Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Siebzehntes Kapitel

Jarda denkt nach, wie er die Zeit bis zum Abend zubringen könnte. Er hat niemanden, den er besuchen könnte, den er besuchen möchte. Nur nach Luise Hejl ist ihm bange, direkt bange. Aber er weiß nicht, wo sie wohnt. Die Emmy Dvorak wird sicher ihre Adresse wissen. Also geht er auf die Walstatt zu Emmy Dvorak, die noch zu Bett liegt. Sie steht immer erst abends auf. »Na also, haben sie dich schon herausgelassen,« empfängt sie ihn, sich mit dem Mittelfinger die Reste des Schlafes aus den Augenwinkeln reibend.

Jarda kommt nur fragen, ob sie keine Nachrichten von der Betka habe. Nein, sie habe keine Nachrichten von der Betka. Eines schönen Tages wird halt die Betka da sein.

»Deine Leute sind von der Kampa übersiedelt? Nach Holleschowitz, hör' ich.« 231

»Ja, ich war einmal bei ihnen. Aber ich gehe nicht mehr hin. Die schimpfen doch nur und wollen noch Geld dafür.«

»Was macht die Luise Hejl?«

»Was soll sie machen? Auf den Strich geht sie.«

»Weißt du nicht, wo sie wohnt?« Jarda wirft das so hin. Als ob die Frage nicht der Zweck seines Besuches wäre.

»Ja, irgendwo in der Tuchmachergasse mit ihrem Schamster.«

»Weißt du ihre Adresse nicht?«

»Nein, die Hausnummer weiß ich nicht.« Emmys Mißtrauen ist wach geworden. »Weshalb willst du denn die Adresse wissen?«

»Gott, ich möcht' sie ganz gerne sprechen. Sie tut mir so leid. Ihr Lude soll ihr ja die ganze Nase zerschlagen haben, und zu Hause hat ihre Mutter sie hinausgeworfen.«

»Es ist nicht so arg mit der zerschlagenen Nase, er hat sie halt anständig verprügelt. Wenn du die Luise treffen willst, sie kommt immer um neun Uhr abends ins Café Pistalka in der Korngasse. So gegen Mitternacht findest du sie dann beim Pulverturm. Aber nimm dich in acht: Eines schönen Tages wird die Betka Knall und Fall aus Kostenblatt hier sein!« 232

Sie dreht sich um und räkelt sich zum Weiterschlafen.

Zu beiden Seiten der aus bunten Glasquadraten gefügten Türe des Café Pistalka werfen zwei violette Lampenkugeln Lichtstreifen über die Fahrbahn der Korngasse auf das jenseitige Trottoir, wo Jarda abends im Schatten steht und auf die Luise wartet.

Es sind um diese Zeit nur Kellner und Straßenmädchen, die in das Café kommen. Die meisten von der Torgasse her, wo sie aus der Elektrischen ausgestiegen sind. Ein Kellner kommt in der Droschke an. Der Wagen bleibt vor dem Café stehen, bis der Kellner wieder herauskommt und dem befreundeten Kutscher aus einer Flasche Cognak zwei Gläschen als Gegengefälligkeit einschenkt. Der Wagen verstellt dem Jarda die Aussicht in den Eingang, und er muß sich mehr zur Seite begeben, um die glasbunte Tür im Auge behalten zu können. Mädchen huscheln die Straße hinunter. Die meisten einzeln, seltener sind sie zu zweit; das sind arme Geschöpfe, die zusammen wohnen, weil sie allein nicht die Miete aufbringen. Sie können daher auch keine Gäste zu sich nach Hause nehmen und kriegen nur kleinere Taxen. (Der Herr hat ja noch die Miete für ein Stundenzimmer im Hotel auszulegen.) Manche der Mädchen trippeln schnell die 233 Straße hinunter, manche gehen langsam mit weit ausladenden Schritten, an denen Jarda virile Neigungen erkennt. Viele haben kurze, knöchelfreie Röcke. Die meisten schlenkern mit den Hüften, haben geschnürte Taillen und unglaubwürdig große Busen, so daß die Linie ihres Körpers ein S ist. Bevor sie die Caféhaustüre aufschieben, wirft das violette Reklamelicht einen Reflex über die weißgepuderten Wangen und gibt ihnen einen unheimlichen, gespenstischen Glanz. Manche streichen sich noch das Haar zurecht, fahren mit der Puderquaste, mit dem Puderpapier über das Gesicht, glätten mit einer Handbewegung das Kleid oder richten ihren Hut, bevor sie die Tür öffnen. Eine schneuzt sich auch schnell. Eine andere kommt mit mühseligem Hinken. Jarda kennt sie, es ist die Policajtka. Man nennt sie so, weil ein Bubentscher Polizist lange ihr Maquereau war. Sie ist einmal aus dem Hotelfenster auf die Straße gesprungen, als die Polizei sie wegen eines Diebstahls holen kam, und hat sich beide Füße gebrochen.

Dort kommt die Luise. Nein, sie ist es nicht. Das Warten, die Befürchtung sie nicht zu erkennen, hat Jaroslaws Augen und Gedanken schon so sehr mit dem Bild der Erwarteten angefüllt, daß er sie in irgend einer andern zu sehen glaubt. 234

Sie wird nicht kommen, gerade heute nicht kommen, befürchtet Jarda. Und jetzt ist es etwa halb zehn Uhr und viel zu spät, um in die Rittergasse zu gehen und sich in das Duschnitz'sche Haus einschließen zu lassen. So habe ich – versucht er sich zu sagen – um ihretwegen meine Absicht aufgegeben und nun kommt sie gar nicht. Blödsinn! Ausreden! Ich hatte ja gar nicht die Absicht. Sonst würde ich hier nicht auf die Luise warten. Wozu durchaus kein Grund vorliegt.

Ein Wort des Pepiks aus dem Spital schlüpft über seine Gedanken: »Manchmal dankt mir eines der Mädel gar nicht mehr auf meinen Gruß.« Oder so ähnlich. Vielleicht wird auch die Luise . . . Na, eigentlich hätte sie allen Grund. Aber, er kann es nicht ausdenken, daß die kleine Luise sich hochfahrend von ihm abwenden sollte.

Jarda schämt sich seiner Befürchtung, schämt sich, daß er hier überhaupt im Schatten steht, und auf ein dummes Ding wartet, das einmal seine Sklavin war.

Dort kommen wieder zwei Mädeln. Sie sind dick. Hinter ihnen wieder eine. Und dann: Jarda spürt, wie sein Atem Hemmungen bekommt.

Er geht ein Stück in die Fahrbahn, dann ruft er: »Luise.« Sie kommt dem, der sie anruft, vom Bürgersteig zaghaft, neugierig entgegen. 235

». . . dich Gott, Luise,« begrüßt er sie.

». . . dich Gott, Jarda.« Sie sagt es langsam, mit einem milden Staunen und streckt ihm die Hand hin. Sie ist etwas befangen durch das Unerwartete der Begegnung. Aber da sie spürt, daß er ihr warm die Hand drückt, wird sie wach, und sie streift sein Gesicht mit zärtlicher Neugier. »Wie geht es dir? Bist du schon draußen?«

Sein Kopf bejaht. Er freut sich, daß sie mit ihm spricht, daß sie ihm noch keinen Vorwurf gemacht hat.

»Wie kommst du hierher?«

»Ich wollte dich sprechen, Luise, ich fahre morgen fort.«

»Willst du etwas von mir?«

»Nein, ich wollte dich nur ein bisserl sprechen.«

Da erhebt die kleine Luise wieder so knapp, so unfreiwillig den Kopf, wie damals, als Jaroslaw sie zum ersten Male zu sich gerufen hat. Als ob sie dem lieben Gott danken wollte. Und über Jarda kommt ein ungeheures, wehmütiges Glücklichsein und schwillt in ihm empor und füllt sein ganzes Wesen. Die Kampa ist nicht fortgeschwommen.

»Du willst . . .« Sie unterbricht sich und stellt eine andere Frage: »Die Betka ist noch in Kostenblatt, nicht?« 236

»Ja.«

»Und schreibt ihr einander?«

Am raschen Ton der Frage merkt Jarda, weshalb sie gestellt ist. »Ach, was, ich pfeife auf sie und sie auf mich.«

»Du willst . . .« – jetzt erst vollendet sie die Frage von vorhin, – »du willst mit mir gehen?«

Über Jardas Rücken und Kopfhaut rieselt das Glück mit starkem Schauer. Soviel hatte er nicht erwartet, soviel nicht erhofft. Er sucht ihre Hand und drückt sie bewegt. Luisens Augen danken mit Inbrunst für diesen Händedruck.

»So komm!« Sie, die kleine Luise ist es, die den Jarda auffordert. Und er geht neben ihr, er geht, er schleicht nicht mehr, wie er aus dem Gefangenhaus, durch den Zizkapark, in das Café Brasilien, auf die Insel Kampa und hierher in das wartende Dunkel geschlichen war. Aber auch so geht er nicht, wie die Kellner aus ›Stadt Budapest‹ nach Zuhälterart neben ihren Mädchen gegangen waren: die Hände in die Taschen des offenen Paletots gesteckt und doch die Arme auseinandergespreizt, daß die Frauen neben ihnen ein Nichts waren.

Sie lädt ihn ein, trotzdem sie weiß, daß er eben aus dem Spital kommt. Er erinnert sich, daß er 237 vielleicht noch krank ist, daß er die Kleine . . . Furchtsam scheucht er den Gedanken von sich, er hat Angst, um dieses Beisammensein mit dem einzigen Menschen zu kommen, den er noch hat. Er ist ja, betont er sich ausdrücklich, als geheilt entlassen.

Verstohlen schaut er seine Begleiterin von der Seite an. Sie sieht wirklich noch so unschuldig aus, trotzdem sie eine große Frisur hat, und Puder über der Mundfalte und ein Gesundheitsbüchel im Täschchen.

Während sie die Stiegen zu ihrem Zimmer hinaufsteigen und die Luft heiß aus seinem Munde geht, fällt ihm ein Kontrast ein: zwischen seinen Stimmungen von heute morgen und denen des Jetzt.

Die Falten des weißen Polsters scheinen aus dem Kopf der kleinen Luise zu strömen, wie die Strahlen einer Gloriole. Wie bei einer Madonna aus dem Medaillon. Er muß sie küssen, er hat nie geküßt und drückt nun mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit seinen Mund auf ihre Stirn, auf ihre Wangen, auf ihren Hals und auf ihren Mund.

»Du hast einen Burschen?« erinnert er sich plötzlich.

»Ja, ich wohne mit ihm. Emil heißt er.«

»Was ist der?«

»Er war früher Ingenieur, aber ohne Prüfungen.« 238

»Und was macht er jetzt?«

»Er sucht sich eine Stellung, aber der Statthalter hat ihm gesagt, jetzt ist nichts frei. Er wird ihm sagen lassen, wenn etwas frei wird.«

»Wo ist er bei Nacht?«

»Er sitzt im Chantant oder in irgend einem Café bis früh.«

»Und du hast ihn gerne?«

»Er muß doch bei Nacht wegbleiben, damit ich mir Gäste herbringen kann.«

»Ja, natürlich. Aber hast du ihn gerne?«

»Ja, weißt du, der Emil ist ein sehr gebildeter Mensch, er hat schon die ganze Welt gesehen. Er war in Budweis und in Nachod und noch irgendwo. Ich weiß gar nicht, wo er schon überall war.«

»Aber er haut dich doch?«

»Weißt du, ich verdiene es auch manchmal. Ich bin ein großes Luder. Neulich hat mich so ein Studentchen im Hippodrom gebeten, ich soll ihn mitnehmen, trotzdem er kein Geld hat. Da habe ich ihn eben mitgenommen – weißt du, er hat mich so gebettelt. Sonst hätte ich es bestimmt nicht getan, das darfst du mir schon glauben. Und weil ich mit dem Studenten die ganze Nacht beisammen war, hat mich der Emil halt geprügelt. Was hätte er denn tun sollen? Du darfst 239 nicht glauben, daß der Emil ein roher Mensch ist. Aber was hätte er anders machen sollen als mich hauen?«

Du dummes, liebes, dummes Tier. Jarda, der gestern im Zizkapark den küssenden Burschen verachtete, muß sie küssen, immer wieder küssen.

»Da wirst du morgen auch Prügel bekommen, weil du mit mir warst und kein Geld bekommen hast?«

»Ja, wenn du bis früh bei mir bleiben willst, dann kann ich ihm kein Geld geben und kriege früh Schläge.«

»Du kannst ja sagen, daß du mit einem fremden Mann warst, und wie du eingeschlafen bist, sei er weggegangen ohne dich zu bezahlen.«

»Das geht nicht. Der Emil will, ich soll mir immer vorher das Geld geben lassen.«

»So kannst du ja sagen, der Mann habe dir fünf Kronen gegeben, und während du eingeschlafen warst, habe er dir das Geld wieder aus der Handtasche genommen und sei fortgegangen.«

»Ja, ja, das geht. Das ist ein guter Einfall.« Bewundernd blickt sie ihren Bettgenossen an, der so ungeheuer gescheit ist.

»Hast du mich gerne, Luise?«

Sie nickt eifrig.

»Hast du mich lieber als den Emil?« 240

Drei Sekunden Nachdenkens. »Ja.«

Sachlich. Und zur Begründung hinzugefügt: »Ich kenne dich ja auch viel länger.«

»Schau, Luise, möchtest du nicht lieber mit mir zusammen wohnen?«

Sie nickt ganz glückselig. Aber da fällt ihr ein, daß sie den Jarda gar nicht allein haben könne: »Du meinst, bis die Betka herauskommt?« In ihrem Ton ist gesagt, daß sie auch zur bloßen Stellvertretung gern bereit wäre.

»Nein, für immer.«

»Aber wenn die Betka aus Kostenblatt kommt?«

»Dann werfe ich sie hinaus. Was geht sie mich an? Sie ist doch an meinem ganzen Unglück schuld.«

Die Luise denkt angestrengt nach, welche Umstände noch ein solches Übermaß von Glück unmöglich machen müssen. »Der Emil wird mich totschlagen,« erinnert sie sich endlich.

»Wenn ich ihn nicht vorher totschlage,« brüstet sich Jarda. Aber er sieht selbst ein, daß es viele große Hindernisse geben würde. In Prag kann seines Bleibens nicht sein.

»Möchtest du mit fortfahren, Luise? Nach Wien?«

»O ja. Die rote Libuscha ist auch in Wien und verdient dort viel Geld. Vor vierzehn Tagen war sie 241 hier, da hat sie einen Fuchspelzkragen gehabt und einen Astrachanmuff und ein silbernes Handtäschchen und sie hat auch nicht deutsch gekonnt, als sie weggefahren ist. O ja, ich möchte gleich nach Wien. Ich würde mir meine Changeantbluse einpacken, dann die blaue Moirébluse und den Pepitarock und meine schottische Mütze. Dem Emil würde ich gar nichts sagen, daß ich wegreise.« Sie kichert. Das dünkt ihr eine unendlich raffinierte Idee, ihrem Zuhälter gar nicht erst anzukündigen, daß sie von ihm flüchten wolle. »Wann fahren wir, Jarda?«

»Vielleicht morgen, vielleicht übermorgen.«

»Hast du eine Anstellung in Wien?«

»Nein, ich werde mir eine suchen.«

»Das macht nichts. Ich werde schon für uns beide verdienen, bis du eine Stellung findest. Eine Neue verdient immer mehr als die Alten. Die rote Libuscha hat gesagt, in Wien haben die Straßenmädel mehr Schmuck als die Erzherzoginnen.«

Der kleinen Luise kommt das gar nicht als Opfer vor, daß sie auf die Straße gehen werde, um ihren Geliebten zu ernähren, das scheint ihr ganz selbstverständlich. Aber davon will Jarda nichts mehr wissen, davon hat er genug. Er würde keine ruhige Sekunde haben und müßte immerfort schauernd daran denken, 242 daß ein anderer dies keusche Gesicht an sich ziehe, daß ein anderer an ihr seine Leidenschaften stille. Er will kein Zuhälter mehr sein.

Er sagt das dem Mädel. Er erklärt der Luise, daß er von diesem ganzen Leben von Dirnen und Zuhältern genug habe. Er spricht zu ihr und merkt, daß in ihre hellblauen Augen kein Verstehen dringt. Er spricht zu ihr, wie wenn man mit irgend einem lieben Haustier oder mit irgend einem leblosen Ding spricht. Eindringlich sagt er sich, zu ihr sprechend, daß er nie wirklich ein Zuhälter war. Daß ihn von Kindheit an das alles mit Ekel und Brechreiz erfüllt habe. Daß die Zuhälter kein schlimmeres Gewerbe ausüben als hunderttausend andere Menschen. Aber daß er für dieses Geschäft nicht tauge, zu wenig rücksichtslos sei, viel zu fein empfindend . . .

»Ja, du warst immer ein feiner Junge, das ist wahr.« Luise möchte sich bemühen, ihm zu zeigen, daß sie seinen Darlegungen folge.

»Mein Engelchen, du wirst in Wien nicht mehr auf den Strich gehen, du wirst schön mit mir zusammen wohnen, wirst aufräumen und kochen und ich werde dir Geld für die Wirtschaft geben und, wenn ich aus der Arbeit nach Hause komme, werden wir uns küssen und gerne haben.« 243

Das versteht die Luise. In ihren hellblauen Augen ist jetzt eine unendliche Wärme des Glücks. Sie kann das alles gar nicht fassen, sie soll keine Dirne mehr sein und nicht mehr zum Polizeiarzt zur Visite gehen müssen und soll zu Hause bleiben dürfen und kochen und schlafen, wie die Ruzena Rec, die den Schuldiener Malik geheiratet hat. Kann es sein? Es kann doch nicht sein.

»Hast du denn so viel Geld?«

Die dumme Luise hat herausgefunden, woran es fehlt. Jarda taumelt von dem Gipfel, zu dem er hinaufgeschwärmt ist, und auf den er das kleine Mädel hinaufgezogen. Nein, er hat nicht so viel Geld. Er hat überhaupt kein Geld. Und wird es nie verdienen können. Er wird bestenfalls als Aushilfskellner Stellung finden. Davon kann kaum ein Mensch allein leben, geschweige denn zwei. Aber er muß das Geld haben, muß, muß, muß! Und er weiß, wo er es zu holen hat. In ihm wird es hart und dumpf.

Luise Hejl wartet noch immer auf Beantwortung ihrer Frage.

»Ich habe das Geld, und wenn nicht – so werde ich es mir eben beschaffen. Ich werde zuerst nach Wien fahren und dir ins Café Pistalka schreiben, wann du mir nachkommen sollst. Ich werde dir genau 244 aufschreiben, wann die Züge abgehen und von welchem Bahnhof, und wohin du mir telegraphieren sollst. Aber du darfst niemandem sagen, daß du zu mir kommst, oder überhaupt, daß du nach Wien fährst.«

»Der Wanda Jirasch möchte ich es gerne sagen, das ist meine beste Freundin.«

»Niemandem. Und du kommst zu mir, bis ich dir schreibe. Was du auch über mich hörst!«

»Was soll ich denn über dich hören?«

»Schwöre mir beim Leben deiner Mutter, daß du sofort zu mir kommen wirst, wenn ich dir geschrieben habe; was du auch von mir gehört haben magst.«

»Ich schwöre es beim Leben meiner Mutter.«

». . . Und meine Mutter soll eines qualvollen Todes sterben, wenn ich meinen Schwur nicht halte. Amen.«

Die kleine Luise Hejl, den Kopf in die Heiligenstrahlen des zerknitterten Polsters gebettet, Zeige und Mittelfinger erhoben, spricht erschauernd die gräßliche Schwurformel Jardas nach.

Am Morgen küßt Jarda die Augen seiner ersten wirklichen Geliebten und muß gehen, muß einem Anderen Platz machen. Wie oft hat er das getan, aber nie war es wie heute.

O, über einen Tag vor der Tat! Da erwachen Zweifel, Aufregungen, lange Erwägungen, 245 Befürchtungen, Angst. Und alle Überlegungen haben guten Grund. Je länger man sie im Kopf knetet, desto fester werden sie. Es ist wahr, eine solche Tat ist zu plump, zu unraffiniert, um glücken zu können. Ein Fenster klirrt, ein Glasschrank beginnt zu zittern, ein Hilferuf, oder im letzten Augenblick verliert man den Mut zum Stoß, und selbst wenn alles glücken würde und ein Toter liegt da, grünlich, verzerrt, blutig, so findet man schnell den Mörder, man faßt ihn, Hände umklammern seine Schultern, und der Ertappte kann zwanzig Jahr im Kerker sitzen, und auf der Kampa wird sich mancher brüsten, er hätte es geschickter angefangen. Hatte man ihn nicht festgenommen und gebrandmarkt, als er noch nichts verbrochen hatte, als er nur ein Opfer war, und nun soll er selbst ein Opfer suchen, ein Verbrechen begehen, dessen Gräßlichkeit er in allen Atemzügen fühlt? Lohnt eine solche Tat der Mühe, der Aufregung und des Einsatzes? Ist nicht für das verpfuschte Leben und den verseuchten Körper der Strick das beste?

Das beste? Nein, noch lange nicht das beste. Die Kampa ist nicht die ganze Welt und Prag auch nicht. Wien ist auch nicht zu verachten. Der gute Emil wird in Prag große Augen machen und die Luise suchen. Da kann er lange suchen, bis er sie findet. Der Emil 246 ist in Nachod gewesen und in Budweis, Jarda aber wird in Wien sein und im Prater spazieren gehen. Er wird vor allem suchen, im Theaterbüfett eine Anstellung zu finden, da ist nur abends zu tun, und man bedient schöne Frauen in großen Toiletten und bei Tag kann man spazieren gehen. Dazu braucht man einen eleganten Frack – das wird das erste sein, was er sich in Wien anschaffen wird. Den Rest des Geldes wird er sich aufheben, für besondere Fälle, zum Beispiel wenn die Luise ein Kind bekommen wird. Dann wird der Herr Duschnitz ein Großpapa sein. Aber er wird es nicht erleben. Er wird ja heute sterben.

Jetzt ist nicht viel Zeit zu verlieren, nachdenken kann man nachher. Vor allem muß man jetzt hinaufgehen, den Besuch machen, von dem niemand weiß.


Da ist das Haus. Das Tor ist offen. Die Treppe ist auch noch beleuchtet. Niemand hat mich gesehen. Im Zimmer wird es wohl schon dunkel sein. Hoffentlich. Jarda wiederholt in seinen Gedanken das Wort ›hoffentlich‹ so prägnant, daß sich seine Lippen bewegen. Er will sich das Gefühl einflößen, er wäre froh, wenn das Zimmer schon dunkel und bereit zur Tat wäre.

Links von der Türe steht das Bett und daneben das Nachttischchen und im Nachttischchen sind die 247 Kassenschlüssel – das ist alles. Was mache ich, wenn es im Zimmer noch hell ist? Dann muß ich mich auf der Pawlatsche verstecken und warten.

Es ist noch Licht. Es ist eigentlich besser, da habe ich noch Zeit. Nur Ruhe, nur Ruhe.

Wo soll ich mich verstecken? Auf der Pawlatsche könnte man mich vom Hofe aus sehen. Es ist am besten, ich warte auf der Bodenstiege. Wie lange kann das dauern, eine halbe Stunde, eine Stunde? Nein, ich werde nicht mehr wankend werden. Ich nicht.

Der Alte liest wahrscheinlich noch. Inzwischen kann ich mich niedersetzen und eine Zigarette rauchen. Nein, da würde man das Licht sehen. Übrigens habe ich nicht einmal eine Zigarette.

»Wer ist da?«

Herrgott! Es ist die verdammte Haushälterin. Sie hat mich doch ins Haus gehen gehört. Nicht antworten!

»Wer ist da?«

Sie läßt nicht locker. Jetzt kommt sie über die Pawlatsche mit ihrer Lampe. Ich schlage ihr die Lampe einfach aus der Hand. Was nützt mir das? Sie würde Lärm schlagen.

Sie kommt gerade auf die Bodentüre zu. Gleich wird sie mich entdeckt haben. Was soll ich tun? Jetzt 248 laufe ich weg, bevor sie mir ins Gesicht leuchtet und mich erkennt.

»Haltet den Dieb! Fangt ihn!«


Als früh der Brief von Karl Duschnitz ankam, lag Jaroslaw Chrapot leblos in der Flößerwohnung auf dem Tische, auf dem zwanzig Jahre vorher sein Vater gelegen hatte. Und man hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, den Erhängten ins Leben zurückzurufen

 


 


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