Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Elftes Kapitel

Im selben Moment, da Betka durch das Guckloch der Wohnungstür schaut, um zu sehen, wer geläutet habe, haben die drei draußenstehenden Männer das lugende Auge erblickt.

»Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie.«

Hm. Bevor Betka noch zum Bewußtsein ihres Erschreckens kommen, bevor sie sich vergegenwärtigen kann, daß da gar nichts zu machen sei, schallt die Urgenz: »Aber sofort, ja!«

»Sie sind Fräulein Dvorak?«

»Ja, bitte.«

»Einen anderen Ausgang hat die Wohnung nicht?«

Die blaß gewordene, schwer atmende Betka schüttelt den Kopf.

Der Kommissär und die beiden Zivilwachleute 140 öffnen die Zimmertüre. Zwei Mädchen sitzen da, die Hüte auf dem Kopf, Handschuhe angezogen, auf Gäste wartend.

»Wie heißen Sie?«

Die Mädchen, nicht weniger erschreckt als Betka, stammeln ihre Namen.

»Und was machen Sie hier?«

Statt ihrer antwortet Betka, schon ein wenig Herrin über ihre Verstörtheit: »Das sind meine Freundinnen von der Kampa-Insel. Ich bin auch von dort, wir kennen einander von klein auf. Sie sind zu Besuch da.«

»Zu Besuch? Wir werden Ihnen schon Ihre Besuche einstellen!«

Die Türe zum andern Zimmer ist versperrt. Wieder die Formel von vorhin: »Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie!« Ein dicker Herr, der einen Stiefel halb über den Fuß gezogen hat, in Hemdärmeln, ohne Kragen, öffnet sehr ängstlich. »Sie können sich entfernen,« wird ihm bedeutet. Das zerzauste Mädel, das in ihrer Unterwäsche dasteht, wird nach ihrem Namen befragt und gewiesen, sich schnell anzuziehen.

Im anderen Zimmer wird das Verhör mit Betka Dvorak fortgesetzt.

»Wie lange wohnen Sie schon hier?« 141

»Fast ein Jahr.«

»So lange empfangen Sie also schon Besuche.«

»Nein, nein, um Gottes willen. Noch nicht einmal einen Monat.«

»Mit wem wohnen Sie hier?«

»Mit meiner Schwester, der Fanny Dvorak.«

»Was ist die?«

»Sie steht, bitte, unter Kontrolle.«

»Ah, die Emmy, nicht wahr? Das ist Ihre Schwester?«

Bejahung durch Kopfnicken.

»Und wer wohnt noch da?«

»Mein Geliebter wohnt hier.«

»So? Wer ist das?«

Betka stockt ein bißchen. Soll sie den Jarda nennen? Es nützt nicht ihn zu verschweigen, der Kommissar brächte den Namen schnell heraus. Er drängt schon, indem er mit der Fußspitze ein paarmal schnell auf den Boden stößt.

»Jaroslaw Chrapot heißt er.«

»Ihr Zuhälter, was?«

»Nein, nein. Er arbeitet ja. Er ist Kellner.«

Der Kommissar notiert den Namen und nachdem er erfahren hat, daß er im Hotel ›Stadt Budapest‹ 142 angestellt sei, auch dies. Dann wendet er sich zu einem der drei Mädel:

»Wie sind Sie hergekommen?«

»Zu – Besuch – zur – Dvorak.«

»Ich meine, wer Ihnen die Adresse gesagt hat?«

»Ich – ich habe – die Betka – mal getroffen auf der Karlsbrücke – und da hat sie mir halt – gesagt – ich möchte sie mal – besuchen. Da bin ich . . .«

Die Wohnungsglocke läutet. Der Kommissar winkt einem der beiden Detektivs öffnen zu gehen. Nach einer Weile kommt der Zivilwachmann zurück und meldet halblaut: »Ein fremder Herr wollte zu Fräulein Dvorak, er sei empfohlen. Ich habe ihm gesagt, daß heute nicht ›amtiert‹ wird.«

»Sonst hat Ihnen niemand gesagt, daß Sie herkommen sollen?«, verhört der Kommissar das verängstigte Mädel weiter.

»Nein, bitte.«

Die andern zwei geben weinend das gleiche an.

