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Wie schwer steigt's sich hinan und hinab, wie vielfach krümmen sich die Wege, wie rauscht's bald in Bergströmen, bald in heulenden Winden, bis in ein menschliches Herz jenes Element eingekehrt ist, für das unsre Sprache ihr schönstes Wort hat, wie eine Mutter für ihr Kind das schönste Lächeln, das Wort: »Heimisch.« So recht auf dem Grunde der Seele sich fragen zu können: »Heimelt's dich an in allem, was dich umgibt, wohlt dir die Luft, die dich umfächelt, das Wasser, das du trinkst, das Antlitz, dem du täglich entgegensiehst? Wohlt dir der Schlaf? Hast du das selige Gefühl, du seiest daheim, niemand könne dich von da wegtreiben; aus keinem Winkel deiner Stube, aus keinem Gesichte mahne dich etwas Fremdes, alles sei dir untertan, stehe im Zusammenhang mit deinem eigensten. innersten Leben? – Denn das ist eben im Wesen dieses Gefühls, daß es sich nicht schaffen, nicht gebieten läßt von oben, weder ganzen Völkern und Zeiten, noch dem einzelnen Gemüte! Luft, Land und Wasser, alle guten Geister des Verständnisses und der Liebe, des Sittlichen und Reinen, müssen die Fäden nehmen in die zarten Hände, wenn jenes Gewebe des »Heimischen« fertig werden soll. Unsichtbar müssen sie es bereiten, und doch muß man das Rauschen des Webeschiffchens vernehmen. Dann aber fällt es nieder in gesegneter Stunde, breitet sich aus vor den Augen, erst als dünner Flor, dann über alle Tiefen, Ritzen und Winkel der Seele, bis es haushoch geworden ist. Denn nun ist wirklich das Haus darein gehüllt, unzerreißbar und gefeit, bis es wieder einmal täppisch rohen Menschen oder der lauernd zuwartenden Hand des Geschicks gelingt, hineinzugreifen . . .
Wer tiefer in die Wandlungen des Gemütes zu blicken versteht, wird es leicht begreifen, warum jenes Element in unsrer Familie sich nicht einstellen wollte. Wie zufrieden sie auch mit der Aufnahme im Dorfe sein konnten, wie günstig sich die Erklärungen anhörten über die Sonderbarkeiten ihrer Ankunft; so vermochten sie dennoch nicht, eine gewisse Dumpfheit zu überwinden, die als böse Luft, beengend und niederdrückend ihnen auf jedem Schritt und Tritt nachschlich. Sie konnten die Bangigkeit nicht los werden, die sie auf dem Wege in die neue Heimat geleitet; sie konnten des Besitzes nicht froh werden. Einer sah es dem andern an, und doch verharrte jeder in dem Mute, für sich allein zu bleiben. Es schien, als wollte jeder ein inneres Gebreste allein verrungen haben, ehe er daran ging, im Gemeinschaftlichen Ansprechen des Leides Linderung zu suchen.
