Egon Erwin Kisch
Der Mädchenhirt
Egon Erwin Kisch

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Neuntes Kapitel

Im Nachtgeschäft ist ein angenehmeres Leben. Gar kein Vergleich! Die Gäste haben sich der Arbeit und Arbeitsstimmung des Tages entledigt, sind nicht so penibel, was das Essen, Trinken und das Servieren anbelangt, das Geld haftet nicht so fest in der Tasche, wie bei Tage, wo alles zum Budget gehört; von den Liedern und Witzen übermütig, von der Technik der Frauen auf dem Podium erregt, und um dem Begleiter oder der Begleiterin nicht als Knauser zu erscheinen, gibt man auch höheres Trinkgeld, besonders wenn man keine kleine Münze hat. Jeder im Publikum unterzieht sich willfährig der Rolle, einen Kavalier zu spielen.

›Zur Stadt Budapest‹ ist auch ein Hotel. Aber es wohnen ausschließlich die Artisten und Chansonetten 111 hier, die abends auftreten. Nur selten steigen Reisende hier ab, deren Ahnungslosigkeit durch die großen Plakate und die Tableaux mit Cancan-Photographien, die rechts und links vom Tor und im Hausflur an den Wänden hängen, nicht beseitigt wird. Zur Bedienung dieser Fremden genügen die beiden Stubenmädchen. Das eigentliche Geschäft geht um neun Uhr abends an, wenn die beiden elektrischen Prismenluster vor dem Tor lockend entzündet sind, wenn in dem Kabarettsaal alles hergerichtet ist: ein weißes Tischtuch über den Tisch an der Kassa gebreitet, die Blocke mit den Eintrittskarten, die Programme und die drahtenen Geldkörbe daraufgestellt, die Tische gedeckt, die Garderobierin zwischen ihrem langen Tisch und den Kleiderhaken, der Chef an der Kasse, der Schankbursche am Bierhahn, die Speisen in der Küche zu Ende gekocht, das Podium gekehrt und die Glühbirnen angezündet sind, daß sie das Orchideenmuster an den Wänden zur Geltung bringen. Oben in den Zimmern schminken sich die Artisten. Die Chansonetten lassen sich einen kleinen Imbiß in das Zimmer bringen – ihr Abendbrot dürfen sie auf strenge Anordnung des Wirts noch nicht verzehren, damit sie bei größerem Appetit seien, wenn sie nach der Vorstellung von Kavalieren zum Souper geladen werden. Gewöhnlich nehmen sie nur ein 112 ›illustriertes Brot‹ zu sich, ein Glas Wein und schlürfen, damit ihre Stimme heller klinge, ein rohes Ei. Die Kellner, die das hinaufbringen, finden die Damen im unglaublichsten Negligé vor ihren Schminktiegeln, Puderquasten, Parfümflakons, Haarwasserflaschen, Toilettespiegeln stehend, sich die Augenbrauen färbend, die hohen Seidenstrümpfe anziehend oder das Hosenkorsett zuschnallend. Die Sängerinnen genieren sich nicht im mindesten vor den Kellnern und herrschen diese auch nicht an, wenn sie einige Sekunden länger, als es das Aufstellen der Teller auf den Tisch erfordert, im Zimmer verweilen, um sich an dem Anblick der Reize zu weiden.

Da Jarda zum ersten Male in das Zimmer der Diseuse Viola Violetta kommt, fällt ihm beinahe die Teetasse aus der Hand. Viola Violetta sitzt gerade auf dem Bettrande, das linke Knie gegen den Bauch gezogen, und zupft den Seidenstrumpf vom Knöchel zur Wade empor. »Ah, ein Neuer, nicht wahr?«, merkt sie sein maßloses Staunen.