Betka macht einen Verteidigungsversuch: »Die Mädel sind schon früher alle mit Herren gegangen. Auch bei Kupplerinnen waren sie . . .«

Der Kommissar unterbricht das Plaidoyer. Das werde sich alles auf der Polizei herausstellen. »Wo 143 haben Sie Ihre Aufzeichnungen über Ihre Einnahmen?«

»Ich führe kein Buch.«

Die beiden Zivilpolizisten machen einen raschen Rundgang durch die Zimmer. Sie öffnen die Schubladen, schauen auf die Schränke, ohne etwas zu finden. »Kommen Sie.« Die drei Herren mit den vier verstörten, vertränten Frauenzimmern erregen im Hause Aufsehen. Ein Dienstmädchen hat gesehen, wie einer der Herren die Wohnung hinter sich absperrte und den Schlüssel einsteckte, somit ist für die schnell im Stiegenhaus sich bildenden Gruppen der Hausbewohner der Zusammenhang leicht erraten.

Da Jarda nach Hause kommt, die Wohnung versperrt vorfindet und hören muß, daß der Schlüssel beim Hausmeister nicht abgegeben wurde, ahnt er Peinliches, und die Hausmeistersleute rücken auch schnell mit ihren Kenntnissen des Vorgefallenen heraus. Zitternd kommt er aus dem Hausflur wieder auf die Straße hinaus und schaut sich scheu um. Er erwartet, daß ein Geheimer auf ihn zutreten und ihn für verhaftet erklären werde. Allen Passanten schaut er mit Angst ins Gesicht. Dann geht er schnell fort und besteigt eine beliebige Elektrische. Niemand ist nach ihm eingestiegen, das beruhigt ihn; er wird also nicht verfolgt. 144 Wahrscheinlich wissen die ›Wieseln‹, die Geheimpolizei, gar nicht, daß das seine Wohnung ist. Die Betka ist ein schlaues Luder, die hat ihn nicht verraten. Er lacht in sich hinein: Die Betka, die kennt sich aus beim Wurstkessel! Die hat mich fein herausgefischt. Wenn mir nur nicht so hundsmiserabel schlecht wäre. Verfluchtes Mistvieh, diese Ilonka Varaday! An die werde ich denken. Wenn's nicht besser wird, werde ich doch mal zum Arzt schauen müssen. Arme Betka! Die wird sich's heute nicht gut haben, in der Zelle.

Aber die unangenehmen Gedanken werden zurückgedrängt. Das war ein Glück, daß er nicht zu Hause war. Er summt vor sich hin:

»Herr Draschner hält im Stall
Die Schäflein eingesperrt . . .«

Am Abend, da er das Hotel ›Stadt Budapest‹ betritt, sagt die Garderobiere zu dem Herrn, der wartend die Photographien an der Wand anschaut: »Das ist der Herr Jean.« Der Herr händigt ihm einen Zettel ein, eine Vorladung ins Departement IV der Polizeidirektion für morgen neun Uhr früh.

Jarda hat fast schon nicht mehr an die polizeiliche Aufhebung seiner Wohnung gedacht. Umsomehr erschrickt er bei der Überreichung der Vorladung. Aber als der Zivilwachmann das Hotel verlassen hat, wird 145 ihm etwas leichter. Es ist doch wenigstens eine Form gewahrt, sie haben ihn nicht einfach arretiert, wie die Betka und sein Personal, sie laden ihn vor. Wahrscheinlich nur als Zeuge. Denn wenn sie ihn einsperren wollten, würden sie ihn gleich einsperren.

Dieser Ansicht sind auch seine erfahreneren Kollegen, mit denen er nach Geschäftsschluß im Café Rokoko Kriegsrat abhält. Sie sind alle bemüht, den Jarda zu trösten, der nicht merken lassen möchte, welche Angst er hat und nervös eine Zigarette nach der andern zerkaut, sie bemühen sich alle, die Sache als etwas Fesches hinzustellen, ihm lachend beizubringen, daß Konflikte mit der Polizei notwendig zum Gewerbe gehören. Jarda will seine Beklemmung unter Wutausbrüchen auf die mutmaßliche Denunziantin decken:

