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Von sämtlichen grandiosen Aufgaben des Fünfjahresplans ist keines großartiger als das Projekt, während dieser fünf Jahre die elektrische Krafterzeugung der Sowjetunion zu verfünffachen und das Land von dem fünften Platz unter den krafterzeugenden Ländern der Welt an die dritte Stelle, hinter die Vereinigten Staaten und Deutschland, zu bringen. In Dnjeprostroy, von wo aus man die majestätische Breite des Staudamms überblickt, der von 1933 an jährlich 2 500 000 000 Kilowattstunden erzeugen soll, gewinnt die Aussicht auf Erfüllung des Fünfjahresplans zur Energieerzeugung erheblich an Wahrscheinlichkeit.
Hier befand sich der Tummelplatz Tarras Bulba, unmittelbar über der Inselfestung der Zaporozhian-Kosaken. Sie waren berühmt in der romantischen Literatur Rußlands. Heute sind der Damm, die märchenhaften Pferdekräfte, die Kilowattstunden und die Kubikmeter Beton in dem neuen Rußland der Gegenstand ebenso vieler Fabeln wie in dem alten Rußland das Lieben und Leben der Kosaken.
Aller anderen Formen der Romantik beraubt, bringt Sowjetrußland seinen nationalen Hang zur Mystik in der Betrachtung feenhafter Statistiken zum Ausdruck. Da die Sowjetunion in industrieller Hinsicht so wenig Rühmenswertes besaß, bekämpft sie ihr Unterlegenheitsgefühl in hohem Maße mittels der Tatsache, daß der Fünfjahresplan nicht nur eine allgemeine Hebung der industriellen Produktion vorsieht, sondern eine Reihe der »größten Leistungen der Welt«, unter denen die größte, weil der Vollendung nächste, der Dnjeprostroy-Damm ist. Bestimmt ein sehenswerter Schauplatz ist dieser Damm zugleich ein Denkmal für die technische Begabung des Amerikaners, Oberst Cooper, dessen Abbild in Bronze in seiner Schöpfung, dem Wilson-Damm in Muscle Shoals, prangt.
Keine Bronzetafel wird in Dnjeprostroy Oberst Coopers Gedächtnis verewigen. Die Tatsache, daß er und sein Stab die leitenden Ingenieure des Dammbaus sind, wird in der Sowjetpresse so selten wie möglich erwähnt. Es ist für die proletarische Moral nicht gut, an die Wichtigkeit erinnert zu werden, welche rein bourgeoise Ingenieure für die Sowjets besitzen. Aber der Erfolg Coopers bei der Durchführung dieses Lieblingsprojektes Joseph Stalins, des ersten größeren Unternehmens des Fünfjahresplans, trug Schuld, daß das Bedürfnis nach technischem amerikanischen Beistande in diesem Lande so lebhaft wurde. Oberst und Mrs. Cooper halten sich in dieser ältesten amerikanischen Kolonie in der Sowjetunion, bestehend aus den Dnjeprostroy-Spezialisten und deren Familien, durchschnittlich nur zwei Monate des Jahres auf. Außer ihnen befinden sich dort Milton Thompson und Frau aus Montclair, Frank P. Fifer aus Baltimore, Louis G. Puls aus New York, James Johnson aus North Carolina und Henry Wilkinson aus Washington. Sie sind in diesem Lande die einzigen Amerikaner, denen es gelungen ist, für sich eine fast 100prozentige amerikanische Umgebung zu schaffen.
