Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Kranichstedter mißverstanden sich in diesen Tagen, während die Ildewig und der Spielmann langsam um eine Handbreite nach der andern aus der Wand herauswuchsen, öfter als sonst. Sie hielten sich gegenseitig Reden, über die der andre nur den Kopf schütteln konnte. »Hoffentlich«, sagte der Bürgermeister Müller in der Ratssitzung, »ist der Kalk über dem Bild nun bald ganz entfernt und Umschlag im neuen Ratssaal mit dem Wandbelag fertig, damit endlich wieder Ruhe wird in der Stadt und das Leben seinen gewohnten und nicht durch Überraschungen gestörten Tagesverlauf nimmt.«

220 Diese Sitzung fand in der sogenannten Bürgerstube statt. Sobald Umschlag seine Arbeiten beendet haben würde, sollte der Rat in dem neuen sogenannten Plattensaal tagen, weil der alte Ratssaal mit dem kostbaren Bild besonderen Feierlichkeiten vorbehalten werden mußte.

Diese inneren Stadtsorgen kümmerten nur die Einwohner. Aber die Welt blickte jetzt auf Kranichstedt und hielt den Atem an: Wann wird das große Bild der deutschen Musik frei vor Augen liegen? Und was werden wir zu sehen bekommen? Die Ildewig, die Türme Kranichstedts, alles war schon deutlich zu erkennen – nur noch ein Stückchen Himmel und der Kopf des Spielmanns mußten von der Deckschicht befreit werden: welches Antlitz wird der Genius der Musik tragen?

Leider fand diese Frage nie ihre Antwort. Schon lächelte Ildewig herab von der Wand, gütig hingebungsvoll und lieblich und allwissend mit feuchten Augen – wie aber längst vergangene Tage sich den großen Spielmann, den Geist der Musik, vorgestellt haben, das bleibt uns unbekannt. Alle Mühe und Kunst hatten nicht helfen können: das Angesicht des Spielmanns war undeutlich geblieben, verwischt. Der andächtige Beschauer konnte es nur ahnen, und jeder Beschauer erahnte nun ein anderes Gesicht – das wirkliche jedoch nicht. Als die Musik noch nahe war dem Urlaut der Natur, dem Rauschen des Gewässers, dem Vogelruf, den summenden Bienen, brausenden Baumwipfeln und wohl auch den singenden Windmühlenflügeln zu nächtlicher Stille – damals konnten die Menschen dem Genius der Musik noch menschliche Züge geben mit Hilfe von Stift und Farbe. Wer aber wollte wagen ihm ein Gesicht anzudichten, seit Johann Sebastian Bach und Mozart 221 und Beethoven das menschliche Antlitz getragen haben und jeder ein anderes, alle aber gleichermaßen undurchdringlich?

Viele Fremde kamen nach Kranichstedt, um das Bild zu sehen. Ehrfürchtig folgten ihre Augen den uralten Linien, ruhten nachdenklich auf den sanft leuchtenden Farben, und wenn sie sich endlich losrissen vom Anschauen und nachzudenken begannen, nickten die einen lächelnd: Es ist besser so. Andere jedoch, die alles zu wissen begehren, sagten achselzuckend: So war es, so ist es und bleibt es – wo die Wahrheit kommen muß, sitzt ein verwischter Fleck.

Aber auch die Einheimischen erschienen im Ildewigsaal.

»Ein so gewaltiges Bild ist nicht allein zum Ansehn da«, hatte Lichtermark gesagt, als er mit dem Bürgermeister das Bild betrachtete, »wir müssen Kranichstedt leben lassen vor diesem Hintergrunde.«

Dem Bürgermeister war es bei diesen Worten, in Erinnerung an unruhige Tage, eigentlich nach einem Seufzer zumute, aber er hatte dem Professor zugenickt: »Ja, aber Leben, das keinen Staub aufwirbelt. Das kann dem Bild keinen Schaden tun. Dafür könnte das lebendige Leben einen unserer lieben Stadt Kranichstedt würdigen Anfang nehmen in diesem Ildewigsaal.«

Lichtermark sah ihn fragend an.

»Ich denke«, fuhr der Bürgermeister fort, »der Standesbeamte soll die Trauungen vollziehen vor der Ildewig.«

»Herr Bürgermeister«, rief Lichtermark, »dann ordnen Sie morgen die erste an in diesem Saal! Sie können nicht ahnen, wie die hierher gehört.«

»Ach, Sie meinen den Andreas. Hm, der Mann ist ein Geiger.«

»Ich meinte jetzt mehr die Agnes.«

222 »Die macht ja wohl auch Musik?«

Lichtermark nickte: »Sie dient auch der Musik« – er zeigte auf die Ildewig im Bilde: »Wie die! Der lebendigen Musik! Aber – Agnes hat noch mehr hergegeben für sie als bloß ein Paar echtgoldener Pantoffeln.«

Diese Rede konnte der Bürgermeister nicht verstehen: »Ist der alte Kegel so reich?« fragte er.

»Ich weiß nur, daß sie barfuß geht.«

»Gott behüte!« rief der mitleidige Bürgermeister.

Lichtermark jedoch lächelte, er sah die heilige Ildewig an und sagte: »Aber sie steht nun so menschlich da auf ihren nackten Füßen.«

 

Ende

 


 << zurück