Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»O Becker, Beckerchen, du armer alter Becker!« Lichtermark drängelte dem Ausgang zu. Dieser alte Herr, sonst die Zuvorkommenheit in Person, drückte die Gewandhausbesucher beiseite wie ein Barbar, geriet in schwere Auseinandersetzungen mit der Garderobefrau, nahm am Portal einem anderen die Droschke vor der Nase weg und rollte nach Connewitz hinaus, wo Becker wohnte.

Aber völlig wider Erwarten fand er keinen zusammengebrochenen, stumpf vor sich hinstierenden Museumsdirektor vor, der nicht nur bestohlen, sondern auch noch von seinem alten Freund Lichtermark schmählich belogen und betrogen war, sondern einen Mann, der Rotwein trank und ruhig vor sich hinrauchte.

»Die Stradivari –« polterte Lichtermark ins Zimmer.

»Kommt«, sprach Becker und wandte sich zum Dienstmädchen. »Noch ein Glas, und stellen Sie die andre Flasche an den Ofen.«

»Sie kommt?!«

»Nehmen Sie Platz, lieber Lichtermark.« Becker hob das Glas: »Auf das Wohl unseres verehrten Gewandhausdirigenten.«

193 »Sehr gut«, sprach Lichtermark und ließ offen, ob er den Wein oder den Geheimrat meinte.

Becker begann zu erzählen: »Ich sitze also in meinem Zimmer und warte. Eine Stunde, zwei, drei . . . Ich lasse mir aus einer Destille nahebei einen Bissen zu essen holen. Ich warte. Die Stunde des Museumsschlusses kommt. Schließlich muß auch geschlossen werden. Sein Sie froh, daß Sie nicht gehört haben, was ich über Sie gesagt habe, Lichtermark – ich warte also. Zu Kriminalrat Klitz will ich nicht schicken vorläufig – nur wegen Ihnen nicht, Lichtermark! Denn Sie wären nun natürlich zuerst polizeilich vernommen worden. Nur gut, daß Schurch zu meinem Troste im Museum blieb. Der konnte für mich nach der Apotheke laufen und 'n Mittel holen: Sie können sich ja wohl denken, wie es um mich stand. Da ruft das Gewandhaus an. In der Konzertpause. Der Geheimrat selber am Fernsprecher. Andreas habe ihm eben in der Pause alles erzählt. Ich solle nur ruhig sein. Der Kerl, dieser Mensch, dieser – na, ich will nichts sagen, dieser Andreas also speise bei ihm nach dem Konzert. Der Geheimrat werde mir die Stradivari heute noch durch seinen Diener zustellen lassen. Die ganze Sache drehe sich ja um einen Geiger von Rang und sei zwar ungewöhnlich und bedauerlich, aber –«

»Haha, Beckerchen, habe ich Ihnen das nicht auch gesagt?«

»Gesagt schon, Lichtermark, aber meine Stradivari haben Sie mir nicht wieder beigebracht. Die Aufregungen der drei Tage kosten mich drei Lebensjahre.«

»Ih, Beckerchen, Sie machen eine Badereise. Radiumquellen wirken Wunder.«

194 Langsam und stetig rückte der Uhrzeiger vor. Elf Uhr. Halb zwölf. Dreiviertel zwölf . . .

»Was sagen Sie dazu, Lichtermark?«

»Je, Becker . . .«

»So sind die Künstler! Gewiß, es geht nicht ohne sie. Von alleine klingt auch eine Stradivari nicht. Aber ist das zu glauben? Nun schickt auch der Geheimrat nicht!«

»Der war auch ein Geiger in seiner Jugend, Becker. Wahrscheinlich wirkt so eine Stradivari ansteckend auf ihresgleichen. Der Geheimrat braucht vielleicht auch erst eine Weile, um den Anblick zu überwinden.«

»Gott sei Dank, daß Sie hier bei mir sind – Lichtermark?«

»Ja, Beckerchen?«

»Wir haben soviel zusammen durchgemacht heute – wollen wir nicht Brüderschaft trinken zum Andenken an den schweren Tag?«

»Haha, Bruder Becker!« Sie griffen zu den Gläsern. Die Gläser klangen, aber der Klang läutete weiter, immer weiter – die Standuhr schlug langsam und gemächlich zwölf.

»Jetzt beginnt die Geisterstunde, Lichtermark.«

»Mir ist es zumute, Becker, als ob es schon seit zwanzig Stunden spukte . . .«

 


 << zurück weiter >>