Es war nicht Unzufriedenheit mit ihrer äußern Lage. »Weit und breit« konnte man kein schöneres Bauernhaus gewahren; Rebb Schlome hatte mit dem Ankaufe desselben in der Tat kein übereiltes Geschäft gemacht. Alles, was dazu gehörte, glänzte und schimmerte, als sei es ganz neu angeschafft, denn der frühere Besitzer war ein guter Wirt gewesen. Die Äcker, die seinen größten Reichtum ausmachten, waren gut gelegen, nicht zu tief und nicht zu hoch. Gottes Sonnenschein und Winde konnten sich so recht mit ihnen beschäftigen, ohne ihnen gerade zu viel zu schaden. Das Haus war groß und bequem, fast zu groß für sie, die an die engen Wohnungen im Ghetto gewöhnt waren; man konnte dem »Bocher« eine eigene Stube anweisen, in die er seinen ganzen talmudischen Schatz an Büchern und sich selbst, ungestört im »Lernen« von den andern, bringen konnte. Da, hieß es, »brauche er den ganzen Tag keinen Menschen vor Gesicht zu sehen, was ihm doch ganz lieb sein müsse, könne lernen und lernen, bis es ihm zum Kopfe herausschlage.« Alles in und an dem Hause war niet- und nagelfest, nicht, die kleinste Planke am Gartenzaun fehlte; es war, als ob luftige Geister sich das Wort gegeben, alles herzurichten und zu rüsten, damit das Auge nirgends mißfällig haften bleibe. Vor allem aber gewährten zwei Dinge einen gar freudigen Anblick: der Stall und die Speisekammer. Hier wie dort sah man es an, daß das erkaufte Gut nicht unter seinem allgemeinen Werte stand. Vier mächtige Kühe brummten da im harmonischen Baß ein Konzert, das von den guten »Stimmen« und der »Frische« ihrer Besitzer ein gar vorteilhaft Zeugnis ablegte. Was aber die Bewunderung aufs höchste steigern mußte, war der Reichtum in der »Speise«. Es war eine wirkliche Schatzkammer; Kisten und Kasten von »oben« bis »unten« mit allen Bedürfnissen gefüllt, für die das Auge der Frau einen so berechnenden Überblick hat; man glaubte jahrelang damit »auskommen« zu müssen, wie denn auch der hochaufgeschichtete Holzstoß, der im Hofe lag, gleichfalls ohne Ende schien.
Rebb Schlome hatte für alles gesorgt; seine gewalttätige Natur hatte es nicht geduldet, daß ein anderer sorge; von ihm, als dem Mittelpunkte und Strebepfeiler des Hauses sollte alles ausgehen, auf ihn sollte es sich stützen. Er war der Meinung, wie sie Naturen seines Schlages nicht als zu große Schuld angerechnet werden darf, daß ohne ihn nichts recht gefördert werde. Solche Leute sind überzeugt, wenn sie es auch nicht bewußt aussprechen können: in ihrem Auge wohne eine Kraft und Gewalt, die auf alles, was sie anrühren, belebend einströme. Sie wollen nicht gemahnt sein, sie wollen selbst gemahnen; sich nichts entgegentragen lassen, wovon sie nicht wissen; immer überraschend antreten, ohne jemals die Miene zeigen, als wäre es jemandem gelungen, sie selbst zu überraschen.
Ohne sich mit einem Worte zu verraten, hatte Rebb Schlome selbst alles angeordnet; er hatte Kisten und Kasten aufspeichern, er hatte den Holzstoß schichten lassen. Nichts fehlte, nichts wankte, alles war wie von jahrelangem Bestand, . . . bis auf die unruhig bewegten Gemüter, bis auf die schleichend böse Stimmung, die sich ihnen entgegengesetzt hatte.
»Geht dir dein Herz nicht auf, Nachimeleben,« sagte Rebb Schlome am ersten Tage, als er sie Musterung halten ließ über Haus und Hof; »geht's dir nicht weit auf vor Freuden, wenn du das alles siehst? Ist dir so eine Butter, so ein Holz in deinem Leben schon vorgekommen? Und alles gehört dir, und es kostet dir eigentlich nichts; du hast alles im Hause; es wächst dir ordentlich in den Mund hinein. Früher hast du das kaufen müssen, jetzt hast du's eigentlich umsonst. Und da sagt man noch: der Jude hat das Geld. Wo hat er's? – Das steckt in tausend und tausend Schulden, denn man kann's ja nicht einsperren in der Truhe, es will fort in die weite Welt, weil es fort muß. Aber genießt er's? Mit Sorgen und Ängsten muß er darauf sehen, daß es nur nicht zu weit wandert, und daß er's wieder zu Gesicht kriegt. Jetzt siehst du ein, daß wir eigentlich nichts haben; › sie‹ haben alles. Soll man den Kaiser nicht in den Himmel hineinheben und sich tausendmal bedanken, daß wir's endlich haben, was Millionen andere haben?«
Zwar begriff Nachime nicht, wie so »auf einmal« der Glanz der Kaiserlichen Majestät angerufen werden mußte; denn offen gestanden, die Bemerkungen ihres Mannes über Geld und Bauernwesen waren ihr zu »hoch« – dennoch, vielleicht von dem Gefühle geleitet, daß sie in ihrer Abneigung gegen das Dorf zu weit gegangen, sagte sie:
»Schön ist's hier – aber zu groß. Wie soll man das alles erarbeiten?«
»Narrele,« meinte Rebb Schlome selbstbewußt, »meinst du denn, du wirst keine Knechte und Mägde haben? Du wirst sie noch heute zu Gesicht bekommen.«
Rebb Schlome hatte auch für »Knecht und Magd« gesorgt; nichts war seiner Wachsamkeit entgangen.
