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Als wenn man sich von einer Brandstätte entfernt, so spürt der Reisende, der von Moskau in südlicher Richtung fährt, eine allmähliche Minderung der oberflächlichen Glut des Kommunismus, und hier, am äußersten Ende der Sowjetunion, findet er in dem hungrigen Rußland ein Frühstücksbüfett zur freien Wahl.
Auf dem Büfett in dem Speisesaal Neu-Europas stehen geräucherte Fische, aufgeschnittene Zwiebeln, Gurken und Tomaten mit Granatäpfelkernen. Jeder, der einen Wodka, ein kleines Gläschen zu einem Rubel, kauft, ist berechtigt, solange von diesen Delikatessen zu schmausen, wie er an dem Büfett zu stehen vermag. In Moskau erhält man nur in den für die Ausländer bestimmten Restaurants Wodka zu kaufen, und schon die bloße Aussicht, Speisen kostenlos zu erhalten, würde einen Aufstand entflammen.
Der Kaukasus ist anders. Der einzige üble Punkt besteht in der Tatsache, daß man, um in den Kaukasus zu gelangen, Rostoff passieren muß, die Stadt der Diebe, der Ziegen, der kaukasischen Bären, des Gestankes und Selmashstroys, der großen neuen Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen, der einzigen Fabrik in dem Fünfjahresplan in ganz Rußland, die ohne ausländische Hilfe erbaut worden ist.
Zu Anfang des Jahres 1930 eröffnet, hat Selmashstroy bis zum 1. Dezember 46 000 Erntewagen, 4000 Pferderechen, 86 Sämaschinen erzeugt. Das Programm für das kommende Jahr beläuft sich auf 100 000 Wagen, 100 000 Rechen, 15 000 Drillmaschinen, 13 000 Garbenbinder, 10 000 Universalpflüge, 2000 Hungerharken, 10 000 Heuwender, 10 000 Traktorpflüge und 2000 Scheiben-Eggen. Die Fabrik hat fast ihre gesamte maschinelle Einrichtung aus Amerika bezogen. Abgesehen von den Wagen stellen die Erzeugnisse der Fabrik landwirtschaftliche Maschinen dar, die früher in Amerika gekauft wurden.
Wenn auch nicht sämtliche landwirtschaftlichen Maschinen Rußlands aus den Vereinigten Staaten bezogen wurden, so ging doch ein sehr bedeutender Teil der Aufträge dorthin. Der Gesamtwert der Selmashstroyer Produktion soll 1930/31: 60 000 000 Rubel betragen. Das würde mindestens eine Verringerung der Bestellungen von landwirtschaftlichen Maschinen in Amerika von mehreren Millionen Dollar bedeuten, genau wie die Errichtung der großen Traktorenfabriken in Cheliabinsk, Stalingrad und Kharkoff bedeutet, daß, wenn sie erst in vollem Betriebe sind, keine neuen amerikanischen Traktoren mehr nach Rußland eingeführt werden.
Die 50 000 Traktoren der Cheliabinsker Fabrik, die 50 000 der Stalingrader Fabrik und die 50 000, die in Kharkoff erzeugt werden sollen, das ein genaues Nachbild der Stalingrader Fabrik ist, werden die Gesamtproduktion der Sowjetunion an Traktoren auf 150 000 Stück im Jahr bringen. Dies wiederum würde entweder heißen, daß die Sowjetunion anfängt, Traktoren zu exportieren, was für die nächsten paar Jahre auf jeden Fall äußerst unwahrscheinlich ist, oder daß ihre Getreideproduktion auf ein für ihre Rivalen, die Vereinigten Staaten einbegriffen, höchst unerfreuliches Volumen anschwillt. Die Sowjet-Traktoren- und -Getreidespezialisten erhoffen tatsächlich, sich ein derartiges Monopol auf dem europäischen Getreidemarkt zu erringen, daß die Weizenzüchter Amerikas sich gezwungen sehen werden, die angebaute Bodenfläche so zu verringern, daß sie lediglich der Befriedigung des heimischen Marktes dient.
Selmashstroy gab in höherem Maße, als die noch im Embryonalzustande befindliche Cheliabinsker Traktorenfabrik und die neugebackene Fabrik in Stalingrad, ein eindrucksvolles Bild von dem Wachstum der Sowjet-Industrie inmitten der Qualen und der Armut der unter dem Fünfjahresplan schmachtenden Bevölkerung. Nichts könnte diesen Gegensatz besser illustrieren, als das neue und schmucke Selmashstroy mit seinen eifrigen Arbeitern und Arbeiterinnen, welche die zahllosen Maschinen bedienen und vor deinen Augen nicht Statistiken, die illusorisch sein können, sondern Werkzeuge, die harte Tatsachen sind, erzeugen, und daneben der schmutzige Rostoffer Lebensmittelmarkt, umgeben von baufälligen Trödelläden, auf dem sich barfüßige Weiber drängen im Kampfe um ein Stückchen mit Fliegenschmutz bedeckten Fleisches.
