Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Sechstes Kapitel

Jaroslaw Chrapots Lehrzeit in der Drogerie, in die er nach beendigter Bürgerschule eingetreten war, ist von kurzer Dauer gewesen. Schon nach vier Monaten hat er die Stelle verlassen; der Buchhalter hatte ihm wegen einer Verwechselung ein Kopfstück versetzt, und Jarda war daraufhin aus dem Geschäfte fortgegangen, um nicht mehr wiederzukehren. Er ist dann ein paar Monate stellungslos und gibt sich ganz seinen Regierungsgeschäften auf der Insel Kampa hin. Er kann über die Mädchen eine Tyrannei ausüben, denn seine männlichen Alterskollegen arbeiten tagsüber in der Fabrik oder im Floßhafen oder fahren mit geschrieenen Grüßen als Flößer an den heimatlichen Häusern vorüber.

Die damalige Abberufung der Betka zu dem fremden Herrn hat er nicht verwunden, im Gegenteil, sie 70 schmerzt ihn noch mehr, seit er von Betka gelernt hat, um was es sich handelte. Durch diese Kenntnisse hat er einsehen gelernt, daß er damals ein rechtes Kind und im Grunde doch ein Dummkopf war, trotz des Ebenholzstockes. Aber jetzt, da er erwachsen ist, hält er sich reichlich schadlos. Wozu sind die anderen Mädel da? Wahllos nimmt er sie. Er fährt mit ihnen im Sommer auf einem der Mühlenkähne zwischen der Häuserstraße durch, die das Prager Venedig bilden, die ›Certovka‹ einsäumen. Im Winter borgt er ihnen seine Schlittschuhe oder schleift mit ihnen bis knapp zur Humanka hinüber. So sind alle sein. Der Betka, mit der er noch immer geht, ist es allerdings nicht recht – aber tut sie es besser? Sie sagt zwar, bei ihr sei es etwas anderes, sie gehe auf den Riegerkai bloß um Geld zu verdienen, und gibt ihm auch wirklich immer einen kleinen Anteil, aber Jarda will bei anderen einholen, was er bei ihr versäumt hat. Mag sie schimpfen! Das freut ihn nur, wenn er sieht, daß sie eifersüchtig ist; das ist eine kleine Entschädigung für die würgende Eifersucht, die ihn damals zu Fieber und Erbrechen trieb. Mag sie ihn mit Vorwürfen überhäufen, er hat längst gelernt, sich aus Mädeln nichts zu machen. Er weiß schon: Wenn sie erfahren hat, daß er sie wieder einmal betrogen hat, ist sie, nachdem 71 ihre Gardinenpredigt zu Ende ist, doppelt so zärtlich zu ihm, als sonst. Sie will, daß sie bei einem Vergleich mit den andern gewinne. Sie schimpft auch auf die andern.

»Daß du dich nicht schämst mit der Luise zu gehen, mit einer so dummen Gans!«

Jarda muß lächeln. Gescheit ist ja die kleine Luise Hejl wirklich nicht. Noch heute hat sie sich nichts von den Künsten angeeignet, die Betka schon als Kind gekonnt hatte. Luise trägt noch heute kein Toupet, ihr helles Haar ist in der Mitte gescheitelt und glatt über den Kopf gelegt, wie ein geschlossenes Flügelpaar. Ihr blaues Kattunkleid, ihr gelber Strohhut mit einer Rose und einer Perlhuhnfeder sehen dürftig aus.

Aber die Luise hatte ein so stilles, erstauntes Glücklichsein, als Jarda sie an sich rief.

Sie hatte sich sozusagen eine Ehre daraus gemacht. Und als Jarda sie küßte, hatte sie unfreiwillig komisch den Kopf erhoben, als ob sie dem lieben Gott für so viel Glück danken wollte.

