder von dem altgewohnten freundlichen Lichte bewillkommt. Selbst der vergessene Vetter Koppel, dem seit dem Raube seines »Mogen Dovid« keine Entschädigung geworden war, raunte Tille zu:
»Sind wir denn wieder in der Kille, Tilleleben?«
»Warum, Vetter?« fragte das Kind erstaunt.
»Es kommt mir etwas so vor,« meinte der alte Anhänger Absalons, indem sein irrer Blick an der Lampe haften blieb.
Zum ersten Male seit so langer Zeit hatte Nachime heute die weißen Sabbatkleider hervorgesucht; eine buntbändrige Haube umrahmte ihr blasses Antlitz und gab ihm einen Abglanz, der es in merkwürdiger Schönheit erscheinen ließ. Allen war der Anblick der sabbatlich geputzten Mutter, wie er ihnen sonst an jedem Freitagabend entgegengetreten war, ein so ungewohnter geworden, daß sie sie mit erstaunten Blicken maßen, als wäre sie eine fremde, ungekannte Erscheinung. Nur Anschel wußte, was das alles zu sagen habe, wußte, daß das Licht der Lampe Versöhnung über die Stube strahlte, wie der bunte Putz der sabbatlichen Haube Freude und Wiederaufleben bedeutete.
Am deutlichsten zeigte sich das Befremden über die stattgefunden Veränderung auf Rebb Schlomes Gesicht. Nicht daß er sich äußerte, aber Anschels aufmerksames Auge fand in den harten Zügen des Vaters etwas, das prächtig zu dem freudigen Tone paßte, der seit wenigen Stunden das Haus durchzitterte. Er sah, wie die Blicke des Vaters öfters die Mutter suchten, wie sie an ihrem Antlitze haften blieben, als wollte er sich dieselbe tief ins Gedächtnis prägen. Aber er bemerkte auch, wie Nachime, so oft sie das Auge ihres Mannes auf sich geheftet sah, sich abwandte; wie wechselweise Erröten und Erblassen über ihre Züge flog.
»Schämt sie sich vor ihm?« dachte Anschel.
Der einzige, der nicht teilzunehmen schien an diesem Wesen innerlichen Behagens, wie es allen, selbst dem Vetter Koppel, anzusehen war – Elieh, saß düster, den Kopf in beide Hände gestützt, am Tische. Merkwürdig war es, daß Nachime um den genesenen Sohn, der heute seit seiner Krankheit zum ersten Male am Sabbattische saß, sich wenig kümmerte. Wenn hie und da ein Blick auf ihn fiel, so glitt er schnell ab, um anderswo haften zu bleiben. Am meisten sah sie nach Tilles Kopf; von dem Feldschmuck war in dem schwarzen Haare des Kindes eine einzige Blume zurückgeblieben. War sie dort vergessen worden? Hatte sie die Eitelkeit dort gelassen?
Beim Nachtmahl zeigte es sich erst recht, daß Rebb Schlome von dem veränderten Wesen Nachimes sich mächtig angewohlt fühlte. Er war gesprächiger, als das sonst seit der letzten Zeit der Fall war; er erzählte den Kindern, was er im Laufe der Woche aus einem Prager Blatte, der einzigen Quelle seiner politischen Belehrungen, über den Stand der damals noch mächtig bewegten Welt erfahren hatte. Das Wort richtete er wohlweislich an die Kinder, namentlich an Tille, auch sonst seine eifrigste Zuhörerin bei dergleichen Gesprächen. Dabei hatte Nachime Zeit, still geschäftig ihren Dienst als Hausfrau zu verrichten, und doch entging keine ihrer Bewegungen dem forschenden Auge ihres Sohnes.
