Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Zehntes Kapitel

Zu den Morgenausflügen nach Selz muß sich Jaroslaw immer irgend eine ›ledige‹ Kellnerin aus dem Café Rokoko mitnehmen, gleichgültig welche.

Er denkt immerfort daran, wie er es anstellen soll, um die Betka mitzubringen, mit der er seinen Lehrmeistern imponieren könnte. Aber er kann doch nicht um fünf Uhr früh auf die Kampa gehen, um sie aus den Federn zu trommeln. Und weil Betka über schlechten Geschäftsgang bei Kupplerinnen klagt, und weil seine Mutter schimpft, wenn er ein paar Tage nicht nach Hause kommt, so richtet er sich alles anders ein. Er verschafft der Betka eine Stellung als Kellnerin im Café Rokoko und mietet mit ihr einige Tage darauf eine Wohnung, wie es seine Kollegen längst getan haben. Die Möbel auf Raten, elegant eingerichtet, denn 127 Betka will sich ja Gäste mitnehmen und einladen. Sie hat schon in den ersten Tagen Angebote genug gehabt.

Aber der Haushalt macht Sorgen. Zwei neue Kabaretts schädigen ›Stadt Budapest‹ erheblich, und der Hochsommer ist dem Nachtgeschäft nicht zuträglich, obschon das Programm im Hof – ›im schattigen Garten‹ steht auf den verzweiflungsgroßen Plakaten – abgewickelt wird. Auch der Zuwachs von Strohwitwern kann das Geschäft nicht retten, denn hinter deren forciert feschseinwollendem Gehaben steckt Spießbürgerei und sie kontrollieren, wenn der Kellner ihre Zeche von zwei Bieren addiert. Auch Betka verdient fast gar nichts mehr. Die Aufforderungen der Stammgäste zum Mitgehen, die sich am Anfang so vielversprechend gehäuft hatten, haben sich nur auf einen Besuch erstreckt – die Professionssumpfer gehen nur einmal aus Sammelwut mit einem Mädel, denn ihre Kalkulation ist die: Nach einem Jahre wird es wertvoll sein, heute mit diesem Mädel gewesen zu sein; ja, noch nach fünf Jahren klingt es neiderregend, wenn man so zu einem Bewunderer des Mädels sagen kann: Die hättest du vor fünf Jahren sehen sollen, damals bin ich mit ihr gewesen . . . Überdies macht sich auch sonst im Café Rokoko die abstumpfende Macht der Sommersonne bemerkbar, das Geschäft wird stier und stierer. 128

Die Mahnungen des Möbelhändlers treffen rekommandiert ein, der Augusttermin kommt heran, als ob Jarda und Betka die Miete beisammen hätten.

Emmy Dvorak, Betkas älteste Schwester, die unter Kontrolle steht, übersiedelt zu ihnen und bringt in der Nacht einen oder den anderen Gast vom Graben nach Hause. Aber auch sie hat zu kämpfen, um jede Woche die zwei Gulden für den Polizeichefarzt aufzutreiben und das, was sie dem Jarda als Mietsbeitrag bezahlt, kann ihn nicht herausreißen.

Nur Ilonka Varaday wäre ein Ausweg. Ilonka Varaday ist die geschickteste Geldverdienerin von allen Soubretten in ›Stadt Budapest‹. Sie singt ihre magyarischen Lieder in hellbraunen Trikots, und ihre Füße von wunderbarer Gradheit bewirken, daß sie unter allen Chansonetten den Rekord an Soupereinladungen hält. Aber auch wenn sie keine bekommt, so weiß sie von irgend einem Nebentisch her die Gäste so witzig zu sticheln, daß aus Antwort und Gegenantwort immer die Einladung zum Nähersetzen resultiert. Sitzt sie aber einmal bei einem Herrentisch, dann kann man gleich eine Batterie von ›Irroy‹-Flaschen aus dem Sektkeller holen lassen. Die kennt sich aus! Was sie nur Schmuckstücke hat! Alle anderen Sängerinnen pflegen nach neuem Programm, nach vierzehn Tagen 129 oder einem Monat aus dem Engagement entlassen zu werden. Nur Ilonka Varaday ist jetzt schon bald ein Jahr hier.

Bei Tag empfängt sie nie Besuche, hat nie Rendezvous. Sie scheint vom Stamme jener Kokotten zu sein, die an Versprechungen oder am Ablehnen von Wünschen der Verehrer zehnmal mehr verdienen, als andere an deren Erfüllung.

