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Am nächsten Tage erschien Andreas später als sonst in Schurchs Machtbereich, am späten Nachmittag erst, als der Aufsichtsbeamte schon mit dem Schlüsselbund klapperte. Andreas stellte seinen leeren Geigenkasten neben den Schirmhalter an der Garderobe und eilte in den Saal der Streichinstrumente. Er geigte diesmal nicht die leere Luft vor der Stradivari. Er starrte die Stradivari nur an aus rot entzündeten Augen. Schurch ging die große Klingel holen. Für heute war wieder einmal Schluß mit der Arbeit. Schurch befand sich in angenehmer Stimmung. Ein schöner Tag, ein ruhiger Tag war vergangen. Keine Besucher hatten ihn in seinen Betrachtungen gestört, nur am Morgen war ein Ausländer im Museum gewesen, und jetzt erschien noch der Geiger. Aber den wird Schurch gleich verscheucht haben.
Als er mit der Klingel kam, war auch dieser Besucher 61 schon fort. Zufrieden faßte Schurch die Klingel am Klöppel, ging in sein Kämmerchen, zog seinen Zivilrock an, schritt dann hallend durch die leeren Säle und gab das Schlüsselbund dem Pförtner.
»Warte auf mich, Schurch,« gähnte der Türhüter, »ich bin gleich fertig.«
Nach einer Weile rasselte der Schlüssel außen im Schloß des Portals. Die Wächter schritten die Freitreppe hinab. Das Haus war wohlversorgt.
Eine Stunde, zwei, lag das Innere des Museums in der vorschriftsmäßigen tiefen Ruhe. Aber dieses Haus barg in dieser Nacht nicht nur Tausende von Musikinstrumenten, sondern auch einen Musikanten. Musikinstrumente halten still, Musiker halten selten still.
Andreas nämlich hatte heute keine innere Erhebung im Anschauen der Stradivari gefunden. Ihr Anblick schuf ihm bittere Schmerzen. Er wollte gehen, schritt lässig, müde durch den Nebenraum mit den Bildern der großen Meister. Er sah nicht auf nach den goldenen Rahmen mit den lorbeerumwundenen Namensschildern, ließ den Kopf noch tiefer hängen: Denen folgen ihre Werke nach, denen war viel zu tun vergönnt, ehe sie das Leben verlassen und in ihre goldenen Rahmen steigen mußten – was habe ich vollbracht?
Die großen Meister mochte er heute nicht betrachten, aber den gewaltigen Barocksessel, der da als ein stilvolles Museumsstück in der Ecke stand, den sah Andreas sehnsüchtig an. Welch eine üppig gepolsterte, geräumige Sitzstatt! In solchen Sesseln sitzen dürfen! Was sind Goldrahmen gegen Polster wie diese, was Lorbeer gegen Roßhaar und Daunen wie solche, für einen Menschen – Andreas tastete zaghaft an den Kissen – der in durchgelaufenen 62 Schuhen todmüde davorsteht und gleich wieder auf die Straße hinaus muß oder in die Grotte! Lorbeer und Goldrahmen und pergamentne Dankadressen sind nichts für arme Leute, solange sie noch leben müssen. Denen stellt eine gesicherte Sitzstatt hin, dachte Andreas, quält sie nicht und bringt sie nicht vorzeiten unter die Erde mit eurer Dummheit.
Ausruhen. Nur ein paar Minuten ausruhen. Er ließ sich in den Sessel sinken. Kaum lag sein Kopf an dem samtenen Wangenpolster, so fielen ihm die Augen zu. Die großen Meister sahen schweigend auf den schlafenden Mann. Ohne Rechtsanspruch hatte er Zuflucht gesucht in ihrem Gehege, aber sie ließen Andreas wunderbar tief schlafen.
In der Nacht fuhr Andreas hoch. Er riß die Augen auf . . . Mondlicht! Die hohen Fenster! Hoch der Raum wie ein Thronsaal. Ich sitze in einem Thronsessel . . . wie grünlich das Gold an der Wand blitzt, wo's ein Strahl streift! Wer steht da eigentlich um mich . . . der da, der sieht fast aus wie Beethoven aussah! Beim allmächtigen Gott – der dort den Kopf von der Arbeit hebt und durch sein goldenes Fenster nach mir hersieht, ist Mozart . . . ich bin im Himmel . . . da sind sie ja alle – das schwere unkenntliche Haupt: Bach! Und Schubert, Brahms – ich bin im Himmel! Tot bin ich – Andreas sprang auf: »Es graut niemals wieder!!« jauchzte er –
Da graute es: dieses Hausinnere, Kasten an Kasten gesetzt aus Beton, warf den Schrei verwirrt zurück. Dieses silberne Licht fiel durch Fenster aus zerbrechlichem Glas. Die Meister waren bestrichene Leinewand. Andreas wandte sich – über der Lehne seines Thronsessels standen die Worte: Nicht berühren. Er ließ die Schultern hängen. Auf Erden 63 stand er wieder, wo bezahlt wird, was der Mensch braucht, und Ware, die niemand bestellt hat, wenig gilt. Andreas sah niedergeschlagen den Barockstuhl an: die Reise in den Himmel geht nicht in einem Polstersessel vor sich. Auch nicht barfuß im malerischen Bettlermantel, nicht tragisch zu Haut und Knochen verhungert in einer Gosse – nein, ganz unbemerkt inmitten der Wichtigkeiten des lauten Tages. Den großgebärdigen Theatertod sterben nur Schauspieler einem Publikum vor, das getrosten Mutes auf dem Nachhauseweg sagen will: Wie ging das damals zu in der Welt.
Andreas trat ans Fenster: »Ich will nun auch« – fast hätte er gesagt: ›nach Hause‹; von seinen Kindheitstagen her hat der Mensch es an sich, ›nach Hause gehn‹ zu sagen – »Ich will nun auch auf die Straße«, sprach Andreas, »die vielen Leute, die da unten über den Platz gehen . . . aus dem Theater kommen die vielleicht. Haben eben einen Menschen mit Trauermarsch und Fanfaren in die Grube fahren sehen . . .« Andreas tastete nach dem Fensterwirbel. Diese Fenster hatten keine Griffe. Die konnte nur Schurch mit einem besonderen Schlüssel öffnen. »He!!« schrie Andreas den Leuten unten durch das doppelte Fensterglas zu, »das ist nicht wahr!« Schauerlich hallten die Worte durch das nächtliche Riesenhaus. »In den Himmel kommen ist viel schwerer, als es im Theater heißt! Wir reiten aus der Rechtsverbindlichkeit zum lieben Gott! Zwischen Stammtischbrüdern!« Erschöpft schwieg Andreas still. Seine Stimme vertrug das Schreien nicht. Er murmelte heiser seinen Satz zu Ende – es verstand ihn ja doch keiner auf dem Platz da unten: »Die sind viele. Wir sind immer nur drei oder zwei oder einer. Und wenn eine Zeitlang gar keiner da ist, herrschen die geordneten Verhältnisse in der Welt – wie in dem 64 Museum hier.« Er sah sich um. Wie kam er heraus aus diesem unheimlich stillen Haus?
Vorsichtig tastete sich Andreas nach der Haupttreppe. Kalkweißes Mondlicht wechselte mit schwarzer Finsternis. Vorsichtig mußte er gehen, bis er das Portal fand. Unsinn, an der Klinke erst zu rütteln. Andreas war fest und sicher eingeschlossen. Seinen leeren Geigenkasten sah er vergessen hinter dem Schirmhalter lehnen. Seufzend nahm er ihn am Griff. Er setzte sich auf die Marmorstufen: Was wird Schurch sagen, morgen früh, wenn er aufschließt, und ich begrüße ihn im Namen der Geister dieses Hauses?
Oh, und was denkt Hasel jetzt? Sie hat Angst. Gestern schon hatte sie Angst und mich ein paarmal von der Seite angesehen . . . Hast du was ausgefressen? hat sie gefragt. Schadet nichts, geh bloß nicht ins Wasser wegen irgendeinem Pack. Ich bin Kellnerin, kenne die Leute besser als du. Die sind's nicht wert.
Ich soll so blaß ausgesehen haben . . . Andreas lächelte. Angst hat jemand um mich. Was will ich mehr? Hasel sitzt jetzt vielleicht in ihrem Bett und sucht in ihrem Traumbuch, wo ich bin. Geborgen, steht in dem Traumbuch. Geborgen – wo denn? Geborgen im Bett, über mir grün hinwallendes Wasser, und über das Wasser hängt vom Ufer ein Zweig. Voller spitzer brauner Osterknospen . . .
Sieht Wasser grün aus, wenn ich von unten durch nach der Sonne sehe? Jäh stand Andreas auf von der Marmorstufe. Ins Freie! Da läuft lebendiges Wasser über den Schlamm. Rings um ihn Marmor und Beton. Nirgends ein Schlupfloch offen. Er tappte, seinen Geigenkasten an sich gedrückt wie einen Gefährten in der Not, die Treppe hinauf und suchte ein Fenster, aus dem ihn ein Sprung ins 65 Freie bringen könnte. Von Raum zu Raum ging er. Den Saal der Streichinstrumente kreuzten mächtige Lichtbündel, auf dem Glaskasten der Stradivari blitzte das Mondlicht kristallfunkelnd. Silbern schwebte die Geige in der umgebenden Nacht. Und kein Schurch, kein drohender Fachmann in der Nähe; nur der Mond und die Geige. Andreas stand lächelnd still. Jetzt konnte er zum Schluß, als ein Geiger-Amen, aus eigner Machtvollkommenheit vollbringen, was Andreas längst ersehnte: die Stradivari von allen Seiten betrachten. Er faßte den Glaskasten, hob ihn, setzte ihn sorgsam auf den Fußboden, wollte die Geige auf die Zargen stellen, daß die Unterdecke sichtbar wurde, aber in dem Augenblick, da er das Holz berührte, schlug eine elektrisch zuckende Kraft durch seine Finger, seine Hand, durch seinen ganzen Leib. Körperlich spürte er die Wellen, die vor zweihundert Jahren in Stradivaris Werkstatt zu schwingen begonnen hatten. Andreas griff die Geige nicht nur mit den Fingerspitzen an, er schmiegte seine flachen Hände an das zarte Holz. Mit geschlossenen Augen tastete er die Geige ab. Ein Blinder, schuf er die Form dieser Geige, jede Hebung und Senkung des gewölbten Holzes aufnehmend, in sich noch einmal, nahm sie auf in sich. Er legte den Geigenkörper unter sein Kinn. Wie gut sie lag – Fleisch und Bein und Holzblatt und Saite: ein Körper. Auf den Zehen trat er heraus aus dem Lichtgeviert des Mondes, tappte lautlos zu seinem Geigenkasten. Ohne die Geige vom Kinn zu nehmen, klaubte er mit der Rechten die Schlösser auf, hob den Deckel. Der Nachtwandler hatte den Geigenbogen in der Hand, stimmte die halb entspannten Saiten. Andreas spielte die Stradivari.
Er hörte sich geigen. Vor dem Glaskasten hatte er die Stradivari im Geist gehört. Den Geist des Klanges hatte 66 er vernommen. Jetzt geigte er sie wirklich, und sogleich webte er wieder am alten Rätsel des Geigens: nicht ein springender Hammer schlägt die Saiten an, nicht ein Luftstrom weht über Lippen, Zungen – die Haare des Bogens streichen wischend auf den Saiten, und dieses ewige Wischen, Streichen saust erregend unter dem Klang der Saiten den unheimlichen Windhauch sterblichen Wesens. Die Stradivari klang – und der Mensch da lebte, ja, die Geige verschwand in seinem Wesen, und Andreas blieb übrig. Die Geige war heraus aus dem Kristall, heraus aus dem Bernstein.
Andreas vernahm seine Existenz irdisch im Ewigen.
Weiter zu schreiten ist dem Menschen diesseits des Grabes verwehrt. Andreas betrat in dieser Nacht den äußersten Kreis. Nur der wohltätige Wahn von der Dauer des geschaffenen Werkes hielt den jungen Menschen in seinem vertragenen Rock und schlechtgestickten Stiefeln glücklich zurück von dem Vorhaben, nun das Wasser grün über sich hinwallen zu sehen und, ein Nu später, auch das Wasser nicht mehr zu sehen und den überhängenden Zweig mit den Osterknospen nicht. Jener Jugendwahn vor allem, dazu die Süßigkeit so vollendeter Schönheit, daß sie, den Kreis vollendend, wieder wie Schmerz gefühlt wird, die hielten ihn jetzt noch fest in seinem Betteldasein: die Stradivari durchstrahlte tief und schön wie ein Sommertag diese nächtlichen Räume.
Plötzlich hielt er den Bogen reglos über den Saiten – da ist jemand . . . lautlose Stille. Nein . . . vielleicht flog draußen ein Nachtvogel durch den Lichtstreifen. Da ist der Schatten wieder! In panischem Schrecken drückte sich Andreas hinter den Barockstuhl. Da wieder! . . . Er legte die Geige in den Kasten, drückte den Deckel zu. Plötzlich 67 gurgelte dicht hinter ihm das Wasser der Heizung in der Wand. Polternd rückte er den Stuhl aus der Ecke. Wenn der Geige ein Unglück zustößt – er tastete an der Wand . . . eine Klinke, sie gab nach. Eine Tür öffnete sich – fort aus dieser gurgelnden Ecke. Er fühlte mit den Schuhen: eine eiserne Treppe. Andreas drückte den Geigenkasten an sich, Stufe für Stufe ging er hinab. Eine Wendeltreppe . . . endlos . . . dieser Schneckengang muß doch einmal unten ankommen! Stufe für Stufe . . . schon wollte er wieder hinauf, da hatte er das Ende des Eisengeländers in der Hand. Auf den Zehen schlich er ebenen Bodens weiter. Wo geht das hin? Nach frischem Holz riecht das hier. Er stieß mit dem Kopf an ein Rohr, duckte sich – mit gepreßtem Atem hatte er sich in der Pechschwärze vorwärtsgefühlt ohne einen Laut von sich zu geben – aber jetzt schrie er auf, die Angst löste sich endlich: dort saß ein Tier und starrte ihn an aus zwei glühenden Augen . . . unbeweglich kauerte er, den Geigenkasten an sich gepreßt – unbeweglich starrten ihn die zwei Augen an. Ganz allmählich bekam die Dunkelheit Formen, verwischte Klumpenformen, aber Andreas unterschied Rohre, Bunker, mannshohe Zylinder. Er atmete auf. In die Heizung war er geraten. Feuer sah ihn an aus den Schürlöchern des Ofens. Gutes Feuer. Wie warm das hier ist, gliederlösend warm. Mit dem Handrücken wischte er den Schweiß von der Stirne, aus den Augen. Eine Schwäche überkam ihn. Er fühlte mit der Hand auf den Boden. Das waren wohl Säcke. Seufzend rückte er sich in dem Sackbündel zurecht – ah, warm und weich. Wie menschlich ist die Welt . . . Andreas schloß die Augen. Das Feuertier tat ihm nichts zuleide. Das wärmte ihn. Andreas schlief zum zweiten Male ein in dieser Nacht. Und diesmal gönnte ihm die 68 durchwärmte Dunkelheit ungestörten Schlaf. Das Wasser gluckerte zuweilen in den Leitungen. Totenstille sonst. Andreas schlief, bis fahles graues Licht durch das Kellerfenster wischte, heller wurde und sein Gesicht traf in der Ecke zwischen dem Röhrenwerk hinter dem Kohlenbunker.
Das Geräusch schlurfender Schritte weckte ihn völlig. Er stand vorsichtig auf von seinen Kohlensäcken, lugte durch den Türspalt: weiträumige niedrige Gewölbe, Beton, alles grauer Beton. Und weit dahinten ging ein Mann, Eimer und Besen in den Händen. Noch drehte ihm der Mann den Rücken zu. Andreas drückte seinen Geigenkasten an sich, schlüpfte in den Gang – da tat sich der Beton vor ihm auf: die Kellertür stand weit offen! Mit ein paar Sätzen stand Andreas auf der Ziegelsteintreppe, atmete frische Morgenluft. Er betrat einen Steinhof, glattfreie Flächen, kein Mensch zu sehen. Die Morgensonne rötete eben erst den Mauerkranz hoch oben auf der fernen Fabrikesse über den Bäumen drüben. Nur noch zehn Schritte, nur noch bis zu der eisernen Gartenpforte brauchte Andreas zu gehen. Einen Schritt, den zweiten Schritt – kein Uniformärmel scheuchte Andreas in den Beton hinunter – der dritte, vierte – – Andreas stand auf der Straße! Auf den Granitplatten des Bürgersteigs. Wie ein Bürger, der Steuern zahlt und auf solchen Granitplatten stehn und gehn darf nach seinem Belieben, nach rechts oder links. Herrliches Gefühl: ich werde nach links gehen, dachte Andreas, lüftete seine Jacke, fuhr sich durch die Haare mit den Fingern – aber warum links? Rechts gehn kann ich auch, wenn ich will. Andreas ging nach rechts. Er erprobte die Freiheit. Gradeaus, dahin, dorthin – niemandem war er Rechenschaft schuldig. Wie schön es sich so dahinging! Bis Andreas plötzlich vor einer Tür stand, 69 über der in erloschenen Lichtbuchstaben die Worte prangten ›Zur Grotte‹. Der Tag beschien die blinden Glasröhren . . . zur Grotte war der Eingang verschlossen.
Andreas sah sich um. Die vielen Eingangstüren in der Straße! Alle verschlossen. Ja, gehn konnte er, wohin er wollte. Diese Freiheit hatte er. Nur kam er überall vor verschlossene Türen . . . ist das die Freiheit?
Fern über Dächern, am Ende eines schmalen Straßenspaltes sah er die Wipfel von mächtigen Bäumen. Nachtvögel, Wild und was sonst frei ist – ein stellenloser Geiger zum Beispiel – das sucht tagsüber seinen Unterschlupf im Halbdunkel des Waldes. Andreas ging durch den Häuserspalt auf die Bäume zu. In Wald kam er nicht, Andreas kam nur in einen Park, in das wohlgepflegte Rosental. Die nackten Zweige der Bäume trugen spitze braune Blattknospen. Licht und kalter Frühjahrswind brachen von allen Seiten in das Säulenhaus. Aber keine Türen mit Sicherheitsschlössern verrammelten das luftige Gehäuse. Andreas trat ein, suchte sich eine tannengeschützte Bank, setzte sich fröstelnd, rieb die Hände. Wenn er etwas Heißes zu trinken hätte! Oder seinen Mantel, seinen Hut wenigstens. Wo hast du deinen Hut, Andreas? hatte Hasel gefragt. Da drin! In diesem verdammten Kasten – gedankenlos schnappte er an den Schlössern des Geigenkastens, spielte klappend mit dem Deckel . . . ein Geiger ohne Geige müßte eigentlich seinen Geigenkasten in den Wald stellen, da, zwischen die Anemonen, an den Rand der einsamen Lichtung drüben, und er müßte hineinkriechen in den Kasten, den Deckel zuklappen. Das äsende Wild geht vorbei, Brombeerranken wachsen drüber. Das wäre ein Armengrab! Andreas seufzte: da hätte ich eher sterben müssen. Jetzt bin ich für das 70 Kindersärglein viel zu groß geworden . . . wehmütig sah er den schwarzen Kasten an, klappte ihn auf – – reglos, offenen Mundes starrte er in den Kasten: da . . . da lag . . . da lag eine Geige drin! Tief golden rot, streng geformt, zart gewölbt – da lag die Stradivari drin!!
Andreas warf die Arme auf die Banklehne, preßte den Kopf in die Arme hinein. Nach einer Weile lugte er ängstlich aus den Ärmelfalten hervor: ja, da lag sie –
– sie, seine Geliebte, nackt und keusch, kein Traumbild in einem nächtlichen Gefängnis aus Beton, in dessen Wänden es gluckert und gurgelt. Kein Zauberwerk in spiegelndem Kristall – sie selbst!
Wie erschreckend körperlich greift ein wirkliches Kunstwerk ohne Glasschicht, ohne Aufmachung zwischen der Werkwirklichkeit und unseren Sinnen, die Seele an! Andreas streckte die Hand aus, tastete: Holz. Der zarte Holzkörper.
Zwischen den leeren Zweigen der Bäume stieg die Sonne hoch. Vögel schwatzten, zwitscherten. Auf dem Teich blendete rotgelbes Licht.
»Du bist bei mir«, flüsterte Andreas. Er kniete an der Bank nieder, neigte den Kopf langsam, küßte die Geige. Sachte berührten seine Lippen das Holz. Mit seinen beiden Armen umfaßte er sie – da sah er, daß eine Träne auf die Geige gefallen war. Andreas leckte sie sorgsam auf. Ein Taschentuch hatte er nicht. Er streichelte die Feuchtigkeit weg.
Nach links sah er den Weg entlang, nach rechts – wenn jetzt einer käme! Wenn ein Schutzmann die Geige in die Hand nähme, mit weißen Lederhandschuhen anfaßte, nach der Geigennummer suchte – Geigen sind doch nicht 71 numeriert, Herr Wachtmeister! Und meine eigne Nummer, die ist gestern gelöscht worden in Kranichstedt! Aber ich bin ein Geiger geblieben! Ich bin ein großer Geiger, Herr Wachtmeister! Mozart kennt mich! Er hat die Nacht an seinem Fenster gesessen, als ich spielte – Andreas wickelte die Stradivari in das seidne Tuch, das ihm Agnes geschenkt hatte. Hastig wickelte, bettete er. Im Traum war der Mann, verwirrt vom Unglück, irr, aber Zweifel an der Rechtsgültigkeit eines Zeugen namens Mozart dämmerten doch in diesem stellenlosen Geiger.
Drohend stand über den Baumwipfeln des Rosentals der Rathausturm mit seinem geblähten Kopf, ein ernstes Zeichen der Ordnung und Wohlfahrt . . . in zwei Stunden wird das Museum aufgemacht. Dann kommt der Aufseher Schurch, nach ihm der Kustos Lindemann, dann der Direktor Becker, und dann komme ich: Entschuldigen Sie gütigst, meine Herren, hier bringe ich die Stradivari wieder. Ich habe sie aus Versehen mitgenommen. Nur aus Versehen! Weiß gar nicht wie!
Was werden Direktor Becker, Kustos Lindemann und Aufseher Schurch diesem etwas verrissen gekleideten jungen Menschen antworten? Mit Recht antworten müssen? Antworten zu müssen verpflichtet sein?
Wie ihre Rede auch laute – Amt und Lebensnotdurft abdringen können sie ihm nicht: das hat er sich schon selber besorgt. Gestern abend, im Künstlerzimmer des Lamms, kurz vor halb neun Uhr.
Der stellenlose Geiger sagte sich: »Ich bin schon so gut wie tot. Morgen höre ich die Strafrede noch zeitig genug. Ich werde vorher einen Tag und eine Nacht die Stradivari geigen. In Kranichstedt. In meiner Stube. Dann bring ich 72 sie zurück. Nein, zwei Tage will ich geigen. In zwei Tagen erst soll das Unglück kommen.« Andreas sah vor sich hin: »Ich bin wahrhaftig ein Mann, der zum Unglück sagen kann: Warte noch, komm übermorgen erst! . . . nein, in drei Tagen besser . . . drei ist eine gute Zahl. Drei Tage steht der Glaskasten leer. Drei Tage geige ich. Und drei Nächte. Und dann kriechen wir beide, die Geige und ich, in den Kristall – du in deinen, und ich . . . ich suche mir einen –«