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Feuchte Septemberluft pfeift um Jaroslaw Chrapots Sommerkleider, in denen noch der Dunst des Spitalmagazins nistet.
Unsicher verläßt er das Polizeigefängnis. Er ist schon lange nicht mehr auf der Straße gegangen. Spital und Polizei, die beiden Hochschulen hat er nun absolviert. Nun geht er ins große Leben, zu Mani Busch, zu Brillantringen und Kutschierwagen. Auf der Kampa sollen sie schauen! Jetzt will er noch nicht nach Hause gehen. Er stinkt noch nach Spital, und die Kampaleute könnten noch glauben, daß er nicht wisse, was er jetzt anfangen soll, könnten vielleicht glauben, er sei ein Gescheiterter. Nein, nein. Im Kutschierwagerl fahre ich in die Traubengasse mit einer Brillantennadel in der Krawatte. 188
Zu Mani Busch kann er noch nicht gehen, der ist erst am Abend im Café Brasilien. Na, er wird also noch bisserl umherlungern. Aber nicht in der Stadt, wo er so viel Bekannte hat. Der Anzug ist viel zu sommerlich, besser ist er auch nicht geworden, im Regal der Krankenhausgarderobe und durch das Liegen auf der Pritsche des Polizeigefangenhauses, und alle besseren Leute tragen schon Überzieher. Aber morgen ist er wieder obenauf, morgen ist er wieder obenauf.
Im Zizkapark vergilbt der Herbst die Akazienblätter. Ein Liebespaar sitzt auf einer Bank und sieht ihn nicht. Wie sie einander Gesicht und Hände streicheln, wie sie küssen, in die Augen schauen und wieder küssen. Er geht vorüber mit ironischem Lachen im Gesicht. Erschreckt läßt der Bursch den Arm des Mädels fahren, beide werden rot. Sie schämen sich vor dem Fremden ihrer Zärtlichkeit. Es ist auch zum Schämen. Das soll ein Mann sein? Schmiert sich da bei hellem lichtem Tage mit einem Frauenzimmer herum, küßt sie, streichelt sie. Unsinn. Ein Frauenzimmer ist da, um Geld zu verdienen, für die Männer. Noch einmal dreht sich Jarda nach dem Verliebten um, höhnisch, verächtlich züchtigt er ihn mit seinem Blick.
Am Abend sitzt er im Café Brasilien. Er ist fast erschrocken, als er eintrat. Eine schmale Hausflur, 189 eine mit Drähten zusammengehaltene Milchglaskugel brennt davor. Die Aufschrift ›Café Brasilien‹ ist kaum zu entziffern, einige Buchstaben fehlen überhaupt. Durch einen stinkigen Hof, in dem alte Kisten stehen, geht es in das Lokal, einen langgestreckten Raum. Rechts bei der Türe ein verwittertes Harmonium, unten an der Querwand ein Schanktisch, an dem der Wirt und die beiden hünenhaften Kellner Bier und Kaffee und Schnapsgläser in Empfang nehmen, eine Schatulle mit Getränke-Marken aus buntem Glas steht auf dem Schalter, zinnerne Untertassen für Biergläser zu einem hohen Turm aufgeschichtet; leere Gläser, in einem seitlich aufgehängten Regal. Eine Kohlezeichnung, wie sie die wandernden Schnellmaler in Spelunken verfertigen, hängt an der Wand, drei ausdruckslose Burschengesichter darstellend. Unter einem steht: ›Das bin ich. Wena‹, über der ganzen Zeichnung: ›Gruß aus Wien‹. Noch ein zweiter Wandschmuck: der Kalender einer Druckknopffabrik aus längst vergangenem Jahr, die Datumzettel fehlen.
Bei der Türe sitzen und stehen hutlose Mädel um einen Tisch; blaue, grüne oder violette Bänder haben sie im Haar und rauchen Stümpchen von Drama-Zigaretten. Sie hören einer Dirne zu, die ihre Erlebnisse von der Polizei erzählt. »Ich habe dem Detektiv gleich 190 auf dem Weg gesagt, daß ich es nicht bin. Das ist doch keine rote Bluse – das ist doch Fraise. Wie mich dann der Mann gesehen hat, hat er auch gleich gesagt, ich sei es nicht.«
»Wer war es denn?«
»Ich glaube die Tschubka Kulhava, die hat eine rote Bluse.«
»Deshalb ist sie ja heute nicht da.«
»Wieviel wurde ihm denn gestohlen?«
»Sechzig Kronen sagt er.«
»Das Stehlen ist das schlechteste Geschäft, sag' ich euch,« mahnt eine dicke Alte, »das weiß ich schon längst. Man wird doch erwischt und kann dann sechs Monate unter dem Turm sitzen. Lohnt sich das?«
Ganz ungeniert sprechen die schlampigen Frauenzimmer, denen Jarda zuhört. Er ist ganz befangen in diesem Milieu, nie in seinem Leben ist er noch in einer solchen Spelunke gewesen. Also das ist die Residenz des großen Mani Busch, dessen Eleganz und Reichtum und Weltbedeutung Pepik Sladky nicht genug zu rühmen gewußt hat!