Jarda gefällt ihr sehr. Vom ersten Mal an, als er zu ihr ins Zimmer kam, um ihr das Abendbrot zu bringen. Sie hatte sich damals in ihrem Negligé vor ihm hingestellt, ihn getätschelt, ›bist ajn hübscher Junge‹ gesagt und ihn eingeladen. Jarda war nicht gekommen. Er hatte das Interesse an ›Singvögeln‹, wie man im Kellnerkreis die Soubretten und auch den Verkehr mit ihnen nannte, längst abgewöhnt, und außerdem hielt er die Ilonka Varaday nicht für gesund. Sie hat solche rötliche Flecken an der Haut, auf ihrem Waschtisch steht eine ganze Kette von Flaschen, Tinkturen und Salbentiegeln, und zu ihrem Trikot trägt sie ein hochgeschlossenes Pagenwams und einen Gainsborough-Hut. Fehlendes Decolleté wird unter den Kellnern immer mißtrauisch betrachtet: Entweder steckt unschöne Haut dahinter, eher aber Krankheit, denn bloße Hautröte läßt sich ja unter 130 Puderwolken bergen. Deshalb ist Jarda noch zurückhaltender gegen Ilonka Varaday, die ihm direkt nachstellt. Desto stärker nachstellt, je mehr er zurückweicht. Sie, die Berechnende, hat ihm schon oft von ihren Weinprozenten mehr als die Hälfte geschenkt. Sie hat ihn ein paarmal eingeladen mit ihr im Gummiradler nach Baumgarten zu fahren, was er abgelehnt hat. Sie will ihn nie aus dem Zimmer lassen, sie packt ihn bei der Hand und drückt sie, sie zieht ihn an sich, aber er macht sich immer los, was sie noch stärker reizt, weil sie es vielleicht als Unschuld deutet.

»Warum bleiben Sie nicht mal bei mir, Jean? Ich kaufe Ihnen einen feinen englischen Anzug, wenn Sie mal bei mir bleiben.«

Auch das hat er abgelehnt.

Aber jetzt denkt er, daß sich bei Ilonka Varaday doch etwas verdienen ließe. Wenn er nicht Angst hätte, daß sie irgend eine Krankheit hat, von der er sich anstecken könnte.

Ach, was! Alle Kollegen und ihre Mädel sind zeitweilig krank. Sie rühmen sich dessen noch, sie erzählen weitschweifig und witzelnd von den Symptomen. Neulich haben sie sich im Café Rokoko über einen Kellnerburschen lustig gemacht, der eine Sodawasserflasche vor sich stehen hatte: Ihm fehle nichts, hatten sie gehöhnt, 131 er wolle nur vortäuschen, daß ihm etwas fehle, um sich interessant zu machen.

Wer sagt denn, daß die Ilonka Varaday angesteckt sein müsse?

Und doch: Er hat eine solche Scheu vor der Ungarin, die ihn mit aller Gewalt haben will.

Es ist noch ein anderer Ausweg da. Er schickt Betka auf die Insel Kampa zu ihren Freundinnen: »Was braucht ihr die Deutsche auf dem Riegerkai zu füttern! Verabredet euch mit euern Herren dort für das nächste Mal bei mir! Von dem was mir die Herren geben werden, kriegt ihr euern Anteil, außerdem das, was euch die Herren schenken.«

Wirklich hat Betka am nächsten Tage schon drei Mädel bei sich mit deren Herren. Allerdings muß sie den Mädchen stattliche Anteile an den Vermittlergebühren bezahlen, damit sie sich hergewöhnen und ihrer früheren Chefin nicht den Grund ihres Ausbleibens verraten.

Außerdem weiß Betka auch gute Gäste aus dem Café Rokoko zu sich zu locken: »Ich weiß von einem sehr anständigen Mädel. Es ist meine Cousine. Heute nachmittags ist sie bei mir in der Wohnung.«

Das Geschäft floriert. Betka und Jarda träumen schon von Investitionen: Sie wird ein Trauerkleid und 132 schwarzen Schleier kaufen, wie sie die Frau vom Riegerkai für ihre Kundinnen bereit hatte, die sie anlegten, um hilfsbedürftige Waisen oder Witwen zu spielen, Eheringe, Pelzkragen und Muff, um die Mädel im Wartezimmer damit zu drapieren. Auch eine neue Wohnung, eine größere, werden sie mieten.

Den Mietsbetrag für die alte Wohnung haben sie schon beisammen. Wenn nur nicht auch die Möbelrate zu zahlen wäre, wäre alles in schönster Ordnung. Aber Montag ist der letzte Termin, dann sollen die Möbel gepfändet werden und heute ist noch kein Heller Geld da. Sind die Möbel weggeschafft, gibt es auch keine Zusammenkunft mehr.

Am Abend ist Jarda bei Ilonka Varaday im Zimmer. Sie hat schon ihr Trikot angelegt, das Wams liegt noch über den Stuhl gebreitet. Auch die Abendrobe und die Spitzenwäsche ist vorbereitet, die sie anlegt, wenn sie nach beendigtem Programm ins Lokal hinunterkommt. Sie steht vor dem Spiegel und spritzt Atropin in die Augen, um den Pupillen Größe zu geben.

»Na, Herr Jean?« hält sie gleich inne, und zwickt ihn zärtlich in den Rücken.

»Fräulein, Sie haben mir einmal gesagt, daß Sie mir einen neuen Anzug kaufen werden, wenn ich zu 133 Ihnen komme . . . Möchten Sie mir statt des Anzugs das Geld geben, wenn ich komme? Ich brauche Geld!«

»Wie viel brauchen Sie denn?«

»Na, ich denke ein Anzug kostet so achtzig Kronen.«

»Du irrst, Liebling,« duzt ihn die schlaue Ungarin, ihres Besitzes schon sicher, »so teure Anzüge kaufe ich nicht. Aber fünfzig Kronen will ich dir geben, weil du mir gefällst. Wenn das Lokal gesperrt wird, komme herauf.«

Der Möbelhändler wird bezahlt, und Jaroslaw und Betka spekulieren, ob man jetzt schon die Wohnung kündigen und eine größere mieten soll. Sie gehen durch die Straßen und beschauen die Auslagen der Geschäfte. Jaroslaws Ideal wäre eine Wohnung im alten Stil, große Spiegel mit Rahmen aus geschliffenem Spiegelglas, ein Glasschrank mit schönen Nippes, ein Luster mit vielen Prismen, alte Porträts an den Wänden – alles so, wie er es als Kind bei seinem wirklichen Vater in der Rittergasse und seither in tausend Gedanken gesehen. Betka ist für eine moderne Einrichtung, ähnlich der Wohnung auf dem Riegerkai; bordeauxrote Plüschmöbel, goldene Möbelleisten, ein Messingbett mit einem rotseidenen Baldachin. Eigentlich muß Jarda innerlich zugeben, daß Betka recht hat, 134 eine moderne Einrichtung paßt besser zum Gewerbe. Aber er widerspricht, weil man doch der Herr ist und einem Frauenzimmer nicht so ohne weiteres recht geben darf; und weil die Erörterung von Zukunftsplänen, das Für und Wider, das Detaillieren so angenehmer Absichten schon an sich einen Genuß darstellt.

Es ist keine Frage, daß sie prosperieren werden. Schon jetzt kommen auch die anderen Kampa-Mädel zu ihnen, aus Freundschaft, aus Neugierde, um der besseren Geschäfte willen. Auch fremde Herren besuchen die Wohnung, ohne eine Verabredung mit einem Mädel zu haben; sie sind von Freunden empfohlen. Bei der Frau auf dem Riegerkai, wird berichtet, ist jetzt alles leer, niemand geht mehr hin. Es steht außer Frage, daß sie Verdacht geschöpft hat. Ob sie aber erfahren wird, wer ihre neue Konkurrenz ist? Daß sie dann mit einer anonymen Polizeianzeige ihr unfreiwilliges Tochterunternehmen denunzieren würde, ist für Jarda und Betka sicher. Na, es wird doch niemand so dumm sein, zu verraten.

Ärger ist, daß Jarda sich krank fühlt, eine solche Mattigkeit ist in ihm, am Körper bildet sich ein Ausschlag, er sieht schlecht aus, täglich wird er müder und müder, seine Müdigkeit nimmt zu, je länger er sich zum Schlafen zwingt. In den Ohren verspürt er ein 135 schmerzvolles Stechen, der Kopf tut ihm weh, Zahnschmerzen hat er. Er ist angesteckt. Natürlich hat ihm das das Luder angehängt, die Ilonka. Er vergegenwärtigt sich das, ohne innere Erregung, wie irgend etwas, das ihn nicht viel angeht. Er ist zu matt, zu abgespannt zu einer Emotion. Seine Befürchtung ist höchstens die: Wird sich Betka nicht kränken, wird sie sich nicht vor ihm ekeln? Ach was, ihre Schwester ist doch jetzt auch von der Klinik gekommen, und doch wohnt die Emmy bei ihnen. Das wird er der Betka schon sagen, wenn sie irgend einen Krach machen sollte.