Sie ist ein armes Ding. Laufmädel ist sie in einem Kinderkonfektionsgeschäft in der Zeltnergasse, von acht Uhr früh bis acht Uhr abends muß sie sich für zwanzig Kronen Monatslohn plagen. Zu Hause hungert sie mit ihrer Mutter, und ihr Vater hat im vorigen 72 Monat den Flößertod erlitten: die ›Schregge‹, der Floßanker hatte sich im Moldaugrund gelockert, und als sich der Hejl daran zu schaffen machte, hatte sich der Riesenbalken so heimtückisch und furchtbar um seine Achse gedreht, daß der Flößer mit zerschmettertem Schädel auf der Prahme lag. Sein Tod hatte unter den Flößerfamilien größeres Aufsehen hervorgerufen, als die meisten Unfälle. Während sonst die Berufskatastrophen in der Schleuse, hinter Jedibab, in Laube oder in Sachsen vorzukommen pflegen, hatte sich diesmal das Unglück bei der Hetzinsel abgespielt, also im Prager Polizeirayon und stand in der Zeitung. Es war dadurch sozusagen eine öffentliche Angelegenheit geworden. Fünf gedruckte Zeilen und ein Fremdwort im Titel – die Flößerwelt war ganz stolz darauf, daß über einen aus ihrer Gilde in der Zeitung geschrieben wurde. Jarda hatte noch lachen müssen, als eine Nachbarfrau seiner Mutter das Zeitungsblatt ins Zimmer gebracht und kopfnickend gesagt hatte: »Die Aufschrift heißt ›Riskonto der Arbeit‹, das ist ganz richtig, die Arbeit ist wie ein Riskonto bei der Lotterie, man gewinnt nur selten und verliert fast immer.« Es war für Jarda nicht leicht gewesen, den Frauen den Unterschied zwischen ›Riskonto‹ und ›Risiko‹ – denn ›Risiko der Arbeit‹ hieß die Notiz – irgendwie klarzumachen. 73

Ja, es geht ihnen sehr schlecht den Hejlischen. Der Kaufmann will ihnen nicht borgen, sie essen nichts anderes, als Wassersuppe.

Jarda möchte der Luise gerne helfen, aber die paar Kreuzer, die er ihr geben kann, werden sie nicht aus der Not retten. Dem hinkenden Adalbert, der als das männliche Gegenstück zu Luise Hejl von klein auf Jardas unverhohlenster Bewunderer und ihm mit sklavischer Unterwürfigkeit untergeben gewesen ist, war immerhin leichter zu helfen gewesen. Der hinkende Adalbert mit den breiten Schultern und dem häßlichen Gesicht ließ sich schon als ganz kleines Kind, wenn man Haschen spielte, statt sich gut zu verstecken, halb absichtlich von Jarda fangen, um diesem eine Freude zu machen; wenn Jarda auf dem Eis hinfiel, hob er ihn auf, wenn beim Messerwerfen das Messer statt sich in die Bank einzubohren auf die Erde fiel, bückte sich niemals Jarda danach, sondern immer der hinkende Adalbert. Dafür hegte Jaroslaw ein Freundschaftsgefühl für den armen Burschen und hatte durchgesetzt, daß die Toni Dolezalova, die Auserwählte des hinkenden Adalbert hie und da mit diesem schleife. Es war nicht so einfach gewesen. Die Toni Dolezalova wollte ihn nicht, sie mache sich nicht lächerlich, der Adalbert sei ein Krüppel, er könne ja nicht anständig schleifen, und 74 habe ein so widerwärtiges Gesicht. Jarda mußte erst versprechen, dreimal mit ihr zu schleifen, bevor er erreichte, daß die Toni seinem hinkenden Freunde keinen Korb gab.

Jetzt arbeitet der hinkende Adalbert im Smichower Hafen, nicht als Flößer, denn das Geschäft ist flau, und man nimmt keine neuen Arbeiter auf, aber er hilft die Balken mit Bindwieden festzuknüpfen, die Weidenbänder mit Wasser zu besprengen, damit sie nicht zu spröde seien und beim Ansturm der Schleusenwässer nicht reißen, er stößt die Prahmen bei der Abfahrt aus dem Hafen ab.

Er hinkt noch immer, er ist so häßlich, er ist so dem Jarda ergeben und so in die Toni Dolezalova verliebt, wie er es als Kind war. Die Toni mag ihn noch immer nicht. So wendet sich der arme Flößerbursch in seiner Verzweiflung an Jarda. Der möge zu veranlassen versuchen, daß die Toni mit Adalbert am Sonntag in die ›Klamovka‹ tanzen gehe.

Das ist für Jaroslaw eine noch schwerere Aufgabe, als es damals war, die Toni zum Schleifen mit dem ihr verhaßten Verehrer zu bewegen. Aber Jarda erreicht auch diesmal durch die Drohung, nie mehr mit ihr zu sprechen, und mehr noch durch die Zusage, einmal mit ihr in das Kinotheater zu gehen, ihr 75 Einverständnis. Über diesen Erfolg hat sich Jarda fast mehr gefreut als sein armer Freund, der bei der frohen Botschaft vor Glück noch blasser, noch häßlicher geworden war und kein Wort hervorzustammeln vermochte.

Die Toni Dolezalova hat dem Jarda nie gefallen. Aber jetzt, da er sie als Objekt einer so flammenden Leidenschaft sieht, denkt er daran, daß sie gar nicht so arg ist.

