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Das wichtigste, was man bei dem heutigen »kommunistischen« Rußland nicht vergessen darf, ist, daß es nicht kommunistisch ist. Das erscheint vielleicht manchem als ein Gemeinplatz, aber das Unvermögen, diese Tatsache zu erkennen, ist die Quelle für zahlreiche der grundlegendsten Mißverständnisse in bezug auf die Sowjetunion gewesen. Die Begriffe und die Ausdrucksweise des Kommunismus sind zu Instrumenten des Denkens und zur Urteilsnorm für die meisten Russen, selbst für viele, die bewußt den Kommunismus ablehnen, geworden, genau, wie es in der westlichen Welt hinsichtlich der Begriffe und der Sprache des Christentums der Fall ist. Ein Bolschewist könnte seine Untersuchung über die Gesellschaft des Westens mit der Bemerkung beginnen: »Das Wichtigste, was man bezüglich der ›Christlichen Welt‹ nicht vergessen darf, ist, daß sie nicht christlich ist«, und wenige Geistliche würden dem widersprechen. Fast in dem gleichen Ausmaße benimmt sich die große Masse der Menschen in der Sowjetunion unkommunistisch. Dem Grundgesetz des Kommunismus: »Von Jedem entsprechend seinen Fähigkeiten; für Jeden entsprechend seinen Bedürfnissen« gehorchen nur die Mitglieder der kommunistischen Partei, dieser am besten disziplinierten politischen Organisation der Welt. Diese Leute, die Priesterschaft, versagen sich selber geldlichen Gewinn und beschränken ihr Einkommen auf ein starres Minimum. Dennoch benutzt der Sowjetstaat bei der großen Masse der russischen Bevölkerung Privatgewinn als die Hauptantriebskraft zur Erreichung seiner Ziele. Nach manchen Versuchen und Irrtümern hat die kommunistische Partei zu ihrem Kummer festgestellt, daß letzten Endes die Organisation, die einem sozialistischen Wirtschaftssystem, das »arbeitet«, am nächsten steht, eine Art Kapitalismus ist, der heutige Staatskapitalismus Rußlands.
Bei diesem System verfügt der Staat über sämtliche Mittel der Produktion, der Verteilung und des Austausches und ist der einzige Arbeitgeber. Die Arbeiter erhalten nur soviel von den Gewinnen, wie es dem Staate gerechtfertigt erscheint. Ihre Löhne werden von dem Staate so bemessen und angepaßt, daß die höchste Produktivität gewährleistet wird. Setzte man an Stelle des Staates private Arbeitgeber, dann würden diese Eigenschaften und das Wirtschaftssystem der Sowjets mit dem Kapitalismus, wie wir ihn kennen, weitgehend übereinstimmen. Dennoch bestehen zwischen diesen beiden Systemen bemerkenswerte Unterschiede. Der unwesentlichste Unterschied ist jener, auf den gewöhnlich der größte Nachdruck gelegt wird, nämlich, daß unter dem Sowjetsystem Gewinne nicht als das Hauptziel der Industrie betrachtet werden. Tatsächlich werden unter dem Staatskapitalismus der Sowjetregierung Gewinne genau wie beim Privatkapitalismus zum Zwecke der Ausdehnung und der Verbesserung der Produktion erstrebt. Entgegen dem Privatkapitalismus investiert der Staatskapitalismus, wie er heute durch die Sowjetunion zur Anwendung gelangt, auch jene verhältnismäßig unbedeutenden Gewinnbeträge wieder in die Fabrik, welche bei Privatbesitz dazu dienen würden, die persönlichen Bedürfnisse der Kapitalisten zu befriedigen. Der Nettoanteil der Arbeiter an den Gewinnen bleibt, wenigstens während der gegenwärtigen Periode der künstlich hochgetriebenen Expansion Rußlands, etwa der gleiche. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Systemen ist hier größer als der Unterschied, und aus dieser Ähnlichkeit erwachsen alle anderen Ähnlichkeiten wie Akkordarbeit, Zahlung von Lohndifferenzen von vier zu eins, Prämien, Überstunden und andere Lockmittel privaten Gewinnes, die den Sowjetarbeitern geboten werden. Daraus könnte man mit Recht schließen, daß der Erfolg oder der Fehlschlag des gegenwärtigen Sowjetsystems nur wenig Licht auf die allgemeine Frage werfen wird, »vermag der Sozialismus wirksam zu arbeiten?« und noch viel weniger auf die Frage, »vermag der Kommunismus zu arbeiten? « Man könnte sogar behaupten, falls das gegenwärtige System in Rußland erfolgreich ist, es seinen Erfolg der Tatsache der Anwendung kapitalistischer Methoden verdanke.