Ihre schmucken Ziegelvillen, bestehend aus sechs Zimmern, Küche, Bad mit Zentralheizung und heißem und kaltem Wasser, würden jeder amerikanischen Gartenstadt zur Zierde gereichen. Die per Schiff über Odessa importierten Lebensmittel sind fast ausschließlich amerikanischen Ursprungs, und die Sportplätze könnten sich mit jedem Sportplatz in Amerika messen. Die Dnjeprostroy-Kolonie erfreut sich mit ihrer hervorragenden Schwimmanstalt im Dnjepr, zwei betonierten Tennisplätzen, vier Plätzen aus gestampftem Lehm, einem Golfplatz und der Möglichkeit zu Schlittenpartien im Winter und zu Autofahrten für diejenigen, die der Krimlandschaft zuliebe die russischen Straßen ertragen, gegenüber allen anderen amerikanischen Kolonien im Lande eines ausgesprochenen Vorzuges. Wenige der anderen amerikanischen Ingenieure in der Sowjetunion waren weitsichtig genug, ihre Verträge in einer ähnlichen Weise wie Oberst Cooper abzuschließen und sich die steuerfreie Einfuhr ihrer sämtlichen Lebensbedürfnisse aus Amerika garantieren zu lassen.
In Begleitung Fifers verbrachte ich den Tag auf dem Damm, von dem gegenwärtig etwas mehr als die Hälfte vollendet ist, der aber bereits sehr eindrucksvoll wirkt. Seine Ausmaße genügen selbst der russischen Vorliebe für Superlative. Bei einer Länge von einundeinerviertel Meile und 66 Meter Höhe wird er 1 150 000 Kubikmeter Beton verschlingen. Das Kraftwerk ist 240 Meter lang. Unter dem 35 Meter hohen Dach laufen 9 Turbinen, jede zu 85 000 PS, mit einer Spitzenleistung von 850 000 PS. Die jährliche Krafterzeugung wird 2 500 000 000 Kilowattstunden betragen. Keine andere Kraftanlage auf der Welt, nicht einmal die Niagarafälle, erzeugen eine solche Energiemenge. Muscle Shoals liefert 620 000 PS. Die Turbinen sind die größten, die es gibt; am nächsten kommen ihnen die 75 000 PS-Turbinen des Niagara-Kraftwerks.
Wir kamen gerade dazu, als die Zuleitungsröhren zu den Turbinen, die soeben aus amerikanischen Fabriken eingetroffen waren, montiert wurden. Neben den 9 Meter im Durchmesser messenden riesigen schneckenförmigen Stahlkonstruktionen wirken die Arbeiter wie Zwerge. Wir brauchten 30 Minuten, um quer über den meilenlangen Senkkastendamm nach der anderen Seite des Flusses zu gehen. Durchschnittlich wurden pro Tag 3000 Kubikmeter Beton gelegt.
Hilfsmaschinen waren in Hülle und Fülle vorhanden. 30 vierzigtönnige Laufkräne, 10 Dampfbagger, 50 Lokomotiven, 80 Kippwagen, ausschließlich amerikanisches Material, bildeten ein verwirrendes Durcheinander von Maschinen, wie man es nach Ansicht der amerikanischen Ingenieure auf keinem anderen Bauplatz der Welt wiederfinden würde. Der Dnjeprostroy-Dammbau, der sich der besonderen Gunst der Regierung erfreut, ist stärker mechanisiert als irgendein derartiges Unternehmen in Amerika, und die 17 000 beschäftigten Arbeiter mit ihrer fünftägigen ununterbrochenen Arbeitswoche haben es fertig gebracht, pro Monat mehr Beton zu gießen, als je vorher in der Geschichte der Ingenieurkunst in solcher Zeit gegossen worden ist. Im September wurden 88 000 Kubikmeter Beton gelegt gegen den höchsten Rekord von 53 000 Tonnen pro Monat in Muscle Shoals, und im Oktober erreichte Dnjeprostroy die Rekordzahl von 110 900 Kubikmeter.