Anschel hatte nur eine Sorge, daß der Vater irgend etwas vorbringen würde, was die Stimmung der Mutter wieder vergällen konnte; er empfand es klar, mit welch schwachen Fäden sie an den heutigen Abend gefestigt war. »Vom Feld,« meinte er in sich, »darf er gar nicht reden, sie könnte dann gerade wieder in den alten Zustand verfallen. Denn leider Gottes! ist sie nicht wie eine Kranke, der man alles aus dem Weg stellen muß, was sie an ihre Krankheit gemahnt?«
Aber es fügte sich besser, als Anschel befürchtete. Rebb Schlome fand heute merkwürdigerweise kein Ende seiner »Politik«, schweifte mit Riesenstiefeln bald aus dem fernen »Amerikum« ins »Preußenland« hinein, blieb dann wieder für einige Augenblicke beim »Engländer« stehen, um dann mit einem kühnen Sprunge plötzlich auf den »Russ« zu kommen. Es schien dem Manne ein Bedürfnis sich auszusprechen, mochte der Gegenstand auch fern abliegen von dem, was er eigentlich sagen wollte; zuletzt wurde Rebb Schlome so gesprächig, daß er auch den Vetter Koppel mit in die Welthändel zog. Der eisgraue »Rebell« saß teilnahmlos da und verzehrte das Mahl, das Nachime ihm in reichlicher Fülle auf den Teller gelegt hatte; da rief Rebb Schlome:
»Euer Absalon, Vetter Koppel, der hätt' jetzt gewaltig viel zu tun, wenn er noch lebte.«
»Wieso, Vater . . .?« fragte Tille, statt des Vetters.
»Weil es jetzt so viel Rebellionen in der Welt gibt,« gab Rebb Schlome lachend zur Antwort.
Vetter Koppel, der auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet war, würgte erst einen Bissen hinab, dann rief er mit weinerlich kläglicher Stimme:
»Hab' ich denn meinen ›Mogen Dovid‹ schon? Was soll ich anfangen, wenn ich den nicht hab'!«
»Laßt das gut sein, Vetter,« meinte Rebb Schlome in guter Laune, »Sonntag, da verschaff' ich Euch selbst eine Truthahnsfeder, und Ihr müßt Euch dann einen neuen ›Mogen Dovid‹ anfertigen, schöner als Ihr noch einen gemacht habt.«
Mit einer festern Stimme, als sich nach diesem Spotte Rebb Schlomes erwarten ließ, sagte Vetter Koppel:
»Ich werd' keinen mehr machen! Der Narr, der ich wär'! Erst einen machen und mir ihn dann wegnehmen lassen! Dessentwegen hab' ich meinem Vater das Herz nicht gebrochen.«
So gewöhnlich diese Worte, namentlich die letzteren, der Familie klangen, so war es doch merkwürdig, wie eigentümlich sie gerade jetzt ergriffen. Der »Bocher« warf einen fast erschreckenden Blick nach dem Greise, und selbst Rebb Schlome mochte sich von dem drohend kläglichen Tone des Alten mehr als gerüttelt fühlen. Er versuchte lustiger zu scheinen und lauter lachend, als sich dies dem Vetter Koppel gegenüber geziemte, rief er nach einer Weile:
»Was fort ist, ist fort, Vetter! Euer ›Mogen Dovid‹ ist bei dem Bauer gut aufgehoben, es wird ihm dort nichts geschehen. Und dann könnt Ihr Euch ja einen neuen machen.«
»Ich mach' keinen neuen,« meinte Vetter Koppel mit einer gewissen Entschiedenheit und schüttelte dabei das Haupt, »in dem Haus mach ich keinen neuen mehr.«
Schwere Tränen rollten dabei seine Wangen herab.
»Ich bitt' dich, laß ihn gehen, Vater.« flüsterte Tille, »es ist nicht gut mit ihm zu reden, wenn man ihm von dem ›Mogen Dovid‹ spricht, den du dem Richter geschenkt hast.«
»Was ich ihm da geschenkt hab'!« rief Rebb Schlome spottend aus. »Der Bauer hat gemeint, Gott weiß was in dem Bilde versteckt ist, und da hab' ich mich nicht besonnen und hab's von mir gegeben.«
»Er weint und jammert aber beständig darum,« bemerkte leise das Kind.
»So soll er sich ihn wieder schaffen,« sagte mit starker Stimme Rebb Schlome, »ich werd' ihn nicht zurückbringen.«
Nachime hatte diesem Zwischenfalle, wie es schien, gar keine Teilnahme bewiesen; aber Anschel, der sie genau beobachtet hatte, bemerkte, daß auf ihrem Antlitze eine schwere Wandlung vorgegangen war. Es schien ihm, als ob sie nur mit Mühe eines jener grollenden Worte zurückdränge, wie sie seit einiger Zeit in ihrem Munde so gewöhnlich waren; er sah ihre Lippen zucken, und wieder jenen bittern Zug herum, der heute zum ersten Male seit so langer Zeit verschwunden war. Vielleicht um einem Ausbruche schmerzlich aufgeregter Empfindungen vorzubeugen, stand Nachime vom Tische auf und ging zur Tür hinaus.
Das kam Anschel als ein verhängnisvolles Zeichen vor. Mit dem richtigen Gefühle, daß er wieder aufbauen müsse, was ein einziger Augenblick umgerissen, folgte er der Mutter nach. Rebb Schlome bemerkte es nicht, er war mit Tille wieder in den großen Irrgarten der Politik getreten.
Draußen fand sie Anschel unter dem Hoftor, auf dem nämlichen Ort, der vor wenigen Stunden eine Mutter und ihren Sohn einander wieder zugeführt hatte. Sie stand an das Haustor gelehnt; als Anschel kam, entfernte sie sich einige Schritte, als hätte sie die Absicht gehabt, einer Unterredung mit ihm zu entgehen. Aber noch ehe Anschel das Wort gefunden hatte. das dem Augenblicke angemessen, rief sie mit jenem gereizt bittern Tone, den er bereits so gut kannte:
»Da hast du, wie er ist, dein Vater! Das bissele Freudigkeit, was ich heut' wieder zum ersten Male gespürt habe, nicht einmal das hat er mir gegönnt! Es war mir so wohl . . . eine Kraft war wieder über mich gekommen, wie schon lang' nicht, aber wie ist mir jetzt? Gott will mir nicht helfen; ich weiß gar nicht, was ich begangen haben muß, daß ich für meine Sünden so büßen muß.«
»Warum, Mutter?« sagte Anschel in den weichsten Tönen des Erbarmens, »warum redest du wieder so? Was hat denn der Vater getan, das dich so aufbringt gegen ihn? Weil er ein bissele lustig war mit dem Vetter Koppel? Geschieht denn das zum erstenmal? Du weißt ja, wie er ist, und kennst ihn so lange.«
»Meinst du, mein Sohn,« sagte Nachime mit mühsam unterdrücktem Schluchzen, »daß ich deinem Vater mißgönn', wenn er lustig ist? Da wär' ich ein schlecht' Weib! Werde ich mich jachten über das, was dem Manne das Herz lachen macht. Aber was mir mein Herz abstößt, ist etwas anderes, und darüber schweigt alles und bleibt still, ich mag mich wenden und drehen, wie ich will.«
»Was, Mutter?« fragte Anschel leise. »Ich bitte dich, red'.«
»Nicht seine Lustigkeit hat mir weh getan,« beeilte sich Nachime sogleich zu entgegnen; »denn ich weiß ja doch, er war nur meinetwegen lustig. Dein Vater hat gesehen, daß mein Gesicht ein anderes geworden war, und so ist auch er aufgeheitert worden.«
»Du weißt das, Mutter,« rief Anschel mit lebhaftem Erstaunen, »und beklagst dich doch über den Vater!«
Ohne auf diese Frage zu achten, fuhr Nachime in Bitterkeit wieder fort:
»Hast du aber gehört, wie er den alten, halb wahnsinnigen Vetter behandelt hat? Erst nimmt er ihm seinen ›Mogen Dovid‹ weg, fragt ihn nicht, schenkt fort, woran das Herz eines Menschen hängt, und hernach: wenn der sich wie ein Wurm windet und ihn fragt: Warum hast du mir das getan? lacht er ihn aus und sagt: Weil ich so gewollt hab'. Und das eben stößt mir ja mein Herz ab. Hat er mir's denn anders gemacht als dem Vetter Koppel? Hat er mich gefragt, als er mir weggenommen hat das Liebste und Beste, was ich auf der Erde gehabt habe? Hat er nur einmal zu mir gesagt: Nachime, wie, meinst du? soll ich das tun oder nicht? Bist du dafür? bist du dagegen? Nein, ich war wie ein Stück Lehm; er hat gemeint, er kann mich überall hinwerfen, in welchen Winkel er will; er meint, ich bin so eine Art Vetter Koppel. Aber selbst der hat ihm gezeigt, daß Gewalt und nichts als Gewalt nicht alles können auf der Welt. Gott ist auch da, und wer da meint, er möcht' auch ein bissel Gott machen, möcht' auch mit dem Menschen umgehen, wie es ihm beliebt, der soll nur zusehen, wie das endigen wird. Gott, der Allmächtige, läßt nicht mit sich spielen.«
Mit Schauer und Grauen hatte Anschel diese düstern Worte, die bald langsam und schwer, bald wieder rasch und zornig, wie züngelnde Flammen aus dem Munde der Mutter kamen, gehört. Es sprach ein Groll und eine Säure des Gemütes heraus, die er, der Leichtgläubige, geschwunden, wenigstens gemildert glaubte. Wie sehr mißkannte Anschel in seiner Unerfahrenheit die Gewalt einer zürnenden Seele! Lange bedarf's, bis Liebe einkehrt in ein Gemüt; bis sie da ihren Sonnenschein ausbreitet und jede Lücke darin durchgewärmt und durchleuchtet ist. Aber all das schwindet und stirbt ab mit der Schnelligkeit des Gedankens, wenn einmal Groll und Zorn, Bitterkeit und Haß eingekehrt sind. Schreckliche Gäste sind es, die vom Marke des Gemütes zehren, die kein Zuspruch vertreibt. Je länger sie nagen, eine desto bessere Stätte haben sie sich bereitet.