Die Gäste! An allen Tischen spielt man Karten, blasse Burschen, die Stirnlocke fast übers Auge gekämmt, ohne Kragen, alte Männer mit schütterem Haar, matten Augen über dicken Hautfalten, 191 verharschten Wunden und dichten Bartstoppeln. Immerfort gibt es Streit unter den Spielern und von Tisch zu Tisch:
»Du Heuochs, gegen mich willst du Schlauheiten wälzen? Mir willst du eine Figur anhängen und hast einen Vierer in der Hand.«
»Spiele aus, du Pferd, sonst kriegst du eine Ohrfeige, daß deine Zähne in Doppelreihen aus den Hosen fliegen.«
Wenn sich die Türe öffnet, mustert man die Eintretenden, begrüßt sie mit irgend einer brutalen Freundlichkeit. Zwei Männer, sichtlich Dörfler, werden von Dirnen hereingeschleppt. Man ruft ihnen Ironien hinüber:
»Gelobt sei Jesus Christus.«
»Wie steht die Kartoffelernte heuer?«
»Habt ihr den Fahrplan in der Tasche?«
»Verführt die Mädel nicht, ihr Lebemänner!«
Ein Bursch schlängelt sich durch den Rain zwischen den Tischen zu den Fremden hin und biedert sich an. Laut, daß es alle hören, bestellt er ›ein Bier auf Rechnung des Herrn Gevatters da‹. Alle konstatieren: »Ferda ist schon bei der Arbeit; der wird sie ordentlich bereichern!«
Zwischen zwei Platten kommt es von höhnenden 192 Zurufen zu Tätlichkeiten. Anfangs hatten die Burschen an dem einen Tisch denen eines anderen nur verschiedene Sticheleien hinüber gerufen: »Was macht euer Personal?« – »Immer fleißig, beim Stubenwaschen in der Polizei, immer fleißig bei der Spiegelvisite?« – »Herr Professor Janowsky wird sehr zufrieden sein.« – »Die Wlasta ist ein sehr tüchtiges Mädel, hat bei euch eine sehr gute Schule genossen; sie verdient ein tüchtiges Geld – für uns.« – »Ihr müßt wieder etwas Neues abrichten, damit wir es auch abnehmen können.« Die Angegriffenen sind die dialektisch Ungeschickteren. Sie wissen nichts Rechtes zu antworten und begnügen sich damit, sich untereinander zu unterhalten, als ob die Verhöhnungen sie nicht berührten. Aber plötzlich reagiert einer von ihnen auf einen Zuruf mit einer Gebärde: Er lupft den Hemdkragen vom Hals. Das gilt als tödliche Beleidigung. Im Nu ist ein untersetzter Bursch vom Gegentisch aufgesprungen und schlägt dem Beleidiger mit geballter Faust über das Auge, das bläulich anschwillt. Ein Handgemenge, Faustschläge, Püffe, Würgen, der Tisch mit Flaschen und Tassen und Biergläsern fliegt klirrend zur Erde, Biergläser werden zum Angriff gehoben, Leibriemen als Waffe losgeschnallt, der Wirt und die zwei Riesenkellner stürzen herbei, zerren Ochsenziemer 193 aus der Hose, mit wuchtigen Hieben und klammernden Griffen reißen sie die in einander verzahnten Parteien von einander los. Die Kämpfenden setzen sich blaß und keuchend zu ihren Tischen, zwischen den höhnischen Zurufen, mit denen sich jede Partei ihres Sieges brüstet, entstehen immer größere Pausen – die Schlacht verglimmt. An den anderen Tischen hat man mit forziertem Gleichmut weiter Karten gespielt.
Jaroslaw hat entsetzt, gelähmt der Prügelei zugesehen. Das alles ist ihm etwas Fremdes, äußerlich und innerlich Fremdes. Nie hat er dergleichen erlebt, nie wäre er zu solchen Roheiten fähig. Wie der kleine Kerl auf den drüben losgegangen ist, wie er ihm übers Auge schlug, daß er zurücktaumeln mußte.
Das war die Welt seines neuen Freundes aus dem Spital. Jarda stellt sich vor, wie Pepik Sladky hier zu jeder Gesellschaft an den Tischen passen würde. Er ist ein genau so großer Fallot, wie alle diese kragenlosen Strolche hier. Im Krankenhause hatte man das nicht so sehen können, in den Leinenanzügen sahen alle Patienten gleich aus und Pepik Sladky wie Patzelt.
Aber er, Jaroslaw Chrapot, paßt nicht hierher. Er ist von klein auf etwas Besonderes gewesen, ist in deutsche Schulen gegangen, Aristokraten waren seine Mitschüler, er war Pikkolo im vornehmsten Hotel der 194 Stadt, Lieferant der noblen Kupplerin vom Riegerkai, hatte im Etablissement ›Stadt Budapest‹ Champagner serviert, hat selbst eine Wohnung gehabt, wo feine Herren mit Mädeln zusammenkamen – er paßt nicht hierher unter dieses Gesindel.
Gesindel? Was habe ich mir denn einzubilden, was bin ich besseres, als die da! Was einmal gewesen ist, das ist gewesen und vorbei. Dafür gibt mir niemand einen Heller. Ich bin gemessen und photographiert auf der Polizei, mein Körper ist verseucht – die Burschen, die da sitzen, sind vielleicht noch nie im Departement IV. gewesen, noch nie im Spital. Mir bleibt doch nichts übrig, als mich zu ihnen zu gesellen.
Nein. Es geht nicht. Ich könnte nie so verlottert aussehen, nie so verkommen, wie diese Bengel da. Wie der eine dem anderen ins Gesicht gesprungen ist. Der Fausthieb. Ich könnte das nie, ich könnte mich hier nie wohlfühlen. Ich hätte immer Abscheu. Das liegt mir schon so im Blut. Das ist es. Weil ich der Sohn des Herrn Hausbesitzers aus der Rittergasse bin. Darüber kann ich nicht hinweg. So ein nobler Herr. Er läßt sich von einem armen Flößer aus dem Wasser ziehen, sein Weib gefällt ihm, so nimmt er sich sie einfach, der reiche Herr. Wischt sich ab und geht fort, schickt höchstens ein paar lumpige Kronen. Es war ja 195 nur eine Laune des reichen Herrn. Aber sein Blut, das wächst da auf, in einer Gegend, in die es nicht gehört, muß verseucht werden, versickern, austrocknen. Was kümmert das den reichen Herrn! Das war eine Laune, er hat sich befriedigt, bezahlt – was braucht er noch?
Dumpf sitzt Jarda noch lange in der Spelunke, der steigende Lärm, die Menschen, die jetzt das Lokal füllen, alles schwimmt ohne Eindruck an ihm vorbei.
Es ist späte Nacht, da er sich endlich an den Grund seines Hierseins erinnert. Er hatte ja Mani Busch finden wollen. Wie kann dieser reiche Elegant hier unter diesen lichtscheuen Figuren verkehren? Na, er kommt halt mit Überwindung her, bloß um seine Geschäfte abzuwickeln. Jarda fragt den Kellner, wann Herr Mani Busch herzukommen pflege. »Dort sitzt er ja.« – »Welcher ist es, bitte?« – »Der in der Mitte, der jetzt ausspielt.« – »Der mit dem grünen Filzhut?« – »Ja; wenn Sie etwas von ihm wollen, rufe ich ihn her.« – »Nein, danke; ich werde ihn schon selber ansprechen.«
Also Mani Busch, der königliche Kuppler, saß schon den ganzen Abend hier, ohne daß er dem Jarda aufgefallen wäre. Was hatte Jarda eigentlich gedacht? Sollte Mani Busch etwa mit seinem Glanz das Lokal 196 erfüllen? Er sah ja sehr elegant aus. Ein hellgrauer, karierter Anzug, niedriger englischer Umlegekragen mit einer weißen, schwarzgetupften Schmetterlingsmasche und goldenem Chemisettknopf darunter, ockergelbe Halbschuhe und Zwickelstrümpfe; im spärlichen Haar ein Scheitel, der Schnurrbart sorgfältig emporgekämmt. Brillanten? Ja, so etwas funkelte auf der linken Hand. Im Vergleich zu den Kerlen, mit denen er da Färbel spielt, ist er ja wirklich fürstlich angezogen. Aber eine Idealgestalt, wie sie Pepik Sladky im Spital geschildert hatte? Nein. Entschieden nicht.
Die Spieler haben bemerkt, daß der Kellner von dem einsam beim Bier sitzenden Burschen nach ihnen gefragt wurde, und wollen vom Kellner wissen, welche Information der Bursch verlangt habe. »Er wollte bloß wissen, welches der Mani Busch ist.«
Mani Busch geht auf Jarda zu: »Sie haben nach mir gefragt, wollten Sie etwas von mir?«
»Ich habe Ihnen einen Gruß zu bestellen von Pepik Sladky, ich war nämlich gleichzeitig mit ihm im Spital.«
Mani Busch nickt einmal unmerklich mit dem Kopf. Gleichmütig, fast verächtlich. Kein Dankeswort, keine Erkundigung nach Pepiks Befinden. Sehr im 197 Ansehen scheint bei Mani Busch seine ›rechte Hand‹ nicht zu stehen. »Wollen Sie noch etwas?« fragt er.
»Ob Sie nicht vielleicht – Pepik Sladky hat nämlich gemeint – irgend einen Auftrag für mich hätten – irgend ein Mädel zu verschaffen – oder so.«
»Gott, ich habe Leute genug. Wenn Sie mal ein fesches Mädel hätten, ich wohne Josefstädtergasse elf, zweiter Stock, eine Jungfrau zum Beispiel, das zahle ich gut.«
»Hundert Kronen fürs erste Mal, nicht?« Jarda hat sich an dieses eherne Lohngesetz erinnert, das ihm als Kind so viel Kopfzerbrechen und Schmerz bereitet hatte, und spricht es jetzt aus, um Mani Busch zu zeigen, daß er kein Neuling ist, die Taxen kennt.
»Hundert Kronen? Sie müssen für splendide Leute gearbeitet haben! Also gut: Hundert Kronen, aber dann kriegt das Mädel nichts mehr. Und für jedes Mädel, das in Stellung gehen will, kriegen Sie zwanzig oder dreißig Kronen und Spesen. Ich bin täglich bis vier Uhr nachmittags zu Hause.«
Das ist der Schluß der Unterredung, und Jarda sitzt wieder allein beim Bier.
Hundert Kronen waren dem Mani Busch zuviel gewesen. Soviel hatte damals die Betka bekommen und ihre Schwester, die Emmy mindestens ebensoviel. Mani 198 Busch, dem großen Louis, war es als Gesamtgebühr zu viel gewesen. Zehn Kronen hatte Jarda von der Frau auf dem Riegerkai erhalten, wenn er ein längst erfahrenes Mädel von der Kampa-Insel einmal zu ihr geführt hatte. Und jetzt bot ihm Mani Busch ›zwanzig Kronen‹, wenn er ein Mädel veranlassen würde, für immer in Stellung zu gehen, in ein Bordell nach Galizien oder Josefstadt zu den Soldaten. Jarda muß daran denken, wie er mit den Kellnerburschen zum ersten Male ein Freudenhaus betreten, welchen Widerwillen ihm diese aufdringlichen, verkommenen, entweibten Frauenzimmer, der ganze empörende Duft dieses Hauses eingeflößt hat. Zu einem solchen Schicksal, zu einer ewigen Verbannung in ein solches Loch sollte er seine Jugendfreundinnen aus den Uferhäuschen bereden? Um zwanzig oder höchstens dreißig Kronen? »Sie müssen für splendide Leute gearbeitet haben,« hat Mani Busch eben gesagt. Freilich, er war immer nur mit Kavalieren zusammengekommen. Was war der von Pepik Sladky angeschwärmte Mani Busch für ein Kleinkrämer gegen die Frau auf dem Riegerkai, was für ein Schmutzian gegen die Gäste im ›Stadt Budapest‹ und die in seiner Wohnung!
Nein, ein Aufstieg ist es nicht, den er da durch Polizei und Spital ins Café Brasilien gegangen ist. 199
Aber was bleibt ihm übrig? Früh wird er auf die Insel Kampa gehen. Zwanzig Kronen sind immerhin besser als nichts.
Nein. Das widert ihn an. Es gibt noch einen anderen Weg, den Weg in die Rittergasse. Er wird einmal mit seinem Vater sprechen. Sie müssen ihn vorlassen. Er wird sich nicht abweisen lassen. 200