Jarda kann nur einmal mit dem Kopf nicken. Sie tätschelt ihm auf die Wange: »Bist ein hübscher Junge. Du kannst, wenn meine Nummer fertig ist, auf einen Sprung heraufkommen.«

Er versteht nicht, weshalb ihn die Kellner so ohne 113 weiteres mit den Brötchen und Getränken in die Zimmer der Sängerinnen schicken, warum sie nicht lieber selbst gehen, er versteht nicht, wie die Vorträge auf dem Podium sie gar nicht im mindesten interessieren, während das Publikum sich im Lachen, Klatschen, Zurufen überbietet.

Nach einer Woche versteht er es. Nichts ist ihm gleichgültiger, als die Chansons und die Chansonnièren. Fast an jedem Abend muß er im Auftrage irgend eines Gastes eine Karte mit einer Soupereinladung – oft rutscht ein Goldstück im Kuvert umher, oder es ist eine Banknote als ›Briefbeschwerer‹ darin – zu einer Dame in deren Zimmer tragen. Er brauchte nur etwas zu sagen oder eine Gebärde zu machen, und die Adressatin ließe ihn gar nicht weg. Aber der Absender der Karte, der elegante Herr, muß auf die Annahme der Einladung warten; ist ihm jemand zuvorgekommen, lehnt die Dame dankend ab – ohne das Goldstück oder die Banknote. Wird angenommen, dann darf sie nicht etwa mit dem Herrn das Hotel verlassen. »Nein, nein, das geht nicht, das erlaubt der Chef nicht, damit das Lokal nicht in den Ruf komme, die Damen würden hier von den Herren einfach mitgenommen.« Gewiß. Der Chef erlaubt es nicht, aber natürlich nicht um des Rufes willen, sondern um selbst das 114 Souper-Geschäft zu machen. Nun girrt der Gast um die Gunst der Schönen im Lokal oder in einer der Boxes, die Schiebetüren haben, und wo man Sekt trinken muß. Sie ißt Schildkrötensuppe, Lachs und Majonaise und was der teueren Dinge (inklusive Giardinetto) mehr im Keller zu verramschen drohen oder vom Delikatessenhändler nach Geschäftsschluß zu eventuellem Losschlagen unbestellt hergesandt wurden. Sie ißt und ißt. Am Schluß bittet sie übrigens, er möge auch ›ihr Abendbrot von gestern bezahlen‹. Wenn der Gast für einen Augenblick hinausgeht oder den Kellner einen Moment aus den Augen läßt, wird der kostbare Pommery in den Eiskübel geschüttet, nur damit eine neue Flasche gebracht werden kann, an der Wirt und Chansonette (sie kriegt zehn Prozent vom Weinverbrauch ihres Gastes) verdienen.

Von Zeit zu Zeit stürzt einer der hier nicht bedienenden Kellner herein, ›um die Weinkarte zu holen‹, oder ein gespieltes ›Pardon‹ stammelnd, als ob er die Box leer vermutet hätte. Der Gast, der glaubt, daß die Prüderie seiner Tischnachbarin von diesen Störungen veranlaßt sei, ruft den diensttuenden Kellner: »Sorgen Sie dafür, daß mir niemand mehr hereinkriecht.« Ein saftiges Trinkgeld paralysiert den ärgerlichen Ton. Aber die Gegenleistung für Riesenzeche 115 und Riesentrinkgelder bleibt immer dieselbe: Sie besteht in der Erlaubnis, einige zweideutige Witze machen zu dürfen – »Pfui,« ruft die Chansonette empört und ist für mindestens eine halbe Minute ernstlich böse! – einige Küsse auf Lippenrot und auf den reisgepuderten Nacken erzwingen oder einen Blick in das Dekolleté werfen zu können – »Pfui,« ruft die Chansonette wieder empört und ist mindestens für eine halbe Minute ernstlich böse! – oder gar zitternd die Seidenstrümpfe entlangtasten zu dürfen.

Mehr nicht, mehr keinesfalls. So dumm ist keine. Höchstens ein Rendezvous für den nächsten Tag zu einer kleinen Spazierfahrt oder zu einem Tee. Am nächsten Tag, wenn sich der Bewerber der Gunst durch ein nobles Präsent würdig zu erweisen weiß.

Grafen, Prinzen, Millionäre, Direktoren, wunderhübsche Burschen, erfahrene Herren mit Glatze, Offiziere vom feudalsten Kavallerieregiment der Monarchie – und immer an allen Tischen das gleiche, verzweifelt ernste Ringen zwischen dem, der die Gunst eines dieser Weiber um jeden Preis erringen will, und denen, die die Zeche um jeden Preis erhöhen wollen. Und immer bleiben die verbündeten Mächte Wirt, Kellner und Chansonette gegen die Gäste die lachenden Sieger.

Jean – so heißt Jaroslaw hier, weil in dem 116 internationalen Lokal ein tschechischer Name zu gewöhnlich klingen würde – hat schnell die Prestidigitateursstücklein erlernt, die zum Prellen der Wurzen nötig sind, und weiß die Eskamotage von Sektmengen so bravourös zu betreiben, daß ihm Anerkennung und Gratifikationen des Wirtes und von den Damen Anteile der dadurch erhöhten Prozente nicht versagt werden.

Das freut ihn bei weitem nicht so, wie die Betrachtung des allabendlichen Verzweiflungskampfes. Alle Männer hier verzehren sich in sinnloser Gier nach den Weibern, ihre Opfer kennen keine Grenzen. Wenn diese Weiber auf dem Podium den Rock heben, dann vibrieren die Gucker an den Augen, ein Dunst von Erregung hüllt den Saal ein, die Mutigen, die Gewiegten, die Roués wagen es, eine der Artistinnen einzuladen, andere beneiden diese Mutigen und gehen sehnsuchtsschwer aus der Vorstellung, andere bleiben sitzen, als ob sie noch die Flasche Wein austrinken wollten, in Wirklichkeit, um mit einer der Sängerinnen ins Gespräch zu kommen. Da sind die feinen Herren, die in die Chambres gehen, um dort Sekt zu trinken: die Herren Grafen, Durchlauchts, viele seiner einst von ihm beneideten noblen Mitschüler von der Realschule, die ihn aber heute noch weniger kennen wollen als 117 damals, dann die Herren Bankdirektoren, Oberleutnants, die den Kellner gar keines Blickes würdigen, der ihnen früh in den goldverbrämten Attila oder den Otterpelz hilft, die dem Kellner mit keinem Zucken der Augenwimper danken, wenn er mit einer tiefen Verbeugung die Saaltüre aufreißt. Was ist ihnen ein Kellner? Wenn sie wüßten, wer er ist! Jarda trägt diese Verachtung mit einem innerlichen Lachen des unsäglichen Triumphes. Was seid ihr alle gegen mich, ihr Herren mit den Kupferkarosserien eurer Automobile, mit dem klirrenden Pallasch und dem Goldportepee, mit den pelzgefütterten Winterröcken, mit den dicken Lagen von blauen Scheinen in euren Brieftaschen! Alles, alles würdet ihr hergeben, um Weiber zu erlangen, alles gebt ihr her, eure Goldtabatièren mit der Freiherrnkrone, eure Ringe, euer Geld, eure Besinnung, ihr erniedrigt euch und erlangt diese Weiber nicht. Ihr seid glücklich, wenn ihr ihre Taillen umfassen dürfet, ich aber kann mich diesen Weibern nur mit Mühe entziehen. Wenn ihr mich mit einem geldbeschwerten Kuvert ins Zimmer der einen schickt, dann kann ich, der Bote, mich der Gunst kaum erwehren, um die ihr nun die ganze Nacht, vielleicht vergeblich, alle Mittel erschöpfen werdet.