Einstweilen gibt es andere Mädel genug, und ihn freut seine Herrschaft über alle. Als er einmal abends mit einer Ruzena Rec nach einem Stelldichein in den Odkolek-Anlagen über die Mauer in die Eulmühlgasse zurückkletterte, kam gerade Robert Malik, Schuldienerssohn aus der Kampa-Realschule, vorüber. Die Ruzena Rec lachte: »Der wird eine Wut haben! Er hat mich schon zweimal angesprochen, aber ich hab' ihm gesagt, er soll seiner Wege gehen.«

Jarda freute sich ungemein, daß er dem Malik imponiert hatte, daß dieser ihn jetzt beneide. Robert Malik war früher, als Jarda noch Realschüler war, bei ihm und bei den Mitschülern in Ansehen gestanden. Nicht etwa bloß deshalb, weil Robert Malik manchmal für seinen Vater die heilige, befreiende Schulglocke läutete oder weil er für den Direktor und 76 die Professoren allerhand Dienste verrichtete oder weil er im Hofe Buttersemmeln und Schinkenbrot verkaufte, wenn sein Vater im ersten Stock am Verkaufsstand war, oder weil er Schulbücher und Tintenfässer in Verwahrung nahm, wenn die Jungen ballastlos aus der Schule auf das Belvedere zum Fußballspiel eilen wollten. Sein Ansehen gründete sich auf seine Broschürenbibliothek. Er hatte Nick Carter-Hefte in Massen, Sherlock Holmes-Bücher und dergleichen. Ein unverbürgtes Gerücht erzählte, den Grundstock seiner Sammlung habe ein Professor gelegt, der einem Oberrealschüler einige dieser Hefte als Schundlektüre konfisziert und dem Schuldiener zur Vernichtung übergeben hatte. So hatte Robert Malik diese Literatur kennen gelernt und seine Bestände vervollständigt. Die Bücher verlieh er an die Realschüler, die danach toll waren, gegen ein mäßiges Entgelt von zwei bis fünf Kreuzern, Stahlfedern oder vorjährigen Schulbüchern. Auch Chrapot Jaroslaw hatte zu seinen Kunden gehört. Aber als der die Kampa-Realschule verließ, beachtete ihn Robert Malik gar nicht – wahrscheinlich weil er um vier, fünf Jahre älter war, als Chrapot.

Und nun hat er Jarda über die Mauer des abendlichen Zeughausgartens mit einem Mädchen kriechen sehen müssen, dem er selbst vergeblich nachgestellt hatte! 77 Jarda fühlt sich allmächtig. Nur das Mitleid mit Luise Hejl, die ihn so zärtlich bewundert, und der er nachmittags begegnet, wenn sie mit leerem Magen ins Geschäft zurück muß, läßt ihn im eigenen Glauben an seine Macht ein bißchen irre werden; er kann ihr ja nicht helfen.

»Wir werden fort müssen von der Kampa,« schluchzt sie, »wir werden delogiert, weil wir den Mietzins nicht bezahlen können.«

»Du solltest mal zu der Frau auf dem Riegerkai gehen, dort kannst du etwas verdienen.«

Die Kleine schämt sich, allein hinzugehen. Jarda ordnet an, daß Luise zu den Dvoraks gehen möge, um die Fanny oder die Betka herauszurufen. Er werde draußen warten. Aber keines von den zwei Mädeln ist zu Hause. Da Luise um zwei Uhr nachmittags im Geschäft sein muß, so entschließt er sich, selbst mit ihr zur Kupplerin zu gehen. Luise wartet unten, er geht hinauf, wird in ein feines Wartezimmer mit Möbeln und rotem Plüsch und mit Silberleisten geführt, daß er selbst ganz befangen wird. Was soll die kleine Luise in dieser noblen Wohnung machen, was hat er selbst da zu suchen? Wird er nicht hinausgeworfen werden? Die Frau kommt – er hat sich eine verhutzelte alte Schachtel vorgestellt und nun sieht er eine 78 hoheitsvolle, leicht geschminkte Dame mit Brillanten vor sich. Steif fragt sie ihn in gebrochenem Tschechisch nach seinem Begehr. Er antwortet ihr gleich deutsch; stockend bringt er das Anliegen vor. Die Dame wird sehr freundlich. Sie belobt ihn, daß er ein so gutes Herz habe und der Familie des Fräuleins helfen wolle; es sei auch sehr gescheit von ihm, daß er das Fräulein hierher mitgenommen habe. Jetzt sei zwar kein Herr da, aber das Fräulein möge abends nach Geschäftsschluß kommen und sich gar nicht genieren. Es möge dem Dienstmädchen, das öffnen werde, einfach sagen: »Ich bin herbestellt.« Jaroslaw bedankt sich so höflich und respektvoll wie er kann. Die Frau lehnt freundlich lächelnd ab. Wenn eine hübsche Dame Geld brauche, könne er sie immer herschicken; er sei ja ein so fescher Kerl, daß er sicher viele Mädel kenne. Und sie selbst würde sich auch immer gerne erkenntlich zeigen.

Robert Malik, der Schuldienerssohn, spricht auf der Insel Kampa den Jarda an, zum ersten Mal seit Jahren. Jarda merkt gleich, wieso er zu der Ehre kommt, und freut sich, daß sich die Wirkung des Gesehenwordenseins so schnell äußert. Robert Malik macht auch gar kein Hehl aus seiner Absicht: »Sie sind dieser Tage mit einem hübschen Mädel, ich glaub' 79 Ruzena heißt sie, aus den Odkolekanlagen gekommen. Ist das Ihre Geliebte?«

Jarda bewegt die Hand, abwehrend. Andeutend: solche hab' ich eine Masse.

Robert Malik: »Ich weiß ja, Sie gehen doch mit der jüngsten von den Dvorak-Mädchen. Mit der Ruzena waren Sie bloß so aus Langeweile, nicht?«

»Ja, so zum Spaß.«

»Wissen Sie, die Ruzena gefällt mir sehr gut. Ich hab' sie schon zweimal angesprochen, aber hab' beidesmal einen Korb bekommen. Sie könnten mich mal mit ihr zusammenbringen, nicht? Ich borge Ihnen dafür Bücher. Ich hab' jetzt feine Nick Carter-Hefte und einen großen Mordroman ›Schuld und Sühne‹, riesig spannend.«

Die Bücher locken Jarda nicht sehr, obwohl er jetzt Zeit genug hätte. Was ihm schmeichelt, ist das Vertrauen des andern zu seiner Macht.

»Na ja, das kann ich ja machen.«

»Wissen Sie, Sie können ihr ja sagen, daß ich ihr etwas schenken werde.«

Jardas Selbstbewußtsein lehnt den Vorschlag solcher Lockung ab: »Wenn ich ihr sage, daß sie mit Ihnen gehen soll, so muß sie gehen.«

Der schlaue Schuldienerssohn äußert, um 80 aufzustacheln, ein halb bewunderndes, halb zweifelndes: »So? Glauben Sie wirklich?«

Robert Malik hat einen glänzenden Plan. Er habe ein Zimmer aufs Wasser hinaus zu ebener Erde; das Fenstergitter sei längst durchgesägt. Dort könnte Chrapot mit der jüngsten Dvorak und mit der Ruzena abends durchs Fenster zu ihm kommen. Er würde Wein vorbereiten und es würde ein großer Jux werden. Dafür ist Jarda gleich zu haben und will schon heute kommen. Er schlägt ein.

Aber Robert Malik will sich noch stärker vergewissern: »Kommen Sie, ich gebe Ihnen gleich ein paar Nick Carter-Hefte.« Nun hat Jaroslaw Chrapot seinen Vorschuß und muß auf alle Fälle sein Wort halten. Er kommt am Abend mit den zwei Mädeln und es gibt wirklich einen großen Jux.

Mittags sitzt er, eines der von Robert Malik geliehenen Detektivhefte lesend, auf dem Moldauabhang, als ihn Luise Hejl von der Karlsbrücke anruft. Sie kommt zu ihm hinunter, ganz glückstrahlend überbringt sie ihm die Botschaft, daß sie von der Frau am Riegerkai zwanzig Kronen nach Hause gebracht hat. Ihrer Mutter habe sie eingeredet, sie habe das Geld von einer Kundschaft bekommen, der sie jetzt jeden Abend Schnittmuster zeichnen müsse. 81

»Hat es deine Mutter geglaubt?«

»Na . . . anscheinend ungern. Aber sie hat mich nicht weiter gefragt. Sie war froh, daß sie das Geld hatte.«

Betka Dvorak, der Jarda die Sache erzählt, ist sehr unwillig.

»Es ist ohnedies schon ein so schlechtes Geschäft bei der Frau auf dem Riegerkai, und du schleppst noch andere Mädel hin.«

Doch Jaroslaw freut sich unvermindert. Freut sich, daß er den Hejlischen geholfen hat, und mehr noch seiner Macht. 82

 


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