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Bald nach Tisch wollte Marguérite sich mit ihrem freundlichen Begleiter auf den Heimweg machen. Der Weg war weit, und die Tage waren kurz. Adèle füllte einen alten Tornister, den ein deutscher Soldat hatte liegen lassen, vielleicht lag er auf der Wiese neben ihrem Haus begraben, sie wusste es nicht, mit allen guten Sachen, die sie ihrer Schwester zudachte. Es war soviel, dass der guten Marguérite die Augen übergingen, soviel auch, dass der gute Remigius, der die Reichtümer nachher zu tragen hatte, mehr als einmal stöhnen musste. Die mürrische Magd aber war mit besonderem Eifer dabei, immer noch etwas Neues zu finden, etwa noch ein Glas mit Rahm, oder ein paar Kümmelkäschen, ein paar Schuhschnüre oder Durchziehgummi für die Kleidchen der Kinder oder auch für andere Bekleidungsstücke, ein paar Rippen Schokolade und ein Glas Senf von Dijon und . . . und . . . Sie war gar nicht mehr mürrisch, die mürrische Magd. Vielleicht hatte sie an der Türe gehört, wie der Pfarrer für sie eintrat. Vielleicht wollte sie auch dem lieben Gott, mit dem sie bös war, zeigen, dass sie selber grosszügig und gütig war, über das Mass hinaus, mit dem ihr selber das Glück zugemessen worden war. Sie brummte. Aber sie brachte immer noch irgend etwas, bis es über alle Grenzen des Tornisters hinausquoll. Dann kam auch noch François und brachte ein Päckchen schwarzer Zigaretten. »François mag keine amerikanischen«, sagte er. »Céline mag auch keine mehr. Céline 229 kommt auch gleich und kann es selber sagen.« Adèle wollte ihn wieder zurecht- und hinausweisen. Aber da hörte man das Anfahren eines Wagens vor der Tür, und einen Augenblick darauf stand Céline in der Stube. Sie sah niemand. Sie stürzte auf ihre Mutter zu und umarmte sie lachend und weinend:
»O nein, ich konnte nicht, ich konnte nicht. Die fremde Stadt und das Meer und das grosse Schiff und die hundert Mädchen, die wie ich nach Amerika sollten und schon so ganz amerikanisch aussahen! Und Ronald selber, der mir immer fremder wurde. O nein, ich konnte nicht. Und ich hab an die paar Rosen gedacht, die noch im Garten blühen, und an die Mispeln und an die Rorateämter. Oh, ich konnte nicht, und ich bin so froh, dass ich noch losgekommen bin! Ronald wird sich trösten. Das weiss ich. Aber ich hätte mich nie mehr trösten können. Oh, ich bin ja so froh – – –«
Damit brach sie in ein langes Schluchzen aus, bei dem sie ihr Gesicht in den schmalen Händen verbarg.
François stand da, grinste und sagte: »Keiner gewusst, François gewusst.« Die Magd knurrte: »Alors, hättest dann auch gerade zum Mittagessen kommen können. Alles wieder aufwärmen! Nie wird man fