Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Fünftes Kapitel

In der deutschen Schule ist dem Chrapot Jaroslaw keine besondere Beliebtheit nachzusagen. Er ist zwar gescheit genug, sich die Sprache anzueignen, die aus den wispernden Einverständnissen der Schüler, aus den Vorhaltungen und eintönigen Erklärungen des Lehrers und aus den Sätzen der Lehrbücher und der eigenen Hefte auf ihn eindringt, aber ihm fehlt die Geschicklichkeit zur Aussprache, die Schlagfertigkeit der Redensart und der Witz eines Ausdruckes, so daß er sich von Freundschaften fernhält. Vor allem aber: Was kann ihm irgend eine Hetz der Mitschüler, irgend ein Geheimnis wichtig sein, nach seinen Kenntnissen von anderen reichen Welten, in die er bei seinen seither wiederholten Besuchen in der Rittergasse einen Blick getan, von anderen reichen Welten, aus denen die 54 Schwestern der Betka Dvorak immer stärkeres Parfüm in ihre Wohnung auf der Insel Kampa tragen?

Noch immer sitzen Jarda und Betka allabendlich im Gestrüpp der längst geschlossenen Anlagen beisammen und besprechen die alten Probleme mit neuen Lösungsversuchen, die in erlauschten Gesprächen der älteren Schwestern Betkas ihre Herkunft haben. Die Emmy hat schon keine Bekanntschaft mit dem Fabrikanten mehr und wohnt wieder zu Hause, aber sie ist doch nicht in Arbeit; sie geht jeden Nachmittag zu einer Frau auf dem Riegerkai, wo immer Herren sind, und von dort bringt sie Geld nach Hause. Die Anna ist noch in der Druckerei und spricht auch noch mit dem Friseurgehilfen, aber die Emmy nimmt sie doch manchmal zu der Frau auf dem Riegerkai mit. Dort verkehrt auch ein verheirateter Herr, der ist ganz verrückt in die Anna und hat ihr eine Brosche geschenkt und viel Geld. Dafür hat sich die Anna Wäsche und Spitzen und dann ein Mieder, so ein modernes langes, gekauft und einen Hut. Der Rudl hat sie argwöhnisch gefragt, von wem sie den Hut hat und die Brosche, und die Anna hat ihm eingeredet, daß die Brosche der Emmy gehört, die sie aber nicht trägt, weil sie eine Perlenschnur hat, und der Hut, der sei der vorjährige Hut von der Emmy, nur die Form sei bisserl geändert und 55 das Band und die Federn neu. Die feine Wäsche aber und das Mieder nimmt die Anna nur, wenn sie auf den Riegerkai geht, und wenn sie nach Hause kommt, zieht sie alles wieder aus, damit der Rudl nichts merkt. Die Schwestern lachen immer, wenn die Anna erzählt, wie sie den Rudl an der Nase geführt hat und wie er alles glaubt, und die Anna sagt immer: »Lacht nicht, eigentlich tut er mir leid.« Aber die Emmy sagt: »Ganz recht geschieht ihm! Hätt' er nichts dagegen gehabt, wie du mit dem Herrn gegangen bist, so brauchtest du ihm jetzt nichts einzureden, und er könnte was von deinem Geld haben und hätte dich mitsamt deiner Spitzenwäsche und deinem Mieder. Er könnte einen Herrn spielen, und so spielt er einen Esel. Die anderen könnten für ihn die Krens sein und so ist er selbst ein Kren für die anderen . . .« Die vierte Schwester, die Katy, wurde auch schon von der Emmy zu der Frau auf dem Riegerkai mitgenommen und hat hundert Kronen bekommen. Das erste Mal kriegt man hundert Kronen.

Ethische Erkenntnisse, soziale Grundsätze solcher Art wälzen sich auf den kleinen Jarda.

Daß der ein Kren ist, ein Gewurzter, dessen Geliebte hinter seinem Rücken mit anderen Männern zusammenkommt und deren Geschenke vor ihm verbergen muß. 56

Daß der aber einen Herrn spielen kann, der davon weiß, daß sein Mädel mit anderen Männern zusammenkommt und aus deren Geschenken Nutzen zieht. Für den sind wieder die anderen Krens.

Und daß man das erste Mal hundert Kronen kriegt.

Dabei hat er durch Betka längst von den Gerüchten erfahren, die über seine Mutter auf der Kampa im Umlauf sind, und von dem ohnmächtigen Herrn, den der Flößer Chrapot von dem Wrack des Moldaudampfers auf die Kampa gebracht hat, und von dem Reichtum der Chrapots, der von diesem Manne stammen soll. Längst hat Jarda diesen sagenhaften Herrn mit dem jungen Greis in Zusammenhang gebracht, der damals so erschrocken war, als Jarda das schöne Messer schwang.

Dieses Vielerlei von Gewichtigkeiten und das Nichtverstehen der letzten Zusammenhänge reißt und zerrt an Jaroslaws Jugend und ist die Tortur seiner Gedanken und Träume. In der fünften Klasse fällt er durch – ein schwerer Schlag für Frau Chrapot, die ihren Buben schon im Geiste unter der neidvoll-gehaßten, mit Schneeballen und Kieselsteinen beworfenen Schar der nächstjährigen deutschen Kamparealschüler gesehen, die mit mächtigen Schulbüchern, Reißbrettern und imposant großen Heften unter dem Arm, 57 manchmal auch einen Riemen mit Turnschuhen in der Luft schwingend, mittags und nachmittags aus dem Säulentor des wuchtigen Uferpalastes strömen. Frau Chrapot muß sich noch ein Jahr gedulden. Aber auch dann dauert die Herrlichkeit, einen ›Studenten‹ zum Sohn zu besitzen, nicht lange. Anfangs sucht er sich zwar in der Realschule zu behaupten, die ihm eine glanzvolle Welt dünkt, ihn mit Burschen ganz, ganz andrer Art zusammenbringt, als es die armen schmutzigen Kinder der Kampa-Häuschen sind. Grafen sind hier, die aus ihren vornehmen, stillen Palästen vom Hradschin im Automobil oder in ihren Equipagen in die Schule fahren, Grafen und Barone aus der Erziehungsakademie für verarmte Aristokratensöhne, elegante Burschen, deren Väter die hohen Beamten der Statthalterei, des Landesausschusses, des Oberlandesgerichts und des Landesschulrats sind, im Klassenzimmer spiegelt sich ihm der ganze Glanz der Kleinseite wieder, dieses vornehmen Stadtviertels, das nur einen einzigen, kleinen Teil für Not und Elend reserviert hat – die Insel Kampa. Hierher dringt nur durch Kammerdiener oder Kutscher manchmal ein Gerücht über die Lebensweise oder irgend eine Angelegenheit der adeligen Welt, von der man räumlich nur durch eine kurze Mühlenbrücke getrennt ist, und stößt bei den Kampa-Leuten auf das 58 Kopfschütteln grenzenlosen Erstaunens. Jetzt aber ist für den Flößerbuben die Brücke überschritten, er sitzt täglich sechs Stunden mit den Sagenhaften im selben Zimmer, teilt mit ihnen dasselbe Leid. Gleich nach dem Namen des Freiherrn Ferdinand von Butzberg-Lehrtheim kommt sein Name im Schüleralphabet. Er träumt davon, einmal mit allen diesen Noblen gut Freund zu sein, mit ihnen im Automobil oder in der Equipage nach Hause zu fahren, oben in ihrem Palaisgarten im Altan Tee zu trinken und mit ihren Schwestern zu sprechen, den Komtessen und Baronessen.

Aber bald sieht der kleine Jarda, daß es mit seinen Freunden vom aristokratischen Stande nichts ist. Die feinen Herrchen beachten ihn kaum, sie halten nur untereinander Verkehr, sie sprechen von Tennisturnieren und Karosserien und Entenjagden, und sogar die Beamtensöhne, die sichtlich um die Gunst ihres Verkehrs buhlen, werden von ihnen ignoriert. Selbst dem Sohne eines Großindustriellen, der auch im großen Auto täglich vor der Schule vorfährt und der sich verzweifelt müht, an die Adeligen Anschluß zu finden, und sie einlädt, bringen sie keinerlei Beachtung entgegen.

Bald beginnt Jarda seine adeligen Mitschüler als aufgeblasene Laffen zu hassen, noch widerwärtiger aber ist ihm das Gehaben der anderen Mitschüler, die sich 59 entwürdigend bei ihnen einzuschmeicheln suchen. Er sieht die Unmöglichkeit ein, als Flößersohn hier je als Gleicher unter Gleichen gewertet zu werden, er fühlt sich fehl am Platze, vereinsamt und unglücklich, läßt seinen anfänglichen Eifer absichtlich erlahmen, fällt im zweiten Semester der Prima durch und muß nun in die Bürgerschule.

Noch deckt seine Machtsphäre die Kinderwelt der Insel Kampa rivalenlos und ungeschränkt. Doch ein Stück seiner Herrschaft rutscht merklich aus seinen Händen, das ihm liebste Stück: Betka. Betka ist ein fünfzehnjähriges Fräulein, er ist ein dreizehnjähriger Knabe. Er merkt es. Zwar: Noch kommt sie täglich zum Plausch, ja, sie läuft ihn zu suchen, wenn sie zu Hause ein wertvolles Geheimnis erkundet hat, noch schleift sie nur mit ihm und leiht sich seine Schlittschuhe, noch hat sie ihn gern – aber sie ist ein fünfzehnjähriges Fräulein und er ist ein dreizehnjähriger Knabe. Die aufgeschnappten Künste ihrer Kinderzeit sind nicht mehr Künste nur des Vorführens im Kinderkreise wert, nein, das Toupetkämmen, Augenbrauenziehen und der Gebrauch des schwesterlichen Puderpapiers sind nun Wichtigkeiten ihrer Toilette und passen zu ihr. Schon streifen Männeraugen über ihre Gestalt, und Betka fängt diese Blicke. 60

Auch ihr Sehen ist ein anderes. Oft hat Jarda von ihr Ausrufe zu hören: »Schau, das ist ein fescher Kerl, der dort steht.« Das sind Sätze, die aus einem Land kommen, das Jarda noch nicht erreicht hat. Nie würde es ihm einfallen jemanden fesch zu finden. Er weiß, daß das Äußerungen der Begierde sind, und er weiß nicht, was die Begierde ist. Dieses Nichtverstehen quetscht und zerrt an seinem Fühlen, mehr aber noch quält es ihn, daß Betka vergleicht und andere fesch findet. Was ist er ihr, er, Jaroslaw Chrapot, ihr täglicher, ununterbrochener Partner seit lallenden Tagen? Nie wurde die Frage aufgeworfen, nie gab es eine Definition für ihr gegenseitiges Verhältnis. Nun will er es wissen, und so fragt er, möglichst im Bagatelleton, seine Qualen zu verbergen strebend, die simple Frage: »Und was bin ich?« Betka schaut ihn an, auch ihr ist die Frage kaum je gekommen, und sie fühlt das zerreißende Beben, das in ihrem jüngeren Genossen faucht, da er die Antwort verlangt. Sie kraut ihn in den Locken und zupft ihn daran nach Gassenmädelart: »Du? Du bist der Jarda, mein kleines Lausbüblein.«

Das ist wenig, und es kommen Abende, wo Betka sehr sinnend ist, wenn sie mit Jarda im Odkolek-Park auf der Erde sitzt, und sie unterbricht sich in Sätzen. Einmal sagt sie ihm die Wahrheit: 61

»Die Emmy will, ich soll jetzt auch auf den Riegerkai gehen, mir die hundert Kronen zu verdienen.«

Sie schaut mitleidig auf Jardas verstörte Lippen.

»Ich hätte es dir nicht gesagt, weil ich mir gedacht habe, daß es dich kränken wird. Aber ich dachte mir, es ist besser, wenn du vorher davon weißt.«

Jarda versteht das und möchte dankbar dafür sein. Er weiß doch gut, daß der Rudl nur deshalb ein Esel ist, weil er nicht einverstanden war, daß seine Geliebte mit anderen Herren geht und nichts davon weiß, daß sie es doch tut. So war die Maxime: »Er könnte den Herrn spielen und so spielt er einen Esel.« Also eines ist sicher: Er, Jaroslaw Chrapot, kann den Herrn spielen, denn er weiß es ja vorher. Dafür sollte er der Betka dankbar sein, und er weiß nun auch, daß er etwas für sie bedeutet, denn sonst hätte sie ihm das vorher nicht sagen müssen.

»Ich habe der Emmy schwören müssen, daß ich niemandem etwas davon sagen werde, aber ich sag' es dir doch.«

Jarda nickte bloß. Ja, ja er sollte der Betka dankbar sein. Wenn nur nicht das Ganze so gräßlich wäre. Alles verschwimmt vor seinen Augen, und in die dicht verzahnten Ranken des Gebüsches, in dem sie sitzen, schneiden sich seine Gedanken eine breite Kaistraße mit 62 Straßenbahn, Firmatafeln, Hunden, Glühlampen, Häusern, großen Häusern und Menschen, – und irgend etwas bewegt sich in der Mitte der Fahrbahn. Jaroslaw sieht ganz genau, daß sich etwas in der Mitte der Fahrbahn bewegt, aber er weiß nicht, wie das aussieht, was er ganz genau und ganz nahe vor sich sieht, ob es eine Staubwolke ist oder ein winziger Seidenpinscher oder ein rotes, großmächtiges Automobil oder ein Messer, wie das in der Rittergasse war, oder ein fescher Herr oder eine Blume. Jarda denkt gar nicht nach, wie das aussieht, was in der Mitte des Riegerkais ist, er gibt dem gar keine Form. Er weiß nur, daß es sich bewegt, fort von ihm, schnell fort von ihm, und gleich wird es ganz verschwunden sein.

Das Mädchen weckt ihn mit einem Trost aus dem Denken. »Weißt du, Jarda, ich schenke dir zehn Kronen von dem Geld, dafür wirst du dir einen solchen schwarzen Stock kaufen mit silbernem Griff, wie ihn die eleganten Herren haben, nicht?«

Er lächelt ein bißchen. Ein solcher Stock ist Betkas Ideal. Alle Herren gefallen ihr, die solche Spazierstöcke tragen. Jetzt wird er auch einen haben. Nein, ein ›Kren‹ ist er nicht, wie der Rudl, der nichts davon hat, daß sein Mädel mit andren geht. Er, Jaroslaw, wird einen Ebenholzstock haben mit Silbergriff. Der 63 Herr mit den hundert Kronen, der wird der ›Kren‹ sein. Jarda ist schon ein wenig ruhiger, und spricht nun den ersten Satz seit Betkas Mitteilung:

»Wann wirst du denn hingehen?«

»Ja, das weiß ich eben nicht. An Wochentagen kann ich nicht fort, weil ich zu Hause helfen muß, und wenn ich mich anziehen würde, würde es der Mutter auffallen. Und am Sonntag, da muß ich mit den Eltern gehen – weil ich die Jüngste bin. Mit der Emmy wollen mich die Eltern nicht einen Schritt ausgehen lassen, sie trauen ihr nicht. Ich hab' schon mit der Emmy herumspekuliert, wie ich am besten von zu Hause verschwinden soll, wir haben aber noch nichts Gescheites herausgebracht.«

Daraus schimmert für Jarda so etwas wie eine Hoffnung: Vielleicht kann sie überhaupt nicht abkommen?

Bis Betka eines Tages, selbst aufgeregt, ihm zuflüstert: »Heute gehe ich.«

»Wieso kommst du ab?«

»Der Herr wird von vier Uhr nachmittags im ›Hotel Post‹ warten, da gleich drüben auf dem Maltheserplatz. Da brauch' ich mir erst nicht bessere Kleider anzuziehen, ich laufe einfach hinüber, wie ich bin.«

»Weißt du denn, in welchem Zimmer er ist?« 64

»Die Emmy wartet auf mich vor dem Großpriorat und führt mich hinauf.«

Bei Tisch rührt Jarda nicht ein Stückchen Essens an. Die Mutter fragt ihn, was ihm fehle, er schützt Kopfschmerzen vor. Frau Chrapot ist entsetzt über das moldaufarbene Gesicht ihres Jungen. »Nachmittags gehst du mit mir zum Doktor.«

»Ich geh' nicht.« Er läuft aus dem Haus. Irgendwohin. Um vier Uhr versteckt er sich an der Ecke der Traubengasse und wartet, bis sie geht. Sie bemerkt ihn nicht, dann rennt er wieder zu der Mühlenbrücke über den Certovka-Arm der Moldau und schaut ihr nach, bis sie mit der Emmy zusammenkommt. Von dort jagt er zurück, durch das Durchhaus im ›Alten Bad‹ und lugt um die Ecke, bis Emmy und Betka im Hoteltor verschwinden.

Nun schleicht er sich in das Vestibül der Maltheserkirche. Hier ist Jarda oft gewesen, weil hier die Schulgottesdienste der Kampa-Realschule abgehalten werden. Jetzt ist er dem Hotel gerade gegenüber. Er versteckt sich hinter dem Pfeiler und schaut geradeaus. Die braune Heiligenstatue auf dem Platz, an deren Postament ein welk und spröde gewordener Kranz hängt und eine rote Ampel brennt, stört die Aussicht kaum. Die Hotelfenster sind offen. Überall sind Gardinen, 65 aber nur oben vereinigen sich ihre beiden Hälften zu einer Spitze und senken sich dann, schräg auseinandergehend, in die Ecken des Fensterbrettes. Ein Dreieck bleibt in jedem Fenster unverdeckt. Aber die Dreiecke sehen von unten schwarz aus – Jarda kann nicht wissen, in welchem Zimmer Betka mit dem Herrn ist.

Bis – Jarda kann nicht atmen – ein Herr mit braunem Spitzbart am Fenster im ersten Stock erscheint. Er nestelt an der Rouleau-Schnur. Ein gelber Leinenvorhang rollt langsam auf das Fensterbrett hinunter. Dahinter verschwindet der Herr, alles . . . Nur der gelbe Leinenvorhang ist noch zu sehen, mit je einem roten Streifen am Rand.

In Jardas Kopf schaukelt es, und er muß sich an den Pilaster stützen. Ein gelbes Rouleau fällt über seine Augen, rote Streifen, aber er sieht durch, ja, er sieht durch, ein spitzbärtiger Mann, er schwingt hundert Kronen, mit den Füßen schlägt er auf Betka los und Betka küßt ihm die Füße, muß ihm die Füße küssen, er besudelt die Betka und lacht. Und dann sieht Jarda gar nichts. Nicht die Heiligenstatue mit dem welken Kranz am Sockel, nicht die Lampe, nicht die Lampe, gar nichts.

Er läuft wankend fort. Oberhalb der Fenster des Buquoyschen Palastes lacht von der Mauer herab eine 66 Reihe spitzbärtiger Gesichter, alle sind ganz gleich und lassen die Rouleaux hinab.

Jarda kann die Tränen nicht mehr halten. So sehr er sich schämt, wie ein Kaschkind zu weinen, er kann es nicht verhindern, daß es über seine Wangen und sein Kinn strömt, wie die Wasser des Altstädter Wehres, vor das er sich unten auf die Kampa-Böschung, zwischen die Landungspflöcke der Kähne, auf staubige Grasbüschel und grünbraune Lindenblätter setzt, damit ihn niemand weinen sehe.

Im Mund verspürt er einen bitteren Geschmack. So hat der kandierte Kalmus geschmeckt, den er einmal von einem Mandolettimann gekauft hat; er hatte geglaubt, es seien verzuckerte Orangenschalen.

Sein Hals ist trocken. Der Magen ist leer. Seine Augen schmerzen ihm vom Weinen. Sein Herz schlägt wirres Zeug. Seine Stirn ist heiß, nein, kalt ist sie. In diese Leiden sind Gedanken verzahnt, Gedanken, die gräßlich verwundend durch den ganzen Körper laufen.

Er möchte sich trösten: Der fremde Herr ist ein Kren, er muß ja hundert Kronen zahlen.

Aber plötzlich durchzuckt ihn ein gräßlicher Schluß: Hundert Kronen kriegt das Mädel nur das erste Mal – also ist sie jetzt weniger wert. Weniger wert. 67

Jarda springt auf und möchte ins Hotel Post, es der Betka sagen. Schnell – bevor es zu spät ist. Aber er kann nicht. Seine Eingeweide rumoren, und der kleine Jarda erbricht. Schleimiggrüne Galle fällt in das Moldauwasser. Fast wäre er selbst ins Wasser gestürzt, so bebt er. Er muß sich halten.

Es kommt ihm vor, als ob ihn jemand von der Brückenbrüstung beobachte. Er schaut auf. Es sind die Heiligenstatuen, ihre Rückseite. Wie Säulen sehen sie aus, halbrund und glatt. Man sieht genau, wo sie geflickt sind, man hat sich nicht bemüht, die eingesetzten hellen Steine mit dem Dunkel des ursprünglichen Materials in Einklang zu bringen. Wozu auch? Das ist ja die Rückseite. Die Leute gehen vorüber, ihre Köpfe bewegen sich längs der Brüstung, aber sie wissen nicht, wie häßlich die Denkmäler von hinten sind. Sie wissen ja nichts, die Menschen. Sie wissen nicht, was im Hotel Post vorgeht, sonst würden sie nicht so ruhig ihres Weges gehen.

Jarda steht auf. Er muß nach Hause, sich niederlegen. Dort geht gerade die Emmy Dvorak. Sie kommt aus dem Hotel Post und hat ihn gesehen. Jarda biegt nach links ab, er will ihr nicht begegnen Sie ist an allem schuld. Sicherlich lacht sie ihn jetzt aus: Der Jarda Chrapot geht hier ahnungslos umher, 68 während die Betka bei dem Herrn ist. Nein, sie darf nicht glauben, daß er ein Kren ist. Er wischt sich die Tränen aus den Augen, zwingt sich zu heitrem Aussehen und läuft der Emmy nach: »Fräulein Emmy, Fräulein Emmy!«

»Ja?«

»Ich weiß, daß die Betka im Hotel Post ist. Ich hab' nichts dagegen gehabt, daß sie hingeht.«

So. Jetzt ist ihm leichter. Alles ist verloren, aber er steht nicht als Genarrter da. 69

 


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