»Was hab' ich von denen,« entgegnete Nachime, in der sich wieder ein kaum besänftigter Groll zu regen schien, »was hab' ich von fremden Dienstboten, wenn ich von der Sach' nichts versteh'? Bin ich eine geborene Bäuerin? Hat man mir in meiner Wiege einmal gesagt, ich werde müssen auf die Küh' sehen? – Von ›Kind‹ auf bin ich im ›Geschäft‹ gewesen, hab' gelernt, wie man die Kunden anruft, daß sie nicht zu einem andern eintreten, wie man ein Stück Barchent durchschneidet, daß es nicht zerreißt, und wie man's macht, daß der Käufer einem treu bleibt und kauft nicht im nächsten Gewölbe. Das hab' ich gut verstanden, weil man mich's gelehrt hatte, wie ich noch keine Ziffer gewußt hab' zu unterscheiden. Und jetzt soll ich eine Bäuerin werden?«
Rebb Schlome sah seine Frau erstaunt an; »so viel« hatte er sie seit Wochen nicht sprechen hören. Im stillen freute er sich, daß sie überhaupt sprach und übersah darum, daß eigentlich nie schneidendere Vorwürfe aus ihrem Munde gekommen waren. Nur so ist es zu erklären, warum er diesen Klagen gegenüber sich nicht vom Ärger und der angeborenen Herrschlust hinreißen ließ.
»Versteh' denn ich etwas vom Bauersein?« rief er im Tone lachenden Ärgers. »Oder hat's von mir auf dem Berg Sinai geheißen, ich soll Bauer werden? Verstehen! Ich werd' nicht verstehen, wozu man den Pflug braucht oder was Korn ist und Hafer? Ich bin vielleicht so auf den Kopf gefallen, daß ich nicht weiß, wie man einen Erdapfel in die Erde setzt, damit nicht Unkraut herauswächst, oder wie Kraut und Rüben herauskommen? Oder, wenn's Zeit ist das Getreide abzuschneiden, daß man's nicht auf den Winter hinaus verschieben darf? Dazu muß man vielleicht wie der Bauer vierzehn lateinische Schulen studiert haben?«
»Der hat's aber von Kind auf vor sich gesehen, darum kann er's,« wagte Nachime zu widersprechen.
»Und ich, meinst du, ich habe nichts vor mir gesehen, als Kattun, Tuchel und Barchent, und darum werd' ich's nicht können?« rief Rebb Schlome mit jenem Hohne in Stimme und Gebärde, wie sie Nachime nur zu gewohnt war. »Ich sag' dir aber, Nachime . . ., wer da versteht. wie man einen Kunden bedient, wie man kauft und verkauft, der muß auch die ganze Weisheit und Thora des Bauers kennen. Wär's denn dann der Mühe wert zu leben und über fünfundvierzig Jahre gelebt zu haben, wenn man dann mit allem Verstand nicht das wüßte, was der Bauer weiß? Bin ich darum ein Jud' geworden?«
Es lag in dieser Beweisführung etwas, wovon Nachime tief verletzt ward; aber sie sprach es nicht aus. Sie erkannte unbedingt die geistige Überlegenheit ihres Mannes; sie war fest überzeugt, daß, wo Rebb Schlome seine Hand anlege, da müsse es gehen. Aber hätte er diese Kraft im Entschließen und Ausführen nicht lieber aufs Geschäft verwenden können? Wie hätte das zunehmen müssen! Wie hätten ihre Kinder sicher und ruhig davon »leben« können, statt daß sie jetzt alle auf ein unsicheres Meer sich hinausgewagt hatten, das vielleicht Stürme und Gewitter, Leid und Weh in sich barg?