Das bedachte Anschel in diesem Augenblicke nicht. Die dunkeln Worte der Mutter hatten ihn fast sprachlos gemacht. Erst nach einer langen Pause vermochte er zu antworten:
»Aber Mutter . . ., wie kommt's, daß du jetzt wieder in deine Kränkung hineingekommen bist, und warst ja vor kaum zwei Stunden so herzfreud'? Denkst du nicht mehr daran? Kann man etwas so schnell vergessen, was einen erquickt, einem das Herz weich gemacht hat?«
Unbewußt hatte Anschel jetzt einen Gedanken ausgesprochen, der in Nachimes Lage am gewaltigsten zu ihr reden konnte. Das ist klar, daß jenen grollenden Gefühlen der Mutter, die sich in der Freiheit ihres Wesens tief verletzt glaubte, keine Gründe und Überredungskünste entgegentreten konnten. Aber das linde Wort des Sohnes, das Erinnern an ein Freudiges, hieß jene heftigen Stimmen für den Augenblick verstummen; es gestattete der Mutter, in dem, was noch unverletzt und unversehrt in ihr war, in der Liebe zu ihrem Kinde, sich zu bewähren.
»Gott, wie recht hast du, Anschel . . .,« rief sie im schneidenden Tone des Selbstvorwurfes, »daß du mich daran gemahnst? Glaubst du, ich hab' nicht auch daran gedacht, wie ich mich an Gott versündige? Das ist ja aber mein Unglück! Meine Freud' ist keine Freud', mein Lachen ist kein Lachen! Heißt das sich freuen, wenn man eine Minute darauf nicht weiß, daß man sich gefreut hat?«
»Verzeih mir, Mutter,« entgegnete jetzt Anschel mit mehr Mut. »Ich versteh' dich nicht ganz. Du siehst etwas ein und siehst es wieder nicht ein! Erst freust du dich, dankst Gott dafür, daß er dir in deiner Kränkung etwas geschickt hat, was dich labt und erquickt, und hernach –«
»Und hernach,« ergänzte Nachime, wie erliegend unter der Wucht dieses Wortes, mit gramvoll gerungenen Händen, »hernach versündig' ich mich an Gott! Weiß ich denn das nicht? Meinst du denn, ich möcht' nicht gern anders werden, oder ich tu' das alles ›mit Fleiß‹? Wie irrt ihr euch dann alle an mir und kennt mich nicht! Aber wenn man von Stund' zu Stund', von Tag zu Tag sich immer vorsagen muß: Nichts ändert sich an deiner Kränkung! Wenn man immer sehen muß, wie die Gewalt sich gleich bleibt, warum soll ich mich ändern? Da wird man so, wie ich bin . . . Da nützt kein Zureden und kein Raten, und das beste ist . . . ihr laßt mich gehen, wie ich will. Ändern könnt ihr mich doch nicht.«
»Lebendiger, großer Gott!« schrie Anschel mit einer gewissen zornvollen Angst, »wie kannst du nur so reden, Mutter? Es wird sich nichts ändern, sagst du so gewiß, als ob du' s geschrieben und untersiegelt hättest! Welcher Mensch kann denn so etwas sagen? Wer kann so etwas im voraus wissen?«
»Lern du mich nicht meinen Zustand kennen,« sagte Nachime schmerzlich lächelnd, »ich kenn' mich besser als du. So gewiß ein Mensch etwas voraussagen kann, so gewiß kann ich es sagen: Das ändert sich nicht. Eine Krankheit kann so groß und schwer sein, daß man zu sterben meint, so weiß man doch nicht, ob sie nicht von Minut' zu Minut' besser wird. Grad oft, wenn der Tod einem zu Kopf steht, kommt die Genesung. Mit mir aber ist es anders.«
»Glaub doch das nicht, Mutter,« rief Anschel im Übermaße seines Schmerzes. »Gerade so, wie es einem Schwerkranken geht, der mit einem Male wieder sich aufhebt und wieder lebt, so wird's dir auch gehen. Du wirst dann gar nicht wissen, ob du jemals krank gewesen bist; nur darfst du nicht verzweifeln.«
»Wie soll ich denn das anfangen?« fragte Nachime mit jenem hoffnungslosen Lächeln des Unglaubens, der ihrem Zustande entsprang.
