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Der Leipziger Wohltäter des Andreas hieß Schmalfuß und war der Inhaber einer in der Regel erst nach Mitternacht besuchten Gaststätte namens Grotte. Herren in Gesellschaftskleidung erschienen hier in vorgerückter Nachtstunde, um nach einer anstrengenden Tafelei oder aufregenden Oper noch ein Pilsner zu trinken, ohne erst den Hut abnehmen oder sich sonst in ihren Äußerungen irgendeinen Zwang antun zu müssen. Auch Herren ohne Frack verkehrten in der Grotte und setzten sich schon von etwa elf Uhr an, aber gleichfalls ganz zwanglos, in eine der vielen Ecken hinter den Wein. In einem jedoch stimmten alle bei Schmalfuß Erholung suchenden Herren überein: ihre Damen brachten sie nicht mit in die Grotte, denn das weibliche Element war hier in Gestalt anmutiger und gutherziger Kellnerinnen bereits hinreichend vertreten. Das hübscheste dieser freundlichen Kinder hieß Hasel, war schlank, schwarzhaarig, meist sehr guter Dinge und liebte leise, weiche Melodien. Die Kunst des Andreas bestand nun darin, solche Melodien – natürlich nicht für Hasel, sondern zugunsten der zahlenden Besucher – auf dem sehr schlechten Klavier des Herrn Schmalfuß zum Erklingen zu bringen. Bis zur Polizeistunde und gelegentlich nach ihr machte Andreas in der Grotte leise Musik und bekam dafür neben anerkennenswert guten Getränken ein so vorzügliches Abendessen, daß er der Sorge um die Leibesnahrung zur Not auch 16 für den anderen Tag noch überhoben war. Was er nämlich nicht vertilgen konnte, wickelte Hasel in eine Papierserviette und steckte es ihm in die Rocktasche. Vielleicht stahl Hasel auch in der Küche für Andreas, was sie kriegen konnte – jedenfalls drückte Schmalfuß in diesem Fall seine beiden sonst sehr flink hin und her gehenden Äuglein zu. Er hätte nämlich diesen Musikanten am liebsten für alle sieben Nächte der Woche gegen gutes Essen in seine Dienste genommen: Andreas verstand lockeren Handgelenkes die zärtlichsten Melodien aus dem klapprigen Klavier zu zaubern. Mochte er Hasel auch zuweilen einmal von der sonstigen Bedienung abhalten – seine Kunst wog diesen Schaden auf. »Nichts hat der Mensch umsonst«, murmelte Schmalfuß, »und eines Tages habe ich ihn; denn Liebe ist nicht nur ein fester Kitt, sondern auch, für den unbeteiligten Dritten, ein sehr billiger Kitt.«
Noch waren die etwas dürftig erhellten Stuben der Grotte leer. Andreas hatte gespeist, saß am Klavier. Träumend ließ er musikalische Gedanken aufklingen, wolkenhaft hinziehn über das unverrückbare Bild tief in ihm: über jene wunderbare Geige Stradivaris zogen seine Melodien ihre Schatten. Nicht der magere Ton des alten Klaviers störte ihn. Auch Hasel nicht, die ihren Kopf an seinen lehnte und ihr schwarzes Haar in seine aschblonde Mähne drückte. Sie zeigte auf eine Taste: »Nicht da drauf kommen, die klappert.«
Andreas schüttelte den Kopf: »Ist nicht schlimm, Hasel« – er spielte leise weiter – »ein Klavier, zur Not, kann auch schlecht sein. Auch der herrlichste Flügel bedeutet bloß den Ton, der gemeint ist. Vor ein paar hundert Jahren hat jemand Klaviermusik geschrieben ohne eine Ahnung von 17 dem, was ein großer Konzertflügel ist« – Andreas seufzte und ließ die Hände aufs Knie fallen – »Aber die Geige, Hasel. Geigenmusik hat erst geschrieben werden können, nachdem die vollkommene Geige gebaut war. Das ist's ja. Die Geige bedeutet nichts: die ist, was sie ist. Die kann nur durch die Ohren hineinklingen in dich und nur den Ton, den sie eben hergibt. Die ist immer nur sie selber. Sieh den Jammerkasten hier an: der kann alles bedeuten, ein ganzes Orchester. Aber eine Geige muß gut sein. Wie du, Hasel« – er umfaßte sie – »was du nicht bist, das bedeutest du auch nicht.«
Hasel griff mit beiden Händen in seine Haare, zog des Andreas Kopf hintenüber: »Wieviel bin ich also?« fragte sie leise.