Man sieht, Nachime hatte keinen Augenblick den Eigennutz ihres Schmerzes außer acht gelassen; dem Anscheine nach beruhigt, war er nur in die verborgenen Tiefen ihrer Seele eingegangen; aber bei der leisesten Berührung hob er das Haupt empor, fragend und klagend. Sie sah, bei aller Berechtigung zu diesem Schmerze, das Unrecht nicht ein, daß sie mitten in ein werdendes, erst geborenes Leben die heisern Töne der Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit hineintrug.
Aber schon in den nächsten Tagen sollte sie eine Art Rechtfertigung erhalten.
Das Haus war in Ordnung gebracht worden, Knechte und Mägde aufgenommen, und es fehlte nur noch heiteres Wetter, so hätten die Feldarbeiten beginnen können. Unter den Knechten war besonders einer, der gleich anfangs für Nachime ein Gegenstand schwerer Sorge war. Er schien ihr tückischen Gemütes, und sie konnte ihn nicht ansehen, ohne von einem gewissen Grauen überfallen zu werden. Er hieß Wojtech und war von Rebb Schlome aus dem Nachlasse des frühern Bauern gleichsam mit übernommen worden. Aber es war ihm gleich gesagt worden, er müsse mit dem Knechte in Geduld sich fassen; das sei ein absonderlich wildes Roß, das nur immer nach seinem Willen zu traben gesonnen sei; wer ihn aber zu lenken verstünde, der hätte sich nicht über ihn zu beklagen; dem folge er. Die Beweise ließen nicht lange auf sich warten.
Rebb Schlome war ganz erstaunt, als er am frühen Morgen in den Hof hinaustrat und die Pferde an den Pflug vorgespannt sah, den Knecht danebenstehend, der an dem Riemenzeug noch etwas zurecht zu legen hatte.
»Wohin soll's, Wojtech?« fragte Rebb Schlome.
»Wohin es solle,« gab der Knecht trotzig, ohne von seiner Arbeit aufzusehen, zur Antwort, »wohin anders als aufs Feld. Der Regen habe aufgehört, und wenn man da länger sitze und faul sei, werde die Sommerfrucht zur Aussaat noch auf dem Boden verfaulen; er sehe, man müsse in diesem Hause etwas ohne Befehl ausführen.«
Rebb Schlome fühlte den Stich, der aus diesen Worten nach ihm zuckte; er sah ein, Wojtech hatte einigermaßen recht. Ein Gefühl der Scham überfiel ihn; er hatte Mühe es an sich zu halten. Doch war er nicht der Herr, Wojtech der Knecht?
»Wenn er sich nichts befehlen lassen wolle,« schrie Rebb Schlome, in dem allmählich der Groll über die vermeintliche Beleidigung die Oberhand erhalten hatte, »so könne er allsogleich gehen, so herrische Knechte seien nicht zu brauchen.«
Es war ein merkwürdiger Blick, den Wojtech nach dieser zornig herausgeworfenen Drohung auf Rebb Schlome warf. Es sprach keine Wildheit daraus hervor, eher war es eine Art demütiger Trotz, als er die stramme Hand auf eines der Rosse legend, mit langsamer Bedächtigkeit sprach:
»Von den Pferden da werde ihn keiner trennen; seit zehn Jahren kenne er sie und sie ihn, sie seien fast aufgewachsen miteinander, und wenn alle Juden von der Welt kämen,« setzte er mit düster werdendem Tone hinzu, »sie würden ihn von da nicht wegtreiben können; er gehöre zum Hause und werde nicht gehen.«
Rebb Schlome fühlte, wie sich ihm alles Blut zu Kopfe drängte. Dennoch hielt er an sich. Sollen wir es gestehen? Er war erschrocken. Hatte der Knecht nicht deutlich vom Widerstande gegen die Juden gesprochen?