Anschel fühlte es, daß ihm in diesem Augenblicke der Mut fehlte, das nach seiner Meinung entscheidende Mittel auszusprechen. Die traurige Unterredung hatte sein Herz verzagt gemacht. Leise, daß es beinahe von der Mutter nicht gehört wurde, sagte er:
»Du hast mir ja versprochen, Mutter . . ., du willst aufs Feld kommen. Hast du denn das schon vergessen?«
»Was soll ich denn da?« fragte Nachime zerstreut, indem sie ihren Blicke starr auf den Sohn richtete.
»Komm nur, komm nur,« bat Anschel, »du wirst es nicht bereuen.«
»Ich weiß aber nicht, was ich dort soll?« entgegnete Nachime mit bebender Stimme, »kann das meinen Zustand ändern, und wenn ich tausend Felder seh'? Davon wird mir nicht besser.«
»Komm nur, komm,« drängte Anschel und ergriff die Hand der Mutter. »Wenn du gar nichts sehen wirst, so wirst du das Feld sehen, worauf Tilles Blumen gewachsen sind.«
»Wirklich?« fragte Nachime, und ein sieghaftes Lächeln, schöner als Anschel es je gesehen hatte, blühte an ihren Lippen auf.
»Siehst du, Mutterleben,« rief er in seinem Entzücken, »wie du dich wieder freuen kannst.«
Nachime konnte dem Strome dieses Entzückens nicht widerstehen, und indem sie mit der andern Hand Anschels brennende Wange streichelte, sagte sie weich:
»Gut' Kind, das du bist. Wenn ich dir einen Gefallen damit mache, daß ich aufs Feld geh', so werd' ich morgen gehen. Du kannst dich darauf verlassen.«
Anschel vermochte noch zu sagen:
»Morgen, Mutter, wirst du sehen, was ein Feld ist.«
Mitten durch die Dämmerung. die beide umgab, bemerkte Anschel, wie jenes sieghafte Lächeln wieder auf ihre Lippen zurückkehrte.
Mußte sie über Anschels Leichtgläubigkeit lachen, der von einem Felde so viel erwartete? Oder war es die Erinnerung an Tilles in den Blumen des Feldes so eigentümlich strahlende Schönheit? – Nachime sagte nur:
»Wird dein Feld aber gewiß reden können? Das Wunder möcht' ich erleben.«
»Du wirst noch größere erleben, Mutter!« meinte Anschel.
»Sag nur nichts,« mahnte Nachime.
Ruhig, als wäre nicht des einen Seele unter der Wucht eines Sturmes vor wenigen Augenblicken ein hin und her geworfenes Spielwerk gewesen, und die andere zwischen Grauen und Hoffnung mitten inne gestanden, gingen dann Mutter und Sohn wieder in die Stube zurück. Rebb Schlome war noch immer bei der »Politik«. Elieh aber, vom Lichte der dunkelnden Lampe nur ungewiß beleuchtet, saß in einem Winkel der Stube und las aus einem kleinen Buche. Es war Wojtechs Gebetbuch.