»Keine andere hat mir dies verschafft, wie diese elende Kupplerin vom Riegerkai. Aus Wut, weil die Mädel lieber zu uns gegangen sind. Aber ich werde es ihr schon einsalzen. Wenn ich schon sitzen muß, soll sie auch sitzen.«

»Unsinn. Du wirst nicht sitzen. Der Draschner wird dich fragen, ob du die Mädel oder die Gäste hingebracht hast, und du mußt einfach sagen: Nein, die Betka hat alles gemacht. Die Betka muß doch 146 ohnedies sitzen, sonst hätte man sie nicht gleich mitgenommen. Wahrscheinlich weiß man, daß sie irgend jemanden zu sich eingeladen hat. Also kannst du sie nicht herausreißen, und sagst, sie habe alle Mädel hingebracht.«

»Das hat sie auch. Sie war ja auf der Insel Kampa, um die Mädel zu holen.«

»So? Waren denn die nicht deine Mädel?«

»Ja, ich habe sie zu der Frau auf dem Riegerkai gebracht, und jetzt hat ihnen die Betka gesagt, sie möchten lieber zu uns kommen. Zu uns habe ich nicht eine einzige eingeladen.«

»Na, also. Da kann dir nichts geschehen. Umso weniger, als du ja eine Stellung hast.«

»Aber,« rät ein anderer, »von der Frau auf dem Riegerkai rede auf der Polizei kein Wort. Sonst sagt sie, daß sie ihr ganzes Warenlager von dir bezogen hat.«

»So soll diese schuftige Sau straflos ausgehen?«

»Du kannst nichts machen, wenn du nicht wegen Kuppelei in den Karlsturm kommen willst.«

»Die Betka wird wohl wegen Kuppelei eingehen, was? Wieviel kann man ihr anhängen?«

»Mehr als zehn Tage kriegt sie nicht, es ist ja das erste Mal. Und dann werdet ihr halt von Frischem anfangen.« 147

Jarda geht gar nicht schlafen. Seine Wohnung ist polizeilich abgesperrt, und schon um neun Uhr muß er ohnedies in der Polizeidirektion sein. Er begleitet die Kameraden, die mit ihren Mädeln nach Selz fahren, auf die Bahn. Aus dem Zug rufen sie ihm noch aufmunternde Scherzworte zu. Dann schlendert er durch die Gassen.

Der Kommissar macht nicht viel Federlesens mit ihm. Daß Chrapot die Mädel nicht selbst zum ständigen Besuche seiner Wohnung animiert hat, weiß er von den Mädeln, und seine Frage danach ist nur rhetorischer Natur. »Aber Sie wußten, daß Ihre Geliebte Männer und Frauen in Ihre Wohnung gelockt hat?« Jarda verneint. »Lügen Sie nicht, sonst werden wir miteinander gleich fertig sein. Wieviel haben Sie Gehalt?«

»Zwanzig Kronen wöchentlich und Trinkgelder.«

»Wieviel machen die Trinkgelder ungefähr aus?«

»Das ist nicht gleich. Manchmal dreißig Kronen in der Woche, manchmal noch mehr.«

»Davon können Sie doch nicht die Wohnung bezahlen, Ihre Kleider, das Essen, die Möbel.«

»Die Betka Dvorak verdient doch auch. Sie ist ja in Stellung.«

»Und die hat Geld zum Haushalt beigegeben?« 148

»Ja.«

»So. Und in den letzten vierzehn Tagen war sie überhaupt nicht mehr im Café Rokoko! Das haben Sie doch wissen müssen, denn Sie sind dort Stammgast und sind immer früh mit ihr nach Hause gegangen, wenn sie kein Gast begleitet hat! Wissen Sie, wie wir einen solchen Menschen nennen? Den nennen wir einen Zuhälter und sperren ihn ein.«

Jarda wagt keine Gegenrede mehr.