»Ein Jude werde ihm zeigen,« sagte er ruhiger, als es sich erwarten ließ, »wer Herr im Hause sei, er oder er.«
Statt aller Antwort gab der Knecht dem Leibpferde einen tüchtigen Schlag auf den Bug, als wollte er ihm gleichsam in seiner Sprache das eben Geschehene mitteilen, und hatte sich mit einem Satze auf den breiten Rücken desselben geschwungen.
Rebb Schlome hatte das mit einer Art staunender Verblüfftheit angesehen.
»Wird er nicht mitgehen?« fragte Wojtech, als er einmal sich fest niedergelassen hatte, fast gleichgültig, als ob nichts vorgegangen wäre.
»Wer?« fragte Rebb Schlome.
»He, wer sonst,« meinte Wojtech, »als der Sohn.«
»Mein Sohn?« fragte Rebb Schlome aufs neue, als wenn von einem andern die Rede sein könnte.
Wojtech warf einen bedeutsamen Blick auf ein Fenster, das in den Hof hinausging. Anschel stand davor und hatte wahrscheinlich die ganze Unterredung mit angehört.
»Sollt' man nicht meinen,« rief der Knecht mit heiserm Lachen, »auf dem Felde draußen stehen die Saaten wie im größten Sommer? Das Bürschlein wird früh aufstehen müssen, wenn er zur rechten Zeit ankommen will. Das Feld, das geht nicht weg, aber die Zeit.«
»Wie meinst du das?« fragte Rebb Schlome, den die Reden des Knechtes zu verwirren anfingen.
»Das sei gemeint, wie man es eben nehme,« gab Wojtech mit finsterm Angesicht zur Antwort, »und er nehme kein Wort zurück. Alleweil habe er gehört, die Juden seien fleißige und tüchtige Leute, die zu dem Ihrigen schauen, davon habe er aber hier noch nichts bemerkt. Es seien schon vier Tage vergangen, und er sehe noch nicht, daß man sich zu etwas rüste. Wenn der Herr nicht darüber wache, daß alles sich rühre, da könne man nur schnell aus dem Amthaus einkommen, um das Haus und die Felder wieder verkaufen zu dürfen. Die Mäuse und Ratten würden das Haus zerstören, im Stalle den Kühen die Milch vertrocknen, und auf dem Felde statt goldner Frucht stinkendes Unkraut wachsen, das man nicht einmal dem schlechtesten Rinde vorwerfen könne.
Rebb Schlome stand von diesem in die Zukunft hinausgewehten Fluche des Knechtes wie festgebannt; ein leises Frösteln durchbebte ihn; er vermochte fast nicht den Blick zu dem Reiter aufzuheben. Wojtech kam ihm in diesem Augenblicke schrecklich vor, er fand kein Wort, um dessen finstern Vorwürfen entgegenzutreten.
»Was sich die Juden denn dächten von so einem Felde?« fuhr der Knecht fort. »Das sei nicht anders, wie ein Mensch, wolle Nahrung zu jeder Zeit, habe bald Hunger, bald Durst, man müsse zu ihm sehen, wie zu einem kleinen Kinde. Aber er sehe schon, die Juden wollten nicht arbeiten, weil ihnen die Arbeit zu schwer sei, er habe das stets gehört. Da seien Leute ins Dorf gekommen und wollten Bauern werden; aber schöne Bauern würden die werden! Nicht einmal für die Katze werde genug da sein, was da würde zustande gebracht werden. Er sage es aber immer, die Juden seien ein unglückliches Volk, und ihnen sei nicht zu helfen.«
Damit rückte sich der Knecht auf seinem Rosse zurecht, ein Schnalzen mit der Zunge verriet den Tieren, daß die Zeit des Aufbruchs gekommen war. Sie zogen rasch an, und das Gespann war zum Hoftor hinaus, ehe Rebb Schlome noch Zeit gefunden, ein Wort des Gegenbefehles auszusprechen.
Sonderbar! Statt daß ihn die merkwürdige Unterredung mit dem Knechte erzürnt hätte, wie es sein herrisch-heftiger Charakter wohl voraussetzen ließ, hatte sie ihn in ein tiefes Gedankensinnen versetzt. Hatte Wojtech recht? Ertönte eine Stimme in ihm, die sich nicht beschwichtigen ließ. Ein leises Verständnis des Charakters, wie er aus des Knechtes herbem Wesen ihm entgegentrat, dämmerte in ihm auf. Sein Entschluß stand fest: den Knecht wollte er nicht von sich geben.