Aber die Ilonka Varaday soll etwas erleben! Er hat nicht übel Lust, sie bei der Polizei anzuzeigen. Eine anonyme Karte würde genügen oder irgend eine mit einer fingierten Unterschrift. Ach, das hat keinen Zweck. Androhen wird er es ihr, daß sie zittern muß. Und zahlen muß sie. Natürlich. Er wird sagen, daß er Geld für den Doktor braucht und eine Entschädigung.

Was, wenn sie ihn auslacht? Wenn sie gesund ist, braucht sie sich vor der Visite auf der Polizei nicht zu fürchten. Sie kann ihm noch sagen: »Wenn ich eine Vorladung zur Polizeidirektion bekomme, dann weiß ich, daß du mich angezeigt hast; und klage dich wegen Verleumdung.« 136

Von einer andern aber hat er es gewiß nicht. Es fragt sich nur, ob er überhaupt angesteckt ist. Ob es nicht bloß ein Hitzausschlag ist oder etwas Derartiges.

Jarda zieht Emmy Dvorak zu Rate. Die brüstet sich ja immer mit ihrer zweimonatlichen klinischen Praxis, und ›Ich bin ein halber Kreibich‹ ist ihre Redensart.

Emmy Dvorak, geschmeichelt ob des Vertrauens, das ihr Schwager und Quartiergeber in ihre medizinischen Kenntnisse setzt, untersucht Jarda mit forzierter Sachlichkeit und freut sich, die schon bei Betrachtung seiner geröteten Haut gestellte Diagnose, daß er Syphilis habe, durch verdickte Achseldrüsen unzweifelhaft bestätigt zu finden. Auch eine Behandlungsmethode weiß sie: »Gar nichts mache. Das ist das beste. Wenn du auf die Klinik gehst, so lassen sie dich dort und schmieren dich, daß die Papeln erst recht nicht trocknen. Wenn du mir folgst, machst du gar nichts. Dann trocknet alles von selbst.«

Betka kommt mit einem Paket nach Hause. Jaroslaws Stimme, so sehr er sich müht, es unbefangen und beiläufig herauszubringen, zittert, da er ihr sagt: »Die Emmy sagt, ich habe Syphilis.«

»Na, das ist ja sehr schön!« Betka schüttelt unwillig den Kopf und schält dabei eine Tischlampe aus 137 dem Paket. Dann entnimmt sie sorgfältig einen Lampenschirm aus gelber Liberty-Seide einer Emballage und stülpt ihn über den Lampenzylinder. »Das ist hübsch, nicht? Das gibt dem ganzen Zimmer ein anderes Gesicht. Warte, ich werde sie gleich anzünden.«

Der Ilonka Varaday sagt Jarda alles, was er gefürchtet hatte, das ihm Betka sagen werde. Er überwindet mit Gewalt seine Apathie und wirft ihr vor, daß sie ihm sein ganzes Leben vernichtet habe, daß er verseucht sei, daß er sie anzeigen werde und sie klagen, weil er seinen Posten verlieren werde und sich behandeln lassen müsse.

Die Soubrette ist sehr erschrocken und beschwört den Jarda, er möge nur leise sprechen, im Hotel höre man jedes Wort, aber sie leugnet auf das Entschiedenste. Sie sei – dabei klopft sie dreimal mit dem Fingerknöchel auf den Tisch, um das Unglück nicht zu beschreien, – niemals in ihrem Leben krank gewesen, geschweige denn an so etwas. Wenn Jean im letzten Monat wirklich mit keiner anderen gewesen sei, wie mit ihr, dann müsse es eine andere Krankheit sein.

Sie gibt ihm vierzig Kronen, ›aus Mitleid und damit er sich anständig untersuchen lassen könne, ob es wirklich nichts anderes ist‹. Er solle nur um Gottes willen keine Andeutung darüber machen, von wem er 138 es sich geholt zu haben glaube. Schon der Verdacht würde ihr schaden, sie sei Chansonette und fremde Staatsangehörige – sofort würde sie ausgewiesen werden.

Jarda will das Geld nicht nehmen. »Vierzig Kronen? Vierzig Kronen dafür, daß Sie mir das ganze Leben vernichtet haben?«

Sie redet ihm zu, er solle einstweilen das Geld nehmen, er müsse doch erst vom Arzt die Bestätigung haben, daß er wirklich geschlechtskrank sei, sie habe auch jetzt nicht mehr Geld, aber am Fünfzehnten abends nach der Gageauszahlung und Verrechnung werde sie ihm schon einen anständigen Betrag schenken.

Am Fünfzehnten erfährt man, daß Ilonka Varaday früh Prag verlassen hat. 139

 


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