Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Aber andre Berufe verbergen auch ihre heimlichen Mißgeschicke in sich. Der Leser braucht sich gar nicht in die Höhen der Kunst zu bemühen, um nachher ihre dunklen Spiegelungen in einem etwas zweifelhaften und von der Polizei aufmerksam beobachteten Lokal namens Grotte mitansehn zu müssen. Da wohnt zum Beispiel in einer so übersichtlichen Kleinstadt wie Kranichstedt der Barbier und Friseur Thedor Kegel. Sein blankgeputztes Messingbecken ziert die enge Nickelsgasse. Wie jedermann weiß, ist das Barbiergewerbe ein sehr notwendiges und durchaus nicht mit den Unheimlichkeiten des Geigertums behaftetes Handwerk. Kegels Laden war als ein gutbesuchtes Geschäft mit fester Kundschaft bekannt. Er rasierte die Männer, seine Tochter Agnes bediente in einem besonderen Salon die Damen – allerdings nur zuweilen, wenn sie nämlich um wichtigerer Angelegenheiten halber nicht von einer Gehilfin vertreten wurde. In diesen Tagen rasierte Kegel nicht ganz so aufmerksam wie sonst, aber die Kundschaft nahm ihm seine Zerstreutheit nicht übel: der alte Thedor stand in Trauer. Er mußte in diesen Tagen seinen Bruder begraben und atmete auf, wenn er abends die Ladentür zuschließen und den einen oder andern Bekannten aufsuchen konnte, der den Bruder noch gekannt hatte, mit dem zusammen Kegel vor fünfzig Jahren aus dem Elternhaus gewandert war. Wenn jetzt aber Thedor Kegel hier oder da bei einem Nachbarn eintrat und nun die Trauer ein wenig wegreden 20 wollte mit Hilfe der Erinnerung, wenn er kaum den Auftakt zu einer schmerzlichen Betrachtung heraus hatte, war die Stimmung schon zerstört, denn Thedor erfüllte die Stube des Nachbars mit einem zarten Rosenduft. Eau de la rêve. Kegel konnte es nicht ändern. Der Geruch hing ihm eben an. Berufsduft. Rosen, Reseden, Frühlingswolken umfächelten ihn. Es philosophiere einmal jemand über Werden und Vergehen des Irdischen und dufte dabei nach Maiglöckchen – kein Mensch glaubt ihm ein Wort! Der Zuhörer hebt schon beim ersten Wort die Nase, schnüffelt ein wenig, macht ein freundliches Gesicht. Kegel hatte ein weiches Herz, zugänglich dem Traurigen – der Nachbar lächelt schnuppernd. Niedergeschlagen seufzte der Friseur und fing gar nicht erst richtig an mit Reden. In seinem Barbierladen freilich stutzte niemand über das Odeur von Eau de la rêve. Kegel rasierte den Fleischermeister Pröhle. »Ja«, begann er mit einem Seufzer, »morgen begräbt'n nu der alte Arcularius auf'm Marienfriedhof draußen. 's is mir leid, Meister. Aber was soll'n einer da sagen un tun? Das geringe bißchen tut'r, was in seinen Kräften steht. Ich hab'n heute früh nochmal schön gemacht für die Reise. Ordentlich rasiert un scharf nachgewaschen un gepudert. Un nachher frisiert, wie sich's gehört, 'n Scheitel links hinten durchgezogen, wie er'n immer trug, als'r noch lebte, jeja.«

Kegel beschwor mit stiller Stimme grausige Bilder, die einer beruhigenden Antwort des Nachbars Pröhle gewiß wert waren. Aber der Fleischermeister konnte den Mund nicht aufmachen! Aus technischen Gründen nicht. Kegel preßte ihm beim Rasieren den Mund zu. Und jetzt wollte der Barbier noch ein paar versteckte kleine Stoppeln vors 21 Messer kriegen, drückte die feisten Wangen des Meisters fest gegen die Ohren – plötzlich hielt Kegel das Rasiermesser reglos: von der letzten Reiseausrüstung seines alten Bruders hatte er doch gesprochen zu einem verständigen und teilnehmenden Nachbarn – und da blickte er in das Gesicht eines lachenden Posaunenengels. Eine Sekunde nur. Aber Kegel schwieg wieder. Das Schmerzliche, Traurige lag eben nicht in seinem Beruf. Handwerk hat einen goldenen Boden, gewiß doch. Aber jedes Handwerk gibt seinem Mann auch unverrückbar die Haltung, und aus der entläßt ihn die Welt nicht! Wer von Jugend auf die leichte elegante Bewegung der rechten Hand geübt hat – Rasiermesser zwischen drei Fingern, der kleine Finger zierlich abgespreizt – der wird schwerlich einen Bann harter Männer oder dunkler Gedanken erfolgreich ins Feld führen. Es findet sich jeder nur bestätigt in seinem Geviert Beruf; in dem, was er zu sein scheint. Was darüber ist, rempelt an einen Nachbar, der dort bereits, ein berechtigter Stammsitzmieter, beruflich haust – denn jedes Geviert ist besetzt, und in Eigentumsrechten versteht Kranichstedt keinen Spaß. Nur unsre Allernächsten wissen bei Lebzeiten, was hinter uns steckt. Oder nicht steckt. Der alte Kegel war leider Witwer, aber ein Trost war ihm geblieben: die Tochter.

Bedrückt stieg er die enge Treppe hinauf und klopfte an ihre Türe. Agnes sah ihn fragend an und wahrlich nicht aus einem Maskengesicht, wie die Rasierkundschaft im Laden unten: ein holdes Antlitz, aus dem die unverwundeten Augen lächelten, welche in zwanzig Jahren noch keine Gelegenheit hatten, die aufgerissenen Flanken des Lebens unter der Kunstseide zu erblicken. Diese Tochter war ganz nach Thedor Kegels Sinn geraten. In dem blitzsauberen, 22 wohldurchdüfteten Barbierhaus war sie herangewachsen und fand überall den angeborenen Sinn fürs Feinere genährt. Der alte Kegel brauchte oft altmodische Worte, besonders »apart« hätte er gern bei allen möglichen Gelegenheiten gesagt. Aber es gab ja nicht viel Apartes. Nur Agnes! Agnes war wirklich ein apartes Mädchen. Der alte Kegel setzte sich auf den Bettrand und sah zu, wie sie da noch fleißig um Geldverdienst Zöpfe von Frauenhaar flocht, wie ihre emsigen Finger die flirrenden Fäden zu Strähnen ordneten, die Bündel zierlich übers Kreuz verflochten: »Das hast du von deiner seligen Mutter, Agnes. Die Kegeln, jeja . . . wer sie noch gekannt hat. Wenn sie so die Nickelsgasse längs ging, die konnte sonstwer sein . . .« Alles wäre gut gewesen – aber Agnes hatte auch allerlei von ihrem Vater geerbt: dieses Besinnliche, das die jugendliche Mädchenfreude am Traurigsein vertiefte. Und das Musikalische! Thedor hatte stets betont: »Ich habe Gehör.« Aber Agnes sah auch noch musikalisch aus. Wer sie erblickte, blieb stehen und hätte am liebsten gleich gefragt: Spielen Sie Klavier oder singen Sie? Agnes spielte aber Geige – das war erst recht apart und Thedor Kegels besonderer Stolz. Befriedigt teilte er der Barbierkundschaft mit, was Agnes zur Zeit spielte und nannte dabei schwer auszusprechende Namen italienischer Meister, die kein Mensch im Laden bis dahin jemals gehört hatte. Er fügte wohl auch hinzu, daß das ein Andante grazioso sei, was da eben von oben erklinge. So wäre alles schön gewesen und sehr gut. Die Geige, der große Italiener und das Grazioso paßten dem alten Thedor wunderbar ins Haus. Aber der Geigenlehrer!

»Dieser Andreas, Agnes« – Kegel schüttelte den 23 Kopf – »gibt es denn keinen anderen? Ein Lehrer muß doch wenigstens auch wie 'n Lehrer aussehn. Drei Wochen hat er grade noch einen Knopf am Rocke gehabt. Seit gestern fehlt der auch. Unrasiert läuft er rum, so 's ihm paßt. Und, lieber Gott, wenn er sich die Haare bloß zweimal im Jahre schneiden läßt, muß er sie doch wenigstens kämmen. Nicht bloß mit 'n fünf Fingern durchfahren. Wenn einer so wenig auf Proppertät hält –«

»Hast du mal gehört, wenn er Doppelgriffe spielt, in Allegro?«

»Was hat Allegro zu tun mit der Proppertät?«

»Viel, Vater. Wer so schwere Noten so goldrein spielt, hat viele Tage und Nächte gelernt. Und wer so arbeitet, hat die Proppertät, wie du 's nennst, in sich. Auch ungekämmt. Vielleicht hat er keinen Kamm.«

Kegel sah seine Tochter forschend von der Seite an. Dann sagte er: »Das ist nicht fein, Agnes. Das ist nicht mal anständig. Gegen das Arbeiten will ich nichts gesagt haben« – er seufzte – »aber so ein wütendes Wesen muß der Mensch nicht zum Vorbild nehmen. Willst du etwa auch geigen nächtedurch und später mit schiefen Absätzen und wilden Haaren rumlaufen?«

Agnes beugte sich tiefer auf ihre Arbeit: »Ach, Vater, ich lerne so gut ich kann, was mir Andreas vorspielt. Der lernt auch. Aber der ist ein Meister. Der lernt geigen, was ihm von innen kommt.«

Von innen . . . bei diesem Äußeren? Daß doch das Schöne nicht auch schön daherkommt, wie sich's eigentlich gehört, dachte Thedor, eines Friseurs Sohn und selbst Friseur seit seiner Jugendzeit, der es eigentlich von Beruf verstehen müßte. Ja, alter Vater Kegel, es ist sehr 24 merkwürdig, daß das Schöne und Gute mit Müh und Not über dem polternden Zug von Gerümpel grade eben noch so weit hochgehalten werden kann, daß es nicht verschwindet in Schutt und Müll.

»Gott behüte dich, Agnes. Gute Nacht.«

Thedor stieg in tiefen Gedanken die Holztreppe hinunter.

 


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