Das ganze, ganze Leben ist nichts als eine Rauferei 118 um das Weib. Jetzt verstehe ich es, hier, wo die Rauferei die verzweifeltesten Formen annimmt. Das ganze, ganze Leben ist nichts als der Kampf um das Weib. Schon als Kind hatte ich es erfahren, aber ich verstand es nicht: Die Geschichten der Betka, die sie mir damals von ihren Schwestern erzählte, von der Emmy Dvorak, die ein Fabrikant aushielt und der er eine Reiherfeder und Schmuck kaufte, von der Anna Dvorak, die ihren Geliebten, den Friseurgehilfen Rudla prellte und Geld dafür bekam; die hundert Kronen, die die Betka für ihren ersten Weg ins Hotel Post bekommen hat, für den ihre Schwester und die Frau auf dem Riegerkai mindestens das doppelte Vermittlerhonorar erhielten; die Frau auf dem Riegerkai mit der fabelhaften Wohnung und dem prächtigen Schmuck, alles von den Männern bezahlt, die hier mit Mädchen zusammenkommen wollten; die Bitte meiner Spielgefährten, ich möge es vermitteln, daß dieses oder jenes Mädel mit ihnen schleife, die Bitten und die Versprechungen Robert Maliks, der mit der Ruzena Rec zusammenkommen wollte, die Luise Hejl, die durch den Weg zur Kupplerin ihre Familie vor dem Hungertode rettete, die Vorwürfe der Betka, weil ich die Luise und andere Mädel diesen Weg geführt und ihr so das Geschäft geschädigt habe; die widerwärtigen Gespräche der Kellnerburschen im Hotel, 119 ihre Besuche in dem ekelhaften Haus, wo auch ein behäbiger Herr mit breiter Goldkette, ein junger Mann mit Schnurrbart und andere gute Gäste saßen; das Lied, das die ›Pasaci‹, die Zuhälter, als Herren feierte, die Wut des Speisenträgers Theodor gegen mich, weil die Betka nicht mehr kam, und hier, alle Liedertexte, die Existenz der Singspielhalle samt Hotel, die ganzen Soupers und Gelage – das ganze, ganze Leben nichts als die Rauferei um das Weib.

Und alle waren sie fast verkommen, verblutend, nur ich bin von klein auf ein Sieger über alle Weiber gewesen! Ich habe sie genommen, verschenkt, gerettet, verborgt, über mich haben sie nicht gesiegt. Ich habe sie mir unterworfen, sie haben mir gedient, sie haben mir einen Ebenholzstock gegeben, mich kleiden gelehrt und mir Geld verschafft und Verstand und einen freundlichen Empfang bei der großen Dame am Riegerkai und Detektivromane und Dankbarkeit und Ansehen und Neid und dieses Gefühl ein Triumphator zu sein. Ja, auch ich stehe mitten im Kampf um das Weib, aber ich stehe auf der Seite der Sieger, die Weiber kämpfen für mich.

Durch sein Denken geht lächelnd ein Satz, der ihn einst zu wurmen pflegte, wenn ihn Betka sprach: »Schau, der dort, das ist ein fescher Kerl.« Das hatte 120 ihn einmal mit Neid und Eifersucht durchzittert. Er läßt seinen Blick die Tische entlang laufen: Alle, alle sind sie ›fesche Kerle‹ und alle sind sie doch nur Krens, sind sie doch nur Wurzen des Lebens. Er aber ist ein Zuhälter des Schicksals, der Herr.