Er hielt still und sah sie nachdenklich an: »Wieviel? Nach dem Metermaß? Ihr seid so schwer zu messen. Es gibt Frauen, die sind nicht bloß da. Die bedeuten auch was –«
»Wie das da?« – Hasel zeigte hochmütig auf das Klavier.
»Auch wie das. Ich habe neulich eine Frau gesehn –«
»Andreas!«
»Laß los! Das tut doch weh. Sie war ja bloß aus Marmor. Und zerbrochen. Ohne Arme. Beinahe ein Trümmerhaufen. Und der steinigte Rest noch bedeutet – euch alle.«
Mißtrauisch hörte Hasel diese dunklen Sprüche an: »Sag mal, was stellst du dir eigentlich unter mir vor?«
Er nahm sie auf seinen Schoß: »Gar nichts. Ich sagte 's ja schon. Du bist du. Bloß du und bloß so. Wie eine Geige sein muß. Es gibt Geigen! Nicht viele mehr. Aber wenn 18 du hier raus gehst, die Straße rechts, immer weiter, und dann noch zweimal links und am Ende gradaus: da liegt eine – oh, eine Geige, Hasel . . .«
»Und ich?« Sie umhalste und küßte ihn. –
Herr Schmalfuß war schon zweimal am Klavier vorbeigegangen. Aber er trug aus Geschäftsgründen Schuhe mit Gummisohlen. Keiner hörte ihn. Nicht ohne Sorge betrachtete der Inhaber der Grotte den zweifellos überlasteten Klavierstuhl. Gewiß, sachlich hatte er nichts einzuwenden gegen eine möglichst enge Verbindung des Andreas mit der Grotte – aber da kamen schon wieder zwei Gäste. Der Wirt hustete. Andreas fuhr zusammen, und Hasel glitt von seinen Knien herab, strich ihr Haar glatt. Der Klavierspieler rückte sich zurecht: »Was wollte ich doch hier? . . . Ja, Musik« . . . er sah die Elfenbeintasten an: »Wie die?« . . . er sah Hasel an, die ihm durch den Spiegel an der Wand zulächelte . . . »Oder Musik wie die?« murmelte er und griff den erwartungsträchtigen Mollakkord, schlug das Stimm-A an und sah durch das gläserne Spiegelbild Hasels hindurch in einem gläsern spiegelnden Kasten seine Geliebte ruhen: die Stradivari . . . »Oh, wie die«, sagte er lächelnd, »auf italienischem Sammet ruht sie, nackt und schön und keusch. In einem gläsernen Kristall. Ein geflügeltes Lebewesen, eingeschlossen in Bernstein, unberührbar« – eine wilde Freude durchzuckte ihn: »Und ich habe sie doch! Ich, Andreas, Zweiter Geiger zu Kranichstedt, ich höre sie, wenn ich will.«
Hören, freilich. Nur spielen konnte er sie nicht, wenn er wollte, diese seine Geliebte im Kristall, dies sein wahres Du im Bernstein. Denn vor dem Glaskasten im Museum steht ein Wächter. Und vor dem Wächter ein Oberwächter. 19 Vor dem Oberwächter ein Kustode. Diesem vorgesetzt ein Unterdirektor. Und über alles gesetzt ein Oberdirektor . . . schwer zu tragen, so ein wahres Geigertum ohne wahre Geige.