Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Ächzend vor Befriedigung verließ Lichtermark das Museum. Auf der Freitreppe blieb er stehen, sah sich noch einmal um in Nähe und Weite, ob vielleicht grade ein junger Mensch mit einem Geigenkasten gelaufen käme. Dem hätte er jetzt einiges zu sagen. Aber nur Menschen mit Aktenmappen erblickte er, mit Körben, Marktnetzen, Paketen. Ein Geigenträger war nirgends zu sehen. Sorge machte sich Lichtermark nicht deshalb. Wenn er allein mit dem Subjekt zu tun hätte – oh, dann würde Lichtermark vielleicht beten gegangen sein, in eine Kirche nahebei. Aber Lichtermark hatte eine heimliche Verbündete: eine Stradivari ist stark – eine Agnes ist stärker. Ildewig! Und dieser Ildewig mit dem Vornamen Agnes kostete die heillose Geschichte bei Gott noch mehr als einen oder als zwei massiv goldene Pantoffeln! Man müßte ihn doch dreschen, sagte sich Lichtermark. Spähend ging er durch die Grimmaische Straße. Aber aufhalten konnte er sich hier nicht. Er hatte das Seinige getan. Er hatte jetzt Hunger. Und Durst! Durst vor allem, die Kehle war ihm staubtrocken vom langen Reden.

Geräuschvoll trat er ein in der Gaststätte zum Kaffeebaum, setzte sich breit und behaglich unter das Bild Robert Schumanns. Das war auch so einer, murmelte er und sprach dann laut zu dem herantretenden Kellner: »Zunächst, mein lieber Herr Ober, ein dunkles ganzes Tucher.«

Lichtermark biß in ein Kümmelbrötchen. Er griff nach 186 dem Glas voll schäumenden Bieres, liebäugelte erst genüßlich mit dem vollen Becher, setzte ihn dann an und trank ihn aus. Staunend sah der Kellner diesem Trunke zu: »Der Herr hat Durscht gehabt.«

»Ahh« – Lichtermark stieß das leere Glas auf den Tisch – »und nun: was haben wir zu essen?«

»Wie wärsch mit 'm schönen Eisbein?«

»Läßt sich hören. Nicht zu fett?«

»Wir suchen 'n bißchen 'n mageres aus.«

»Aber auch nicht zu mager?«

»'n Schichtchen nur so rund drumrum, wie sich's gehört.«

Lichtermark speiste, trank, speiste, trank. Allmählich wurde er wieder Mensch. Ein Glück, daß der nunmehr wieder zu Kräften gekommene Professor nicht ahnte, daß gar nicht weit vom Kaffeebaum Andreas saß und ebenfalls wieder zu Kräften kam. Im Ratskeller vollzog der Geiger seine Stärkung, dort, wo die Tische weiß gedeckt sind, also eine Preisstufe höher als Lichtermark. Zwar trank Andreas heute keinen Tropfen Wein, aber sein Blick ruhte trunken auf dem Kasten mit der Stradivari. Nun konnte – nein: nun durfte er sie erst morgen früh ins Museum bringen. Aber wieviel leichteren Herzens! Andreas würde sie samt den Besprechungen des heutigen Gewandhauskonzertes zu Direktor Becker bringen!

In der vollen inneren Ruhe eines Mannes, der mehr als seine Pflicht getan und eine Stradivari, einen Museumsdirektor, zwei junge Menschen und ein Stück lebendige deutsche Musik gerettet hat, saß Lichtermark im Kaffeebaum. Andreas fieberte im Ratskeller. Nach dem letzten Bissen sprang er auf und machte sich auf die Suche nach 187 einem Frackverleihgeschäft. Der Oberkellner hatte ihm die leistungsfähigste Firma am Platze nennen müssen. Der Frackanzug wurde rasch gefunden, Andreas brauchte aber noch mehr Kleidungsstücke.

»Und einen leichten Sommermantel«, sagte er zu dem Verleiher.

Auch der Mantel saß.

»Und einen weichen, breitrandigen, grauen Hut.«

»Nee, mein Herr. Die Fasson ist heute nicht mehr gängig.«

Andreas kaufte sich eine solche Kopfbedeckung in einem etwas abgelegenen Geschäft, wo Hüte solcher Form noch als Ladenhüter auf der obersten Borte zu finden sind. Dieser Mann, der sonst fast nichts besaß, verfügte jetzt über zwei Hüte: der andre hing seit drei Tagen freilich im Künstlerzimmer des Gasthofs zum Lamm in Kranichstedt.

Mit allem Nötigen, über das ein Solist verfügen muß, wohlversehen, mit Geige, Frack und Mantel, eilte Andreas in die Grotte. Er wußte keinen anderen Ort in Leipzig, an dem er ungestört üben konnte.

Herr Schmalfuß war allein anwesend in den zu dieser Stunde völlig leeren Räumen und rechnete. Den unzuverlässigen Grottenmusikanten sah er zunächst schief an, wurde aber freundlicher, als Andreas einen starken Kaffee bestellte, für die Zeit gegen fünf Uhr wieder einen Kaffee vorsah und um sechs Uhr ein leichtes Abendessen: »Etwas Rührei vielleicht, eine Fleischbrühe vorher. Als Nachtisch genügt Obst. Und dazu ein Glas Sekt. Nur ein Glas. Aber von Ihrem allerbesten Wein.« Anfangs hatte der Grotten-Wirt seinen Musikanten groß angesehen, als aber Andreas seine letzten Worte mit einem leichten Klimpern 188 von Silberstücken in der Hosentasche begleitete, sprach Schmalfuß: »Ach so.«

»Ja«, sagte der Geiger nachlässig, »ich spiele heute abend im Gewandhaus. Ich darf wohl eine, zwei Stunden im Hinterzimmer ungestört geigen?«

Herr Schmalfuß erhob sich höflich: »Aber mit dem größten Vergnügen. Zugleich erlaube ich mir, meinen aufrichtig ergebensten Glückwunsch auszusprechen.«

»Danke«, antwortete Andreas. »Ich ziehe mich auch gleich um bei Ihnen. Die Sachen hole ich morgen wieder ab. Jetzt kann ich mich um gar nichts sonst mehr kümmern als um mein Konzert. Um überhaupt nichts. Sie verstehen. Ich schließe die Tür hinter mir zu.«

»Verstehe absolut. Nur eine kleine Frage: Wie wär's heute abend – heute nacht, meine ich – mit 'm kleinen Stück Musik in der Grotte? 'n Stück nur, Herr Andreas. Für 'n alten Freund. 's ist der Grotte eine Ehre. Und wir haben Sie doch sozusagen entdeckt hier.«

Andreas nickte lächelnd: »Der Wahrheit die Ehre, Herr Schmalfuß, vor dem Leipziger Publikum haben Sie mich jedenfalls zuerst öffentlich auftreten lassen. Aber versprechen kann ich heute nichts. Wir wollen sehen.«

Der Grottenwirt saß nach einer Weile wieder über den Rechenbüchern und überlegte, ob eine Bekanntmachung folgenden Inhalts den Geschäftsinteressen seiner Gaststätte nützlich sei: Den verehrlichen Gästen meines Nachtlokales zur Mitteilung, daß der berühmte Geiger Andreas – den werten Besuchern der Grotte seit langem bekannt und von ihnen geschätzt wegen seiner hochkünstlerischen Stimmungsmusik – voraussichtlich heute abend nicht musizieren wird, da selbiger ein Konzert im Gewandhaus gibt.

189 Schmalfuß horchte auf. Aus dem Nebenzimmer erklang auf der Stradivari ein Satz aus dem Beethovenkonzert – lockt eine solche Mitteilung Grottengäste an? Oder schreckt sie ab?

Angestrengt horchte der Wirt eine Weile auf die Musik. Dann schüttelte er den Kopf: »Lieber nichts dergleichen anschreiben – es schreckt doch ab.«

 


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