Die andern Kellner und die Musikanten der Kapelle wollen zwar auch nichts mit den engagierten Damen zu tun haben; einige sind mit dicken Frauen verheiratet, die ledigen haben Kellnerinnen im Nachtkaffee ›Rokoko‹, die nicht viel besser sind, als die Chansonetten. Jardas Kampa-Mädel sind halb so alt und zehnmal so hübsch, wie alle die vielumworbenen Sängerinnen hier, sind auch viel jünger und viel hübscher, als die Kellnerinnen im ›Rokoko‹. Die Kellner machen sich aber auch gar nicht viel aus ihren Geliebten. Sie gehen, wenn in ›Stadt Budapest‹ der Betrieb zu Ende ist, ins ›Rokoko‹, spielen dort mit den Kellnern anderer Vergnügungsetablissements und Weinlokale bis früh Karten und lassen sich nicht stören, wenn ihre Damen in eine Chambre abberufen werden, und sprechen miteinander. Manchmal, wenn sie viel Geld verdient haben, dann ahmen sie halb absichtlich die Allüren der Gäste von ›Stadt Budapest‹ nach, trinken Sekt, besaufen sich und lassen sich wurzen, um die armen, sie fühlbar bewundernden Kollegen aus dem ›Café Rokoko‹ auch 121 etwas verdienen zu lassen. Sie hasardieren, um die Zeit totzuschlagen, sie zechen, um ihr Geld irgendwie verwerten zu können, und sie haben Verhältnisse mit den Kellnerinnen, um jemanden zu haben, mit dem sie wohnen können und der die gleiche Tageseinteilung hat, um jemanden zu haben, der sie bewundert und an dem man seinen Unwillen auslassen kann, den der Kellner sonst servil hinunterschlucken muß. Auch gewinnen rohe Reden von Geschlechtlichem in Frauengegenwart so etwas wie Humor. Wenn sich die Kellnerinnen im Laufe der Nacht wegen strittiger Weinprozente oder widerrechtlicher Trinkgelder oder unlauteren Manövers bei Behandlung eines einer Anderen zugehörigen Gastes bis auf den Tod verfeindet haben, dann haben ihre Geliebten ihren gemeinsamen Spaß daran, der Feindin ihrer Geliebten recht zu geben, sie als Muster hinzustellen und durch Drohungen, Püffe und dergleichen eine für beide Seiten möglichst entwürdigende Aussöhnung herbeizuführen. Das Quälen macht ihnen Hauptspaß. Wenn der Hausierer mit der Elektrisiermaschine kommt, bestellen sie harmlos ›Um zwei Kreuzer Damenstrom‹ für ihre Geliebte, aber kaum hat sie die Metalltaster gepackt, die sie nun nicht mehr loslassen kann, so versprechen sie laut dem Hausierer eine Krone, wenn er die stärkste Stromstärke einstelle, und 122 nicht innehalte, bis sich das gepeinigte Mädel unter fortwährendem Schreien ›Genug‹, ›Genug‹, auf dem Boden krümmt, während die ›Herren‹ vor Lachen Hustenanfälle bekommen. Oder sie schlagen, wenn eines der Mädel sich vom Verkaufsbrett des hatscheten Haldich eine saure Gurke oder eine Zwiebel aussucht, so wuchtig von unten in das Bodenbrett der offenen Schachtel, daß das ganze Delikatessengeschäft samt Essig der entsetzten Maid und dem schon eher daran gewöhnten Verkäufer ins Gesicht und von dort auf die Erde fliegt; zehn Kronen ist hierfür die Entschädigungstaxe und man kann, während der hatschete Haldich die Sardinen, Sardellen, die Stücke paprizierten Lungenbratens, Rollmöpse, Heringe, eingelegten Zwiebeln, saueren Gurken, Fiesolen, Kartonteller, Seidenpapiere und Porzellanscherben des weißen Senffäßchens mühsam vom Fußboden aufklaubt, eine Menge von Scherzen darüber anstellen, wie nun die Ware anderen Leuten schmecken werde. Und was dergleichen Witze mehr sind.

Sie kommen sich alle in ihrer Macht über die Weiber sehr groß vor und nennen sich selbstgefällig: ›Zuhälter‹, obwohl sie doch nur zum geringen Teil vom Verdienste ihrer Geliebten leben. In ihrem Gehaben gefallen dem Jarda seine älteren Kollegen. Was ihm 123 nicht an ihnen gefällt, sind ihre Weiber, die doch schließlich öffentlich sind und für jedermann, routinierte Weiber – lange nicht so anspruchslos und so brav und so hübsch wie seine Kampa-Mädel.