Anschel, der die ganze Unterredung mit angehört, kam jetzt langsamen Schrittes aus dem Hause, er fürchtete den Vater in der leidenschaftlichsten Aufregung zu finden; aber er war erstaunt, in ein ruhiges, nicht von der leisesten Zornesmiene verzerrtes Antlitz zu blicken.
Als Anschel seinen Vater in dieser Fassung sah, fragte er unterwürfig: »Was soll ich heute tun, Vater?«
»Heißt das eine Frage!« entgegnete Rebb Schlome ärgerlich; er schien durch die Anrede Anschels wie aus einem Traume erweckt worden.
»Was soll ich aber doch tun?« fragte Anschel noch einmal in bittendem Tone.
»Arbeiten sollst du, säen, ackern, bis dir der Schweiß von der Stirne herunterläuft,« rief Rebb Schlome fast grimmig. »Alles wird leider Gottes zugrunde gehen, es wird nicht vom Haus und Hof bleiben, daß man's einer Katz' wird zum Essen vorsetzen können.«
Anschel hatte diese dunkle Drohung schon vom Knechte gehört; daß sie aber der Vater zu der seinigen gemacht, erfüllte ihn mit tiefem Weh.
»Das wird nicht geschehen, Vater,« rief er bestimmt, »dazu sind wir ja eben da, daß es nicht geschieht.«
Der Ton, in dem diese Versicherung erklang, mußte Rebb Schlome getroffen haben; er blickte dem Sohne in das leicht gerötete Antlitz. Milder sagte er darauf:
»Wenn wir aber zu nichts sehen, wird's heilig und sicher geschehen. Hast du vergessen, daß unser Hab und Gut, alles, was an uns ist, in dem Haus da und in den ›paar Strich‹ Feld steckt?«
»Verzeih mir, Vater,« sagte Anschel, »du sprichst, als wären wir schon jahrelang im Dorfe, und nicht erst einige Tage. Wir haben ja kaum angefangen.«
»Nun, unser Anfang,« rief Rebb Schlome bitter, »den gönn' ich all unsern Feinden. Gehen wir nicht alle herum, als hätten wir sechs Jom Kippurs hintereinander gefastet? Sind wir nicht alle zerschlagen, als wären wir Hunderte von Meilen weit zu Fuß gewandert? Und warum? Und weswegen? Soll ein Mensch sagen, warum?«
»Ich weiß es selbst nicht,« tönte es leise von Anschels Lippen zurück. Er fühlte aber, wie der Vater das rechte Wort ausgesprochen. Ja, zerschlagen und matt waren sie alle; es war dies die schreckliche Bezeichnung für ihre Lage.
»Und wer ist schuld daran?« fuhr Rebb Schlome fort. »Die Mutter macht uns so. Die macht durch ihr Klagen und Jammern unser Herz beschwert, man weiß nicht mehr, wo einem der Kopf steht. Tausend Judenfrauen möchten Gott im Himmel auf den Knien danken, wenn sie das hätten, was deine Mutter hat. Aber erkennt sie's an? Statt zufrieden zu sein, daß sie jetzt nicht tagelang auf einen Kunden zu warten hat, von dem sie mit blutiger Müh' ein paar Kreuzer verdient, daß sie jetzt in ihrem eigenen Hause wohnt und ihr Brot nur mit der Hand zu greifen hat, ist sie leider Gott's unzufrieden, verstört sich und uns die Tag'. Ich frag' dich, was soll da herauskommen?«
Diese unmittelbare Anfrage rührte Anschel aufs lebhafteste. Von jeher der machtvollkommenen Stellung seines Vaters sich bewußt, die kein Wort der Widerrede, kein verneinendes Zucken der Augenwimpern an ihm geduldet, mußte er es heute erleben, daß er sich in solcher Weise an ihn wendete. So hatte sich der Vater mit ihm noch nie »ausgesprochen«, so ihn noch nie zum Vertrauten eines Leides gemacht. Nur Befehle und Zurechtweisungen hatte er von ihm gehört; nie war einer jener Strahlen, wie sie so warm aus seinem Herzen auf das »Kind« fielen, auf ihn gefallen. Jetzt mit einem Male schien er in ein jahrelang ihm vorenthaltenes Recht getreten: der Vater hatte sich mit ihm »ausgesprochen«.
