Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Siebentes Kapitel

So geht es nicht weiter. Das konstatiert Frau Chrapot jeden Tag mehrere Male, und das Nullerl von einem Mann muß ihr Recht geben, denn nur um dieses Beipflichtens willen spricht ihn seine Frau an. Übrigens ist es diesmal auch wirklich des Flößers Chrapot innere Überzeugung, daß seine Gattin recht hat: So geht das nicht weiter.

Der Junge liest den ganzen Tag Mordgeschichten, oder er lungert mit Mädchen herum.

Den Traum, ihren Jarda einst als hohen Herrn zu sehen, vor dem die Leute auf der Insel Kampa demütig und ehrerbietig den Hut ziehen würden, träumt die Flößerfrau nicht mehr. Jarda hatte sich sogar dagegen gesträubt, nach beendigter Bürgerschulzeit in irgend eine Handelsschule zu gehen. »Das Lernen hab' 83 ich schon bis daher,« hatte er kategorisch erklärt und mit der Hand das Niveau angedeutet, bis wohin er das Lernen habe: über den Mund. Also hatte man ihn gleich ins Geschäft gesteckt, aber nach seiner Entlassung aus der Drogerie will er sich zu keinem Beruf entschließen.

Nochmals als Laufbursche in ein Geschäft einzutreten – diese Zumutung lehnt er entrüstet ab. Von einem Handwerk will er erst recht nichts wissen. Der schüchtern gebrummte Vorschlag des alten Chrapot, Jaroslaw solle Flößer werden und schon nach drei Jahren könne er die Floßmeisterprüfung machen, hat nur einen Blick seiner Frau zur Folge, in dem dieser Vorschlag als unsagbar albern verurteilt wird und in dem gleichzeitig eine Verachtung aller Flößer und des ganzen Flößerstandes liegt; der alte Chrapot, in dessen Familie das Flößergewerbe wohl seit hundert Jahren Beruf ist, duckt sich unter der Züchtigung dieses Blickes noch scheuer zusammen.

Immer entschiedener rücken die Eltern an Jaroslaw mit den Vorwürfen in Frageform heran, wie er sich das eigentlich vorstelle. Ob er glaube, zeitlebens mit Mädchen herumlungern, Bücheln zu lesen, Schlittschuh zu laufen oder in der Certovka Schinakel zu fahren?

Endlich erklärt er sich. Er werde sich eine Stelle 84 in einem vornehmen Restaurant als Kellnerbursche suchen. Frau Chrapot ist damit ganz zufrieden; sie sieht ihn hübsch reinlich angezogen, im Frack servieren, die Manieren der noblen Leute annehmen, die er bedient, und abends wird er nicht so schmutzig und zerlumpt nach Hause kommen, wie die Burschen aus der Fabrik oder vom Floß.

Noch nach Jaroslaws Willensäußerung über seine Berufswahl dauert es geraume Zeit, bis er sich auf die Suche nach einer Stellung macht. Er hat anfangs gar keine Eile und braucht zu Hause, wo man ihm ohnedies hinreichend Vorwürfe macht, Geld nicht zu verlangen. Die Betka, die ihm die Künste der eleganten Kleidung beigebracht und verraten hat, daß die feinen Herrn nicht lange Unterhosen mit Bandeln und keine Socken tragen, hat ihm selbst die Unterhosen abgeschnitten, beim Knie eingesäumt und versorgt ihn mit ihren eigenen langen Strümpfen. Auch hat sie ihm ein Paar Lackhalbschuhe gekauft. Die weiteren Toilettepflichten eines Herrn kann sie dem Jarda nur dozieren, zu ihrer Erfüllung kann sie nicht beitragen, so sehr ihr auch die Umgestaltung eines Kampajungen zu einem Herrn pädagogischen Spaß macht. Sie hat ja mit sich selbst zu tun, sie würde dringend ein Uhrenarmband, einen Winterhut, einen 85 Muff brauchen, und auch Wäsche mit Spitzenvolants wäre für sie nicht Luxus, sondern eine wichtige Investition. Ihr Riegerkai-Geld reicht oft nicht aus, dem Jarda die zwei, drei Sechser zu geben, die er verlangt, um in die ›Hölle‹ zum Bier zu gehen. Im Zorne über eine solche Weigerung hat er schon zwei Mädeln, die wußten, daß er die kleine Hejl auf dem Riegerkai eingeführt hatte, und ihn aus Geldsehnsucht tagtäglich um die gleiche Gefälligkeit schikanierten, zu der Frau gebracht. Im Zorne über die Betka, aus Eitelkeit, um der üppigen Frau in der wunderbaren Wohnung zu zeigen, daß sie recht hatte, wenn sie annahm, er habe als fescher Kerl hübsche Mädel, und vor allem, weil er wußte, daß mindestens eines der Mädel allein den Weg zur Kupplerin finden würde, falls er ihn nicht weisen würde. Weshalb sollte er aber nicht den Vermittlerlohn einheimsen? Umsomehr als er dringend eines grünen Plüschhutes und einiger Hemden mit nicht abnehmbaren Manschetten bedurfte, was ihm Betka als den Inbegriff der Noblesse geschildert hatte. Nur sind die Vermittlungen ein schlechtes Geschäft. Zehn Kronen hat er für jede der beiden bekommen, die er hingebracht hat, und man bezahlt ihm nur für den ersten Besuch des Mädels; das nächste Mal kommt es von selbst, nur zum ersten Weg in ein fremdes Haus 86 bedarf es eines Entschlusses. Also ein kläglicher Lohn und er muß innerlich der Betka recht geben, die ihn dafür beschimpft – je größer das Warenlager der Kupplerin ist, desto größer für sie die Konkurrenz, und wenn sie auch hübscher ist als die anderen, manche Herrn ›fliegen‹ prinzipiell auf die Neuen, und das Geschäft ist schon ohnedies hundsmiserabel, gestern hat Betka drei Stunden im Wartezimmer gesessen, bevor überhaupt jemand kam, und sie muß jetzt auch nach Weinberge zu einer Frau gehen, wo sehr mindere Leute verkehren, die wenig bezahlen, aber es sind dafür viele Herren dort. Sehr undankbar sei es von Jarda, ihr das Geschäft noch zu erschweren, und auch dumm, denn je mehr Geld sie habe, desto mehr könne sie ihm geben.

Jarda geht Stellung suchen, und findet sie gleich im feinsten Hotel, wo er sich zunächst vorstellt; er spricht deutsch, was man für den Verkehr mit den Hotelgästen verlangt, er spricht tschechisch, was hauptsächlich für den Verkehr mit dem Lieferanten, den Fiakern, dem Küchenpersonale von Wichtigkeit ist, er sieht nicht so mürrisch und verhärmt aus, wie die meisten Stellungssuchenden, und ist dabei ein Prager, braucht also weder ein Freiquartier im Hotel noch einen Wohnungsbeitrag. Die andern drei noch nicht ausgelernten Kellnergehilfen, seine Kollegen, verspotten den 87 neuen Jüngsten von der Höhe ihrer um Tage, Wochen oder Monate längeren Praxis und ihres Alters von siebzehn oder achtzehn Jahren herab, treiben allerhand Possen mit ihm, schicken ihn mit einer Wasserkaraffe ins Zimmer Nummer 13, das es nicht gibt, berufen ihn durch ein Klingelzeichen in ein Zimmer im dritten Stockwerk, das gerade leer steht, und was ähnlichen Schabernacks mehr ist. Das ist er nicht gewöhnt. Von Kindheit an ein Imperator über Altersgenossen, Jüngere und Ältere, kränkt es ihn furchtbar, die Rolle des Verhöhnten zu spielen. Er brennt darauf seinen Peinigern zu zeigen, welche Macht er habe.

In gewisperten Gesprächen auf dem Korridor, mit einem unreif-geilen, großtuerischen Lachen brüsten sich die drei Burschen in freien Augenblicken vor sich selbst, vor einander und vor allem vor dem Neuen in ihrem Kreis mit ihren Liebesabenteuern. Jeder weiß sexuelle Wunderdinge von ›seinem‹ Mädel – irgend einer Dirne im Freudenhaus. Der eine erzählt, daß die ›Carmen‹ ihn so gern habe, daß sie schon zweimal für ihn die Taxe von drei Kronen bezahlt hat und nie von ihm ein Strumpfgeld nehmen wolle, der andere, daß die Aranka neulich die Aufforderung eines der splendidesten Gäste, mit ihm aufs Zimmer zu gehen, abgelehnt habe, weil sie wußte, daß er kommen werde und weil 88 sie fürchtete, er könnte mit einer anderen gehen, wenn sie nicht da wäre. Und andere Dinge, intimere Dinge verraten sie, spötteln brutal über ihre Geliebten.

»Da starrst du, du Gescheiter, was?«, ist – dem Jarda zugerufen – der Tenor jedes einzelnen Berichtes.

Jarda starrt wirklich. So bübisch es ihm vorkommt, wie die Jungen die Türen ihrer Liebeswelt aufreißen, es ist doch eine ihm ganz fremde, ungeahnte Welt, in die er durch die aufgerissenen Türen schaut. Seit jener Abberufung der Betka hat er kein Mädel mehr tragisch aufgefaßt, hat alle genommen, wie sie waren, ohne seelisch beteiligt zu sein, aus dem Vergnügen des Besitzergreifens heraus, in einer Art von Sport, den er den noblen Herrn abgeguckt hatte, die sich die Dvorak-Mädel bestellten oder zu der Frau auf dem Riegerkai gingen. Nie hatten ihm seine Mädel besonders leid getan, immer hatte er sich gefreut, wenn man ihn um der großen Gunst willen beneidete, wie es damals war, als ihn Robert Malik mit seiner Ersehnten aus dem Park kommen sah, aber nie war es ihm beigefallen, sich so seiner Erfolge zu rühmen, so schamlos die Details des Genusses zu enthüllen, die Mädchen zu prellen und ekelhaft zu verhöhnen, mit denen man Umgang hatte. Und seltsam neu und wichtig 89 war ihm, daß man so sprechen, so handeln müsse um zu imponieren, seine Erhabenheit über das Weib zu zeigen.

Die Einladung der drei an Jarda, die nächste Exkursion mitzumachen, wird in verletzender Form vorgebracht, etwa: »Komm mit, damit du siehst, was du für ein Grünling bist.« Gemeint ist sie so: Komm mit, damit du siehst, was wir für Kerle sind.

Um zwölf Uhr nachts machen sich die vier Kellnerburschen auf.

Einige Stufen führen von der abgelegenen Straße zu der blau-rot-grünen Glastüre. Durch diese Glastüre kann man von innen nach außen, nicht von außen nach innen sehen, und wenn man sie öffnet, dann schrillt eine Glocke durch das ganze Haus, und ein paar Weiber kommen auf den Korridor gelaufen, um sich gleich einen Gast zu schnappen. Da sie sehen, daß es ständige Kundschaften sind, sind die unbeteiligten Damen enttäuscht, höchstens ruft eine laut die Stiege hinauf: »Aranka, dein Alter ist da.« Die anderen Weiber, die Beteiligten, hängen sich gleich mit outrierter Herzlichkeit an den Arm ihres Stammgastes. Da Jaroslaw Chrapot unbeweibt bleibt und an dem scheu streifenden Blick als Greenhorn kenntlich ist, buhlen alle um seine Gunst. »Das ist ein hübsches Knäblein,« 90 lockt die eine und will ihn beim Kinn packen, eine andere versucht ihn bei der Hand zu nehmen und sich an ihn anzuschmiegen, wieder andere begnügen sich damit, ihn mit feurig-lockend-lächelnden Augen zu streicheln oder ihm Zigarettenrauch ins Gesicht zu blasen. Jaroslaw schiebt alle und alles ab. Denn ihn ekelt. Wovor? Er weiß es nicht, es ist ein unentwirrbares Ganzes, das ihm Abscheu einflößt. Er kann sich die Bestandteile dieses Ganzen gar nicht vergegenwärtigen, den schwülen Dunst von Schweiß und Parfüm, der ihm gleich beim Eintritt einen Schlag ins Gesicht versetzt hatte, das aufdringliche Gehaben der schwarzgerahmten Augen auf karminroten Wangen, die anpreisend grellen Empirekleider mit den entblößten Brüsten und kniefrei, das lockende, Temperament vortäuschende Tänzeln zum rasselnden Brüllen des Orchestrions, die scham- und würdelose Begeisterung der Weiber beim Empfang seiner Kollegen und die Sodawasserstrahlen, die sich beim Druck des geschwungenen Metallhebels aus der Flasche in das Glas erbrechen. Er kann das alles nur in der Gesamtheit fühlen und weiß nicht den Grund für seinen Widerwillen.

Seine Kollegen sitzen neben ihm, von nackten Mädchenarmen umschmiegt, oder mit Mädchenwaden auf ihren Knieen, sie sind die Umworbenen und noch suchen 91 sie durch Bewegungen und Redensarten die Werberinnen zu übertreffen. Dabei schauen sie auf Jarda und ihre Gesichter fragen ein selbstbewußtes: Na? Sie hetzen die Weiber von neuem auf Jaroslaw, der sich ohnedies durch sein sichtliches Unbehagen und scheues Beiseiterücken ihrer nicht erwehren kann. »Hier sitzt ein Junggeselle, der hat noch Feuer,« stacheln die übermütigen Burschen auf, auf Jarda deutend. Und als sich dieser auch des neuen Ansturms erwehrt, halten sie ihn für unheilbar naiv und schüchtern.

Schon nach zehn Minuten sitzt Jarda allein am Tisch. Die drei Genossen sind ›aufs Zimmer‹ gegangen, und er hat Zeit den widerwärtigen Eindruck zu überdenken, den dieses Freudenhaus auf ihn macht: Soll ich mich erhaben fühlen, weil mich das alles abstößt? Soll ich mich erhaben fühlen, weil ich einen besseren Liebesgenuß kenne, als diesen bezahlten, sich ablösenden, geschäftsmäßigen? Oder aber sind diese meine älteren Kollegen im Zimmer oben im Recht, brutal gegen das Weib zu sein, sich an ihm zu befriedigen und dann höhnend weiterzugehen? Sind sie die Klügeren, die über die Frauen Erhabeneren? Entspringt mein Ekel nicht wirklich der Unreife, der Neuheit dieser Eindrücke, werde ich nicht später dazu kommen ihn zu überwinden und so gerne hierher zu gehen, wie die 92 anderen? Dort sitzt ein junger Mann mit aufgezwirbeltem Schnurrbart, der würde es wohl auch verstehen sich irgend ein Mädel zu gewinnen, wie es die Kampa-Mädel sind, die ja alle froh sind, wenn sie einen Burschen kriegen; und doch geht der junge Mann gewiß oft her – er kennt alle die Dirnen beim Namen – und zwickt sie, frozzelt sie und wird dann eine bezahlen, mit der er für ein paar Minuten allein sein wird. Dort sitzt ein alter, behäbiger Herr und hat eine dicke goldene Uhrkette mit einer Berlocke und breite Ringe, der könnte doch auch zu der Frau am Riegerkai gehen, wo er dieselben Mädel hätte, auf die ich mir hier so viel einbilde, aber er kommt hierher, in das Lokal, in dem es mich ekelt, und tastet mit seinen fetten Fingern unter meckerndem Lachen des Genusses nach diesen derben Dirnen, die mir Entsetzen einflößen. Meine Kollegen im Zimmer oben sind aus mindestens so guten Familien wie ich. Warum glaube ich, ihnen überlegen zu sein, weil mich hier alles anekelt, mich den Flößerssohn?

Und da fällt ihm ein: Er ist kein Flößerssohn. Das Kampa-Gerücht, das ihm einmal die Betka erzählt und dem er damals nur als einem romantischen Märchen gelauscht hat, das Gerücht von dem vornehmen Herrn, der bewußtlos vom explodierten Dampfer zum Flößer Chrapot in die Wohnung gebracht worden war, 93 kurz bevor Jarda auf die Welt kam, und von dem Geld, das der Fremde in das Chrapot'sche Haus gebracht hat, dieses Gerücht wird nun plötzlich zur Lösung seines Rätsels. Der Fremde (daß es der reiche Herr aus der Rittergasse ist, weiß Jarda längst) ist sein Vater. Warum hätte ihm Jarda sonst seine Zeugnisse hintragen müssen, weshalb hätte er Jarda eine goldene Uhr mit Kette geschenkt, weshalb hätte er ihn immer so eigentümlich angeschaut! Natürlich, das ist sein Vater. Jaroslaw Chrapot ist kein Flößerssohn, ist der Sohn eines noblen Herrn. Deshalb war er auch von klein an besser angezogen als die Kampa-Kinder, deshalb ging er nicht in die tschechische Schule wie sie, deshalb war er ein unumschränkter Herrscher über das Reich der Jugend zwischen Moldau und Certovka.

Alle diese Erkenntnisse drängen sich ihm in dem eklen Milieu des verrufenen Hauses auf und machen ihn glücklich und stolz. Nein, nein, es ist nicht seine Unreife, wenn es ihm hier nicht gefällt, nein, es ist doch etwas Besseres. Der dicke Herr mit den ungeschlachten Fingern und dem dreckigen Lachen, der würde mit der pompösen Frau auf dem Riegerkai gar nicht reden können, und drüben der junge Mann mit dem Schnauzbart verstünde es gar nicht, ein Kampa-Mädel anzusprechen. 94

Die Kellnerburschen glauben ihn verachten zu können, weil er an ihren Vergnügungen nicht teilhat. Na, er wird ihnen schon zeigen, um was seine Vergnügungen besser sind, und wird im Hotel eine solche Persönlichkeit sein wie auf der Kampa.

Erhitzt, ausgelassen torkeln endlich die Jungens wieder in den Salon.

»Was, du bist noch hier, Kleinchen, du hast dich nicht getraut?«

Jaroslaw Chrapot hat noch kein Wort in dem Lokal gesprochen, auch jetzt antwortet er nicht. Aber da die grelle Glastüre hinter ihnen zupendelt, da eine gütige Nacht die Dünste verjagt und seine Augen von widerwärtigen Dirnengebärden befreit, wird er ein anderer, als er drinnen war, ein anderer, als ihn seine Begleiter je kannten.

»Schämt ihr euch nicht? Ich will euch zeigen, was Mädel sind.« 95

 


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