Früh fährt man nach Selz hinaus, manchmal mit dem ersten Bahnzug, gewöhnlich in Fiakern oder Autodroschken; Arbeiter mit ungelenken Schritten, Fabrikarbeiterinnen mit unausgeschlafenen Augenwinkeln, postierte Marktweiber, beladene Fleischerwagen, Bäckergehilfen mit Körben rufen wütend den Vehikeln, in denen die pfeifenden und lachenden Drahrer mit den Hüten im Nacken, den auffallenden Weibern frech auf dem Schoß sitzen, Flüche und neidische Hohnworte nach. Aus den Fiakern wird ihnen nie eine Antwort, man hat Mitleid mit diesen Armen, die schon zum Kessel oder zum Treibriemen trotten müssen. Wenn sie das Moldauufer entlang fahren, schwimmen schon die Flöße vorbei, mit den zerschlissenen Leinwandstandarten, auf denen die Namen des Holzhändlers und des Floßführers stehen. Jarda schaut hinunter, er erkennt die Flößer, die da erhitzt und balanzierend auf den Balken umherlaufen, bald die Bindwieden fester knüpfen, bald die Staaken in den Wassergrund bohren und, den schrägen Körper gegen diese Holzharpunen pressend, die Prahme nach vorwärts drücken, 124 um dann wieder an die Vorderseite des Floßes zu rennen und die Steuerruder schwer nach rechts zu drehen, damit das Floß nicht ans Ufer renne, oder schnurstracks in die Verlängerung der schmalen Schleuse zu schwimmen, in der es neue Gefahren gibt. Jarda erkennt sie alle, die sich da – die Haare in die Schläfen gekämmt, um nach Plebejergeschmack fesch zu sein – in ihren blauen Leinwandjacken und unförmigen Wasserstiefeln placken, es sind die Berufsgenossen seines Vaters und seine eigenen Spielgefährten. Narren der Arbeit! Ewig geht ihre Arbeit mit dem Strom, Freude kennen sie nicht. Sie fahren bis nach Sachsen, aber sie halten sich dort nicht auf, sie schauen sich nichts an, sie übergeben das Floß, packen die Staaken zusammen und fahren mit dem nächsten Zug nach Prag zurück. Nicht einmal ins Gasthaus können sie gehen, weil sie nicht Deutsch verstehen. Dummköpfe.

Da hat sich der alte Hejl gerackert, bis ihm die Schregge den Kopf zertrümmerte, und nun weiß Luise, seine kleine Tochter, die Familie besser zu ernähren; Jarda hat ihr einfach den Weg gewiesen. Jarda glaubt den toten Hejl vor sich zu sehen, die knappe Zeitungsnotiz mit dem höhnischen Trost als Titel: »Risiko der Arbeit.« Und Jardas Vater. Der hat sich auf den schwimmenden Balken die Lunge ruiniert, 125 Rheumatismus geholt und seine Frau hat ihn dann einfach mit dem Herrn aus der Rittergasse betrogen, seinem wirklichen Vater. Ihm wird so weh ums Herz. Narren, möchte er hinunterrufen, wozu schindet ihr euch?

In Selz kommt man auf andere Gedanken. Hier ist sakrosankter Boden, Selz gehört nicht mehr zum Polizeirayon und so können Kellner und Kellnerinnen, Drahrer und Drahrerinnen, die Strichweiber vom Pulverturm und ihre Luden unter den ausladenden Kastanienbüschen im Gasthausgarten ›Beim Admiral‹ beisammensitzen, ohne Störungen befürchten zu müssen. Manchmal holen die Musikanten spaßeshalber ihre Instrumente aus den Futteralen und spielen ein, zwei Stücke zum Tanz. Man trinkt, man fährt Schinakel, mietet die kleine Badeanstalt am drübigen Ufer, Männer und Frauen ziehen sich dort gemeinsam aus und springen ins Wasser, man legt sich in den Wald und schläft bis Mittag. 126

 


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