Der wirklich wichtige Unterschied zwischen dem Sowjetstaatskapitalismus und dem Privatkapitalismus beruht auf dem Element der Planwirtschaft, einem der Grundprinzipien marxistischer Wirtschaftstheorien. In der privatwirtschaftlichen Welt führt nach Marx ungeregelter Wettbewerb unvermeidlich zu periodischer Überproduktion, Arbeitslosigkeit und zu jener Krise, unter der die Welt heute leidet. Die Verhinderung einer Überproduktion war der für die Planwirtschaft ins Treffen geführte grundlegende Vorzug. Es gehört zu den zahlreichen Ironien des Sowjetsystems, daß das erste Land auf der Welt, das je den Versuch unternahm, seine nationale Wirtschaft nach einem festen Plane zu führen, bisher noch nicht imstande war, die Wirksamkeit der Planwirtschaft in bezug auf Überproduktion nachzuprüfen, denn das Hauptproblem für die Sowjetunion bestand bis heute nicht darin, eine zu große Produktion zu vermeiden, sondern genügend produzieren zu können.
Der heutige berühmte Fünfjahresplan ist der anmaßlichste je unternommene Versuch, den Grundsatz der Planwirtschaft in Wirksamkeit zu setzen. Es handelt sich um einen Versuch, fünf Jahre im voraus den gesamten Lebensverlauf einer ganzen Nation von 150 000 000 Menschen zu bestimmen. Eine Übertreibung trägt vielleicht dazu bei, den Plan zu erläutern. Falls das möglich wäre, würde die den Plan entwerfende Regierungskommission zweifellos den genauen Tagesplan für jedes lebende menschliche Individuum und für die noch zur Welt kommenden Russen ausgearbeitet haben mit spezifischen Weisungen, wieviel jedes menschliche Wesen in dem Bereiche der Sowjetunion jede Minute seines Lebens für die fünf Jahre vom Oktober 1928 bis Oktober 1933 beizutragen hätte. Selbstverständlich ist das eine Phantasie, aber es handelt sich nur um eine geringfügige Übersteigerung des bedenklichen Inhaltreichtumes des Fünfjahresplans, der bis zu den geringfügigsten Einzelheiten herab nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu regulieren versucht, sondern jede Phase des kulturellen, erzieherischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, gesundheitlichen und sozialen Lebens. Vom Schachspiel und der Kunst an bis zur Teepflanzung und dem Eisenhüttenwesen besitzt der Fünfjahresplan das autoritative Wort.
Mechanisch ist der Plan für die ganze Nation über einen Zeitraum von fünf Jahren ausgearbeitet worden, in gleicher Weise wie ein weitblickender Unternehmer versuchen würde, den Plan für die Produktion seiner Fabrik für eine wesentlich kürzere Zeit aufzustellen. Die staatliche Planwirtschaftskommission von Moskau, unterstützt von den planwirtschaftlichen Kommissionen sämtlicher untergeordneten politischen Abteilungen Rußlands, die ihrerseits ihre statistischen Grundlagen von jeder einzelnen Fabrik erhalten, legte 1928 das mögliche Ziel für die gesamte Industrie für Transportwesen und Finanzen usw. fest, das bis 1933 erreicht werden sollte. Der Plan besitzt Gesetzeskraft, wird aber ständig ergänzt und fast ständig in die Höhe getrieben. Zu Anfang jedes Jahres wird ein detaillierterer Plan mit den sogenannten »Kontrollzahlen« herausgeben, die das spezifische Ziel für das betreffende Jahr enthalten. Ein noch detaillierterer Plan wird für jeden Monat veröffentlicht, und theoretisch sollte jede Fabrikationsabteilung und jeder Arbeiter wissen, wie groß die Produktion für jeden Tag sein müßte.
Der im Prinzip anerkannte Zweck des Planes besteht darin, die industrielle und landwirtschaftliche Produktion in einem Maße zu steigern, um die Sowjetunion in angemessener Zeit instand zu setzen, »die kapitalistischen Nationen einzuholen und zu übertreffen«. Niemand nimmt an, daß dieses Ziel in fünf Jahren erreicht werden wird, aber verantwortliche Direktoren der staatlichen Planwirtschaftskommission nannten dem Verfasser sieben bis zwölf Jahre als die erforderliche Zeit, um das Land mit genügenden Fabriken, Eisenbahnen, Dampfschiffen, Telegraphenlinien, Häusern, Automobilen, Traktoren oder Zugtieren auszurüsten und die Bevölkerung der Sowjetunion mit reichlicheren Nahrungsmitteln, Kleidern, Häusern und Vergnügungen zu versehen, als sie den Bevölkerungen der kapitalistischen Länder zur Verfügung stehen. Kein nüchterner Beurteiler der gegenwärtigen Verhältnisse der Sowjetunion kann zugeben, daß dieses möglich sei, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß die Vertreter des Fünfjahresplans tatsächlich überzeugt sind, maximal in wenigen Dekaden jenes Niveau der Industrialisierung zu erreichen, zu dessen Erlangung die kapitalistischen Länder ein Jahrhundert oder mehr benötigt haben.
Weit bedeutungsvoller ist es für die außenstehende Welt, zu erfahren, daß das unmittelbare Ziel des Planes darauf hinausläuft, innerhalb des Landes genügend Produktionsmittel zur Verfügung zu haben, um der Sowjetunion zu ermöglichen, den Prozeß der Industrialisierung auch dann fortzusetzen, wenn nach Abschluß der fünf Jahre die kapitalistischen Nationen eine hermetische wirtschaftliche Blockade errichten und es ablehnen sollten, dem »kommunistischen Staat« weitere Maschinen zu liefern. Dieses besagt keineswegs, daß die Planmacher der Sowjets etwa annehmen, das Land wäre bis 1933 bereits durchindustrialisiert. Falls die Handelsbeziehungen mit der äußeren Welt andauern, wird der Außenhandel der Sowjets dann vermutlich wesentlich größer sein, und falls der Plan Erfolg erzielt hat, wird zu jener Zeit die Sowjetunion in der Lage sein, falls erforderlich, ihn allein weiterzuführen. Tatsächlich wird sie dann weder einen wirtschaftlichen noch einen militärischen Angriff zu fürchten brauchen.
Das sind die Erwägungen, welche die Geschäftswelt Europas mit großen kommunistischen Parteien in den eigenen Grenzen veranlaßt, den Fortschritt des Fünfjahresplans mit bösen Vorahnungen zu betrachten. Hätte die Sowjetunion nicht den Ehrgeiz, die Welt zu revolutionieren, dann würden wahrscheinlich selbst die Kapitalisten, erfreut über einen sich erweiternden Markt, ihren Fortschritt mit Freude begrüßen. Nur ein Idealist jedoch kann sein Auge dem ständigen aggressiven Charakter russischen Kommunismus gegenüber verschließen. Während die bürgerliche Presse Europas darauf beharrt, zum Wohle der einheimischen Kommunisten zu verkünden, der Fünfjahresplan sei ein Fehlschlag, sind die Geschäftsleute, besonders die namhafteren Industriellen und Bankiers, im geheimen von dessen wahrscheinlichem Erfolg überzeugt. Heute fürchten sie bereits die Konkurrenz der gewaltigen Vorräte der Sowjets an Rohstoffen, besonders an Holz, Getreide und Öl. Sie fürchten sich vor der wahrscheinlich innerhalb einiger Jahre einsetzenden Konkurrenz von Industrieprodukten, die, wie man erwarten kann, dann von der riesigen Wirtschaftsmaschine, die jetzt planmäßig erbaut wird, auf den Markt geworfen werden. Am meisten jedoch befürchten sie einen eventuellen bewaffneten Konflikt mit einem machtvollen, modernisierten, heißblütigen Staat, der von der unerschütterlichen Überzeugung erfüllt ist, es sei seine Pflicht, die ganze Welt der Sowjetunion einzuverleiben. Diese Befürchtungen bilden heute den ständigen Hintergrund eines erheblichen Teils des wirtschaftlichen und politischen Denkens Europas.
Aber diese Auffassung, das sei hier eingeschaltet, ist bis jetzt weder von wirtschaftlichen noch politischen Erwägungen beeinflußt worden. Zum erstenmal, seit sich das Christentum im Okzident ausgebreitet hat, haben die Bolschewisten als ein feierlich verkündetes Prinzip der Moral und der Staatskunst einer großen Nation das Maxim aufgestellt: »Hasse deine Feinde und vernichte sie.« Für die westliche »bourgeoise« Welt, die zwanzig Jahrhunderte hindurch die christliche Lehre: »Liebe deine Feinde und tue ihnen Gutes« gepredigt und nur mit schlechtem Gewissen gegen diesen Grundsatz verstoßen hat, ist es arg, zugeben zu müssen, daß die antichristliche Lehre der Bolschewiken einen Erfolg zu erringen vermochte. Kein Satz wurde häufiger in »bourgeoisen« Kommentaren über die Sowjets angewendet, als die Behauptung: »Ein auf Terror errichtetes System kann nicht von Dauer sein.« Den materiellen Sorgen der Nachbarn Rußlands gesellt sich heute eine moralische Befürchtung hinzu: daß Haß vielleicht wirksamer sei als Liebe, und daß vielleicht die Ethik ebenso hart unter dem Erfolg des Fünfjahresplans mit all seinen Weiterungen zu leiden haben werde wie die Wirtschaft. Der Widerwille, diese Möglichkeit einzugestehen, hat bisher viele daran behindert, die Entwicklungsvorgänge in der Sowjetunion mit unparteiischem Blick zu betrachten.