Außerhalb von Rostoff, im Zentralkaukasus, tritt eine deutliche Verbesserung der allgemeinen Ernährungsbedingungen in Erscheinung. Mit Ausnahme von einigen Bezirken der Baschkirenrepublik wurden nirgendwo so viele Nahrungsmittel auf den Bahnhöfen feilgeboten. Hier erhielt man 10 Eier für 2 Rubel, Graubrot, junge, gebratene Hähnchen für 2 Rubel 50 Kopeken, Bologneser Wurst, Schinkenspeck, Äpfel, Birnen, Wassermelonen.
Gebräunte, hakennäsige Männer und Knaben, den Astrachaner Tabusch auf dem Kopf, oder mit weichen, weißen Sombreros aus grobem Filz, trieben Ziegenherden die Straßen entlang. Eine weißgekleidete, verschleierte Frau trabte, seitlings auf einem Esel sitzend, vorüber. Wir standen an der Pforte des Orients.
Derricks zeichnete sich gegen den Horizont ab, ein Dorf aus niedrigen Lehmhütten, uralte Architektur des Ostens an die Grundmauern eines Distrikts mit modernen Mietskasernen grenzend. Unsere elektrische Bahn rasselte parallel einer langen Strecke asphaltierten Weges dahin. Wir sahen das Kaspische Meer. Wir waren in Baku.
Dies ist die Hauptstadt der Republik, die den Fünfjahresplan nicht gleich dem übrigen Rußland in vier Jahren vollendet, sondern in zweieinhalb Jahren. Plakate verkünden das in der ganzen Stadt. Die Stadt ist darauf stolz, stolz, daß der reichste Trust in der Sowjetunion hier sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, und daß dieser Trust, »Azneft«, das Adjerbaidjan Naphtha Syndikat, tatsächlich im Begriff steht, das Produktionsprogramm, das auf fünf Jahre berechnet worden war, in der halben Zeit zu verwirklichen.
Meere von Öl, nicht figürlich, sondern buchstäblich, sind die erste Ursache zu Aznefts Erfolg, und die zweite Ursache war eine zähe Entschlossenheit, jede Tonne Öl mit der größten Schnelligkeit zu fördern und sie so rasch wie möglich in die für den Fünfjahresplan so verzweifelt benötigten Dollars umzuwandeln. Denn bis zu diesem Jahre, in dem Holz den Vorsprung erlangte, war Öl die ergiebigste Quelle fremder Währungen für die Sowjetregierung, die Ware, die sich am leichtesten in bourgeoises Hartgeld umwandeln ließ.
Wenige Menschen außer professionellen Ölfachleuten machen sich klar, daß die Sowjetunion Ölreserven besitzt, von denen Nicht-Sowjetfachleute sowohl, wie Sowjet-Experten behaupten, sie seien ergiebiger als die Quellen irgendeines anderen Landes. Die Sowjetbehörden sind nie kleinlich in der Einschätzung des natürlichen Reichtums ihres Landes, und sie berechnen die gesamten Öllager auf 32 000 000 000 Tonnen, von denen 10 000 000 000 allein in dem Gebiet von Azneft sich befinden. Die geologische Landesanstalt der Vereinigten Staaten schätzt die Ölreserven der Sowjetunion auf 6 775 000 000 Tonnen. Das Federal Oil Conservation Board gibt die Vorräte der Vereinigten Staaten auf nicht mehr als 5 500 000 000 Tonnen an. Über die Öllager Venezuelas gibt es keine Schätzung, aber man hält sie nicht für so groß, wie die amerikanischen Lager. Seit die geologische Landesanstalt ihre Schätzung der Sowjet-Öllager gemacht hat, sind neue reiche Ölfelder erschlossen worden, wie z. B. im vorigen Jahre Maikop mit einer riesigen Petroleumquelle, die Azneft dazu geführt hat, für dieses Feld allein am Ende des Fünfjahresplans eine jährliche Produktion von 14 000 000 Tonnen festzusetzen.
Nicht nur berufsmäßige Ölspezialisten verfolgen aufmerksam die Resultate der Sowjet-Ölproduktion, sondern die Zahlen müßten auch für jeden Laien, der sich ihrer Bedeutung bewußt ist, von Interesse sein. 1913 besaß das Vorkriegsrußland eine Gesamtausbeute von 62 834 000 Tonnen. 1926 übertraf die Sowjetproduktion bereits die Vorkriegsförderung. 1927 betrug sie 79 682 000 Tonnen; 1928: 83 992 000 Tonnen; 1929: 98 851 000 Tonnen und 1930: 119 700 000 Tonnen.
Der Fünfjahresplan verlangte in diesem Jahr nur eine Erzeugung von 113 400 000 Tonnen. Ursprünglich sah er vor, daß sich 1933 die Produktion auf 151 900 000 Tonnen belaufen sollte, aber die Wahrscheinlichkeit, daß die Industrie diese Zahl bereits 1931 erreichen würde, also in der Hälfte der vorgesehenen Zeit, führte zu der Festsetzung einer neuen Planziffer für 1933 von 280 000 000 Tonnen, d. h. von 341 Prozent der Vorplanausbeute. Gegenwärtig beläuft sich die Sowjetproduktion auf das Doppelte der Vorkriegsproduktion, und die Sowjetunion ist unter den führenden Petroleumländern in der Welt an die dritte Stelle gerückt und erreicht fast die Produktion Venezuelas mit 137 000 000 Tonnen, wenn auch ihre Produktion kaum mehr als ein Zehntel der amerikanischen Ölgewinnung von 1 005 603 000 Tonnen ausmacht.
Das einzigartige Charakteristikum des Sowjetpetroleums besteht in der Tatsache, daß die Sowjet-Ölindustrie nicht mit der übrigen Welt paktieren will. Während die anderen sich zusammentun, um einer Überproduktion Einhalt zu gebieten und die Preise auf einem gewinnbringenden Niveau zu halten, verdoppelt die Sowjetindustrie ihre ohnehin schon sehr großen Anstrengungen, um neue Quellen zu erschließen, die Ausbeute der bestehenden zu erhöhen und dem Ozean an Öl, der sich bereits aus den Häfen des Schwarzen Meeres auf die Weltmärkte ergießt, neue Ströme zuzuführen und aus dem durch die Einschränkung ihrer Rivalen aufgestelltem Preisniveau Vorteil zu ziehen. Ein Beamter der ausländischen Handelsmonopolgesellschaft erklärte mir gegenüber: »Ich gebe zu, wir sind unangenehme Leute. Das sind alle Rivalen.«
Wenn Baku auch auf Schönheit keinen Anspruch erheben kann, so zeigt es deutlich die Prosperität Aznefts. Keine Stadt in der Sowjetunion besitzt solch ausgedehnte Komplexe moderner Mietskasernen, sämtlich für die Ölarbeiter und die Angestellten Aznefts bestimmt. Über 20 Meilen vorzüglicher Asphaltstraßen fuhr ich Meile um Meile durch neue, schneeweiße Ansiedlungen in der neuorientalischen Architektur. Das Straßenbahnnetz, das die Pferde-Eisenbahn, die noch vor vier Jahren bestand, ersetzt hat, ist das beste in Rußland. Die neue elektrische Linie nach der »Schwarzen Stadt«, in der die Bohrtürme am dichtesten stehen, besitzt den schönsten Bahnhof und stellt fast die einzige großstädtische Bahnhofsanlage im Lande dar.
Ich wanderte durch die Stadt. Sie war beflaggt. Es war der Jahrestag der Erschießung der 26 Baku-Kommissare. In einer winkligen Straße sah man durch einen offenstehenden Torweg einen Kreis alter Männer mit ernsten Gesichtern eine große Eisenpfanne, angefüllt mit gebratenen Zwiebeln, umstehen und die leckere Speise direkt vom Feuer in die Münder führen. Hinter den Vorhängen einer Teestube klagte eine Flöte. An den Kaffeetischen saßen Männer und rauchten Wasserpfeifen. Ein Schuß ertönte.
Ich stand vor einer Schießbude. Eine Reihe phantastischer Scheiben: »Triff einen Kapitalisten und aufspringt ein Sozialdemokrat« – »Triff ein Schwein und dessen Schädel verwandelt sich in den Kopf eines feisten, dickbäckigen Bankiers«. Eine Scheibe erinnerte an eine historische Trauerstunde: »Unsere Antwort an Chamberlain. Triff sie und ein roter Soldat springt empor.« Schießt man auf die Kirche, dann erscheint ein Atheistenklub. Baku ist reich und dennoch rot.