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Andächtig hatte Andreas diese Geschichte gelesen von dem Musikanten, dem in der Not und dann in höchster Not abermals eine liebliche Heilige geholfen hatte. Andreas seufzte tief. Dergleichen glaubte er nie erfahren zu haben. So ist der Mensch – da hält er eine Stradivari auf der Bank im Rosental in der Hand, sagt rechtens vor Gott und sich: Weiß gar nicht wie – und merkt das Wunder nicht, weiß nur, daß es in drei Tagen vorbei ist mit der Stradivari und mit ihm, weil er aus dem Wunder Wirklichkeit zu machen gewagt hat. Denn in der Wirklichkeit münden alle Wunder in den Tod.
Ein schlauer Lebenskenner meidet das Wunderhafte, überläßt es lieber denen, die selber als Wunder für eine kleine Weile ins wirkliche Weltwesen gestellt sind. Mittenzwey hatte nie etwas anderes von der Ildewig gesehen als ihren grünglasierten Rock. Darum konnte er bei der Ausarbeitung seiner Rede, die er auf dem Empfang des Quartettvereins zu halten hatte, ruhig von der heiligen Ildewig ausgehen. Mittenzweys Rede drehte sich auch nicht um ein Wunder, sondern um ein Denkmal, das an Stelle des alten Bildwerks der Marienkirche in wenigen 92 Tagen bei der Tausendjahrfeier in der Nische der Rathauswand eingeweiht werden sollte.
Eine ausgleichende Rede war auch dringend notwendig. Denkmäler werden von Künstlern geschaffen, und Künstler leben nicht überall in der Eintracht, die das Setzen von Monumenten zum Genuß für die Behörden macht. Zwei Künstler hatten ihre Fähigkeiten zur Verfügung gestellt: der Meister Umschlag, ein Kunsttöpfer, und Meister Hauke, ein Metallkünstler. Hauke war Kranichstedter Einwohner. Das sprach für ihn. Umschlag wohnte nur im nahen Bürgel, aber er konnte auf das zerstörte Ildewigbild weisen und sprechen: »Dieses Werk ist aus glasiertem Ton geschaffen worden vor vielen hundert Jahren – warum? Weil der edle Töpferton ein Bestandteil unserer heimischen Erde ist. Aus gebranntem Ton muß unsre neue Ildewig gemacht werden!« Hauke jedoch wies erst recht auf das zerstörte Bildwerk und sprach: »Dieses Werk aus glasiertem Tone ist zerstört – warum? Weil gebrannter Ton eine zerbrechliche Ware ist. Aus Metall muß unsere neue Ildewig hergestellt werden!« – »Metall?« rief Meister Umschlag, »Bronze hat andre Aufgaben, als in Form von Heiligen in Wandnischen herumzustehen!« – »Bronze?« fragte Meister Hauke erzürnt, »wer redet von Bronze? Das fast wie Silber glänzende Aluminium ist das Metall unserer Zeit. Das tausendjährige Kranichstedt hat hier die Gelegenheit, vorbildlich zu wirken für alle Städte rings im Lande, die nach ihm das tausendjährige Bestehen feiern werden!« Umschlag schilderte dagegen wieder in lockenden Worten die bunten Glasurfarben seines Werkstoffes und bemerkte zum Schluß, daß er um gut ein Viertel billiger wäre mit Arbeit aus gebranntem Ton. »Für mein Viertel 93 mehr kann man einer Aluminiumheiligen auch nicht den Kopf abschlagen!« rief Hauke und bemerkte seinerseits zum Schluß, daß er dem Bildwerk einen ganz besonderen Reiz verleihen könnte, nämlich die Pantoffeln der Heiligen echt vergolden!
Dieser sinnige Einfall schlug durch. Meister Hauke erhielt den Preis. Die Arbeit war eilig. Unverdrossen arbeitete er Tag und Nacht. Aber Hauke arbeitete im Verborgenen. Er wußte aus Erfahrung, daß ein abgeschlossenes Werk die Einwohner immer erfreut, es sei, wie es sei. Unfertiges dagegen beunruhigt. Entwürfe wie Scherben verlocken zum Rätselraten, und wenn die Kranichstedter raten, kommt als Lösung immer Kranichstedt raus. Im Falle dieses Ildewigdenkmals mußte das vermieden werden. Der engere Denkmalsrat hatte nämlich eine Verschiebung des geistigen Schwerpunktes beschlossen. Im Mittelpunkt des alten Bildwerkes war der grünglasierte Rock der Heiligen zu sehen. Das neue Denkmal sollte den Spielmann in der Mitte zeigen. Diese Anregung war Mittenzwey zu verdanken. Er hatte gesagt: »Man wolle bedenken, nicht auf eine ehemalige Heilige, auf den Spielmann hat das Bildwerk unsern Blick zu lenken. In meiner Eigenschaft als Vorstand des Quartettvereins beobachte ich täglich, wie jede Gelegenheit ergriffen werden muß, um die der Musik noch Fernstehenden dem Konzertsaal zu gewinnen. Der Quartettverein zählt heute hundertzehn ordentliche und sechzig außerordentliche Mitglieder. Dazu kommen fünf Ehrenmitglieder. Wieviel mehr Einwohner müßten doch, auch im Hinblick auf das Wahrzeichen unserer Stadt, die ordentliche Mitgliedschaft längst erworben haben! Man komponiere den Spielmann augenfällig als Blickfang in die 94 Mitte. Die ehemalige Heilige möge ihren Platz links von ihm finden. Der Galgen, sofern er überhaupt den künstlerischen Intentionen Haukes entspricht, könnte rechter Hand angedeutet werden. Dann hat Kranichstedt an seinem tausendsten Geburtstag symbolisch dargetan, daß sein Tun und Denken dem Leben gilt, dem praktischen Dienst an der Kunst. Rücken wir das Ehemalige auf die Seite. Es flankiere das Lebendige nur, meine Verehrten!«