Es ist nicht nur eine Prestigefrage, daß der Damm rechtzeitig fertig wird, denn seine Vollendung bedeutet buchstäblich Fleisch für die Sowjetbevölkerung. Der Damm wurde bereits von Katharina der Großen geplant, selbstverständlich nicht zur Erzeugung von elektrischer Energie, sondern zur Förderung der Schiffahrt. Einen wertvollen Zug an dem heutigen Damm bildet ein Schleusensystem für die Flußdampfer, außerdem wird der See, der durch den Damm aufgestaut wird, die bisher unpassierbaren Dnjepr-Stromschnellen verschwinden lassen. Während der Regierungszeit des verstorbenen Zaren wurde dieses Projekt eifrig diskutiert. Lenin griff das Projekt bereits 1920 auf, als Illustration zu seiner These, daß »Elektrisierung plus Sowjetmacht gleich Sozialismus sei«. Im Juni 1926 wurde Oberst Cooper berufen; die eigentliche Ausschachtung begann im Mai 1927; die beiden ersten Turbinen sollen planmäßig im September 1932 in Betrieb genommen werden und die übrigen im Jahre 1933. In Dnjeprostroy neigt man jedoch zu der Überzeugung, daß das Gesamtwerk nicht vor 1934 vollendet dastehen werde.
Eine andere Frage ist es, was mit der Kraft geschehen soll. Die jährliche Produktion von 2 500 000 000 Kilowattstunden würde für eine Industriebevölkerung von 8 000 000 ausreichen. Heute gibt es in dem ganzen für das Werk in Frage kommenden Bezirk nicht mehr als l000 000 Industriearbeiter. Aber das ist eine typische Fünfjahresplan-Entwicklung, und das Projekt umfaßt nicht nur den Damm, sondern die Errichtung einer neuen Fabrikstadt zur Verwertung der vom Damme gelieferten Energie. Wie in Magnetogorsk haben sich die Planschmiede die Aufgabe gestellt, eine Bevölkerung um die natürlichen Hilfsquellen anzusiedeln.
Der Plan verheißt den amerikanischen Maschinenfabrikanten ein glänzendes Geschäft, denn nach Angabe des Sowjetchefingenieurs L. Rodert sollen 150 000 000 Dollar, der größte Teil dieser Summe in Amerika, für die maschinelle Ausrüstung der geplanten Fabriken im Auslande aufgewendet werden. Vorgesehen sind eine von französischen Ingenieuren zu schaffende Aluminiumfabrik für 15 000 Tonnen Aluminium jährlich, eine Fabrik für Eisenlegierungen mit 260 000 Tonnen jährlich, eine von amerikanischen Ingenieuren zu errichtende metallurgische Fabrik für 1 150 000 Tonnen Gußeisen jährlich, ein Kokswerk und eine Zementfabrik. Für diese Fabriken sind die Pläne bereits entworfen, und für das Gesamtprojekt sind bereits Abzugskanäle und Wasserleitungen gelegt und eine Ziegelfabrik in Betrieb gesetzt worden. 15 000 000 Dollar sind in diesem Jahr für Vorarbeiten und Fundamente aufgewendet worden und im nächsten Jahre werden 80 000 000 Dollar Kosten entstehen. 7000 Arbeiter arbeiten bereits an der Konstruktion, und im kommenden Jahr sind 45 000 erforderlich. Die Aussicht auf Arbeitslosigkeit im Baugewerbe scheint in der Sowjetunion in weiter Ferne zu liegen.
Gleichzeitig wird eine Stadt mit Wohnhäusern für 150 000 Arbeiter zunächst längs des Dnjepr-Ufers bis 1933 geplant. Sobald der in Aussicht genommene Erweiterungsbau für eine Bevölkerung von 500 000 Menschen in Angriff genommen wird, wird sich diese Stadt auf die Insel Hortiza im Mittelpunkte des Flusses ausdehnen, die zu Zeiten der Kosaken keine Frau betreten durfte, ohne bei lebendigem Leibe begraben zu werden. Die Gesamtkosten für die Fabriken, Maschinen und Wohnhäuser der neuen Stadt werden sich auf rund 400 000 000 Dollar belaufen. Von den 880 000 Pferdekräften Dnjeprostroys werden diese Fabriken 500 000 verbrauchen, und der Rest wird dem 45 Meilen entfernt gelegenen Stahlwerk in Dnjepropetrowsk zugeleitet werden, während einige Linien sogar bis zu dem 180 Meilen entfernt gelegenem Donbecken führen sollen.
Die Kosten für den Damm werden offiziell mit 220 000 000 Rubel angegeben, und die in Aussicht genommenen Kosten für die Konsumenten des erzeugten Stroms werden mit 1,2 Kopeken berechnet oder mit etwa einhalb Cent per Kilowattstunde, verglichen mit einem Durchschnitt von 7 Kopeken oder 3½ Cent bei den übrigen Kraftquellen der Sowjetunion. Wahrscheinlich werden sich aber die Kosten für den Damm und den Strom höher belaufen als diese Ziffern, vielleicht sogar erheblich höher, trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, daß nach Behauptung Thompsons, des 1. Assistenten von Oberst Cooper, die erzeugte Kraft billiger sein wird als jede durch Wärme erzeugte Kraft. Der Damm wird eine Energie erzeugen, die der von 3 000 000 Tonnen Kohlen jährlich erzeugten Kraft gleichkommt, einer Kohlenmenge, die etwa einem Zehntel der gesamten Kohlenproduktion der Sowjetunion im Jahre 1928 entspricht.
Lenins Kriegsruf zur Elektrisierung stellte diese Phase des Industrieprogramms in die vorderste Front. Dem revolutionären Geschmack für neue Namen folgend, haben einige begeisterte Sowjeteltern ihre Töchter »Elektrifikatzia« getauft. Die relativen Erfolge im Elektrisieren sind verhältnismäßig sehr erheblich, obwohl die absoluten Zahlen noch niedrig sind.
Rußland verfügte in Millionen Kilowattstunden 1913 über 2000, 1925 über 3517, 1927 über 4060, 1928 über 5180, 1929 über 6465 und 1930 über 8700, also über mehr als das Vierfache als vor dem Kriege. Von den 16 führenden krafterzeugenden Ländern der Welt besaßen nur das kleine Holland, Belgien, Rumänien, Österreich, Polen und Schweden eine geringere Krafterzeugung als die Sowjetunion. Andererseits plant die Sowjetunion bis 1933 25 000 000 000 Kilowattstunden zu erzeugen, eine Ziffer, die nur von Amerikas 113 000 000 000 und Deutschlands 30 000 000 000 im Jahre 1930 übertroffen wird. Dies ist ein ehrgeiziger Gedanke, aber selbst bei seiner Verwirklichung, und man hat Grund zu glauben, daß er verwirklicht werden wird, wird die riesige Sowjetbevölkerung dennoch nur pro Kopf über 165 Kilowattstunden verfügen und das ist immer noch weniger, als die 16 führenden krafterzeugenden Nationen – mit Ausnahme Polens und Rumäniens – besitzen. In Amerika kamen 1929: 942 Kilowattstunden auf den Kopf, in Kanada 1815 und in Norwegen 2988. Aber die Sowjetunion plant nach Fertigstellung Dnjeprostroys einen neuen Damm für 1 000 000 Pferdekräfte quer durch die Wolga bei Samara und einen weiteren im Baikalsee mit einem phantastischen Leistungsvermögen, dessen Schätzung hoch in die Millionen geht.
Statistiken sind ermüdend, diese jedoch sind interessant, da sie so deutlich die drei hervorstechendsten Tatsachen in dem Wirtschaftsleben der Sowjetunion unter dem Fünfjahresplan, verglichen mit der übrigen Welt, illustrieren: die wirkliche Schnelligkeit des Fortschritts, die unendliche Distanz, die er noch überwinden muß und die Kühnheit, mit der die Planschmiede in die Zukunft blicken.