»Ich sollte Sie eigentlich dem Strafgerichte einliefern wegen Kuppelei oder Mitschuld, ich werde Sie aber diesmal nur polizeilich bestrafen, weil Sie in Stellung sind. Nur diesmal kommen Sie so glimpflich davon. Nehmen Sie sich in acht. Dieses Frauenzimmer ist ja älter als Sie und genau so eine feine Dame wie ihre Schwester, die Emmy Dvorak, die jede Weile auf der Polizei ist oder im Krankenhaus. Das ist keine Gesellschaft für einen jungen Menschen. Für diesmal bleiben Sie zwei Tage hier. Ich werde Ihnen eine bessere Zelle anweisen lassen.«

Jaroslaw Chrapot wird ins anthropometrische Kabinett geführt, wo man seine Fingerabdrücke und seine Maße aufnimmt und seine Personalien abfragt. Beim Rubrum ›Charakteristik‹ antwortet er auf die Frage des Inspektors, weshalb er hier sei: er wisse es nicht. 149

Der Beamte schaut in den Akten nach und sagt dann mit Ironie: »Als Zuhälter, wenn Sie es nicht wissen sollten.« Und in Jardas Augen brennt eine wütende Scham, da er sieht, wie der Beamte die Rubrik mit dem Worte ›Zuhälter‹ ausfüllt, den Titel, auf den er und seine Freunde sich immer so viel zugute getan.

»Neunzehn Jahre.« Der Inspektor notiert kopfschüttelnd Jaroslaws Alter. »Neunzehn Jahre. Da werden wir uns wohl noch oft wiedersehen, wenn Sie schon mit neunzehn Jahren ein so verdorbener Mensch sind.«

Ein verdorbener Mensch. Zum ersten Male bäumt sich in Jarda das Gefühl auf, daß er ein Opfer sei. Der Trotz weckt ihn aus seiner Lethargie: »Ein verdorbener Mensch!«, wiederholt er laut und bitter, »und wer hat mich verdorben?!«

»Freundchen, das geht uns nichts an. Da hätten wir wohl viel zu tun, wenn wir alle messen sollten, die jemanden verdorben haben. Zuständig sind Sie nach Prag III., ja?« Der Inspektor schreibt weiter.

Jardas Hinterkopf wird im photographischen Atelier leicht in eine Blechschlinge gestützt, man photographiert ihn von der Seite und von vorne.

Dann wird er zur Untersuchung seiner Straffähigkeit dem Polizeiarzt vorgeführt, der sich ganz 150 mechanisch dieser formalen Aufgabe entledigen will, und sehr verdutzt ist, bei dem Inhaftaten eine Lues feststellen zu müssen. So wird dieser gar nicht in die Zelle abgeführt, sondern bleibt in der Aufnahmekanzlei, bis die Expedition der Arrestanten in die Gerichte, Schubstationen, Spitäler erfolgt. Der Gefängnisaufseher belehrt ihn, daß er nicht mit dem ›Grünen Anton‹ fahren müsse, wenn er Geld habe, eine Droschke zu bezahlen. Jarda ersucht den Gefangenaufseher, er möge ihm dann einen Wagen holen lassen; aber bei der Expedition stellt sich heraus, daß kein überflüssiger Polizist da ist, der ihn in der Droschke begleiten könnte. So muß Jarda mit in den Polizeiwagen. Mit sprachlosem Entsetzen schaut er die Figuren, die mit ihm einsteigen: Verlauste, schmutzige, abgerissene Greise, ein schlenkernder Irrer, ein paar Vorstadtstrolche, ein riesiger Kerl mit gefesselten Händen, ein Bettler, der nach Schnaps stinkt. Das sind seine Fahrtgenossen. Er wagt gar nicht sich auf eine der Bänke zu setzen, die längs der vier Wagenwände verlaufen, er wagt nicht, sich zu bewegen. Er fürchtet eine Berührung mit den Insassen. Der eiserne Wagenschlag schließt sich, es wird dunkel in dem Kasten, nur vier ganz dünne Lichtschichten dringen oben durch die Fenster. Der ›Grüne Anton‹ rattert über das holprige Straßenpflaster. 151 Jarda hat Mühe, sich festzuhalten, um nicht gegen einen seiner gräßlichen Reisegefährten zu stolpern. Wie ein Verbrecher fahre ich da, denkt er empört. Nein: Als Verbrecher fahre ich da, als kranker Verbrecher, ärger als diese hier.

›Nach Entlassung aus der Heilpflege zwecks Abbüßung der Polizeistrafe zurückzuliefern.‹ So steht auf dem polizeilichen Akt betreffend die Abgabe des Zuhälters Jaroslaw Chrapot an das Allgemeine Krankenhaus. 152

 


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