Vielleicht war es dies leicht verzeihliche Gefühl, der Stolz über die ihm von nun an eingeräumte Stellung, daß Anschel der Mutter vergaß, daß er wenigstens nicht das rechte Wort zu ihrer Entschuldigung fand. Oder stimmte er dem Vater bei? Er sagte bloß:
»Laß sie, Vater . . ., sie wird schon anders werden. Wenn sie sehen wird, daß es uns gut geht, wird ihr Herz zufrieden werden. Sie hat uns ja niemals gekränkt.«
»Aber sie zahlt's uns jetzt mit Prozenten zurück,« sagte Rebb Schlome düster, »du wirst sehen, die wird nicht anders werden. Erinner dich dran.«
Nach einer Weile sagte Anschel, indem er seinem Vater ganz nahe getreten war:
»Vater . . ., darf ich dir etwas sagen?«
»Was willst du?«
»Du weißt, ich habe mich niemals zum ›Gewölb‹ schicken können, ich hab' keinen Kopf dazu gehabt. Du hast mir immer vorgeworfen, wie verschlafen ich bin, und daß aus mir nie im ganzen Leben ein tüchtiger Kaufmann werden könnte. Das hab' ich mir oft blutig zu Herzen genommen. Gott, der Lebendige, weiß das. Mein Sinn ist immer nach etwas anderem gegangen und gestanden, ich hab' nur nicht gewußt, wohin. Mit einem Male gibt Gott dir den Gedanken ein, du willst das ›Gewölb‹ aufgeben und dich in einem Dorfe niederlassen. Da bin ich ein andrer Mensch geworden; es ist mir gewesen, ich hätt' jahrelang ein ungeheuer eisernes Rad drehen müssen, und auf einmal hätt' mir einer zugerufen: Laß ab, die Zeit ist um!«
»Nun, so ein schrecklich Rad war das ›Gewölb‹ doch nicht,« unterbrach Rebb Schlome lächelnd den Sprechenden.
Ohne sich von dieser abkältenden Bemerkung beirren zu lassen, fuhr Anschel mit immer höher steigender Wärme in Ton und Gebärde fort:
»Du lachst mich vielleicht aus, Vater . . ., daß ich dir das erst jetzt sage. Aber ich weiß nicht, wie das gekommen ist, ich hab' nie das rechte Herz dazu gehabt. Und selbst jetzt weiß ich nicht, ob's sich schickt, daß ich dir's sage?«
Rebb Schlome sah seinem Sohn erstaunt ins Angesicht. Er, der Vater, fand es seltsam, daß ein neunzehnjähriges Kind »mit einmal« so zu ihm sprach.
»Laß mich ein Bauer werden,« schrie Anschel mit Heftigkeit und ergriff die Hand des Vaters. Er hatte sie noch nie in dieser Weise berührt; sie war ihm bisher heilig gewesen.
»Sollst du's denn nicht werden?« sagte Rebb Schlome, abermals mehr verwundert als ärgerlich. »Wozu hab' ich mich denn angekauft?«
»So ein rechter Bauer, mein' ich,« rief Anschel, »so einer, dem man's auch ansieht, daß er's ist. Einer, der all sein Denken und Sinnen drauf hat, der nicht sagt: Wenn es mir heut' mit dem Feld nicht geht, ich will morgen wieder ins Geschäft zurück.«
»Geht das auf mich?« sagte Rebb Schlome finster und zog die Hand zurück.
»Es geht auf uns alle, Vater,« schrie Anschel und ergriff aufs neue die Hand seines Vaters, »auf mich so gut, wie auf dich und auf alle Juden. Verzeih mir's, wenn ich dir das sage. Aber ich möcht' ein Bauer werden, an dem Gott und die Menschen ihre Freude haben, so einer, der gar nichts andres werden kann, bei dem alles um und um Bauer ist. Ich kann mir's ja gar nicht denken, wie es anders sein kann! Und ist es denn nicht schön, so ein Bauer zu sein in seinem eignen Haus, auf seinem eignen Grund und Boden, tausendmal schöner, als in so einem ›Gewölb‹ zu stehen und der Bediente von jedem zu sein, der kommt? Sieh dir sie nur an, Vater, diese Bauern, gedenk an den Richter! Tauscht einer von ihnen mit der ganzen ›Gasse‹ und mit all den Leuten, die darin sind, mit all ihrem Geld und Geschäft?«
»Deswegen bin ich noch nicht aufs Dorf gezogen,« sagte Rebb Schlome mit einem gewissen Nachdrucke;»ich hab's des Kaisers wegen getan, und dann, weil's in jetziger Zeit besser ist, auf etwas Sicheres zu treten mit seinem Fuß.«
Ein geheimnisvoll schmerzliches Lächeln glitt über Anschels Antlitz; aber mit der Schnelligkeit des Blitzes war es allsogleich verschwunden. Denn fast hielt er es für ein Verbrechen, es länger da weilen zu lassen, als die Ehrfurcht vor dem Vater es zuließ.
»Vater . . .,« sagte er leise, »meinst du, es geschieht dem Kaiser damit ein Gefallen, wenn wir nur halbe Bauern werden?«
»Ich versteh' dich nicht, Anschel,« rief Rebb Schlome stockend; aber dieses Geständnis mußte sich ihm schwer entrungen haben, da er nicht den Mut zu haben schien, seinen Sohn anzublicken.
»Red nicht so, Vater . . .,« rief der tiefbewegte Anschel, »du, der Gescheiteste der Menschen, sagst, du verstehst mich nicht! Laß mir aber Zeit, nur Zeit, und du wirst mich verstehen und ich mich selbst.«
Begriff Rebb Schlome in der Tat nicht seinen Sohn? Oder drückte ihn dieses freiwillige Geständnis zu sehr? Er schwieg; erst nach einer minutenlangen Weile sagte er achselzuckend:
»Was willst du denn eigentlich von mir?«
»Nichts, nichts, Vater . . ., als ein Bauer zu werden. Ich will dir dienen als dein treuester Knecht, will arbeiten, als wär' ich achtmal so stark als ich bin; ich will nicht ruhen und rasten von frühmorgens bis spät in die Nacht; du sollst nicht gegen mich zu klagen haben, an den Augen will ich dir alles ansehen. Aber das laß mich werden, um was ich dich bitt', und nicht etwas andres. Gib mir dein Wort drauf, Vater.«
»Narr,« sagte Rebb Schlome lachend, »meinst du denn, ich werde Haus und Hof so bald verkaufen?«
»Nicht wahr, du versprichst mir?«
»Ja, ich versprech' dir's.«
Wer diese zwei Menschen jetzt sah, wie die Hand des einen in die Hand des andern einschlug, mochte glauben, zwischen Fremden wäre ein Kauf über eine tote Ware abgeschlossen worden. Und doch war mehr geschehen. Ein Vertrag zwischen Leben und Leben, zwischen Vater und Sohn war geschlossen worden.
»Jetzt ist mir wohl,« rief Anschel aufatmend, »jetzt werd' ich diesem Knecht zeigen, daß unser Haus nicht zugrund geht. Wir geben's nicht zu.«
Mit raschen Schritten war Anschel auf das Hoftor zugeschritten, das weit offen stand.
»Wohin willst du?« fragte Rebb Schlome.
»Aufs Feld, Vater, aufs Feld,« sagte Anschel freudig. »Ich will von dem Knecht Wojtech lernen, wie man umgeht mit Roß und Pflug. Ich will lernen gehen.«
Gedankenvoll schaute Rebb Schlome dem davoneilenden Sohn nach, bis er ihn aus dem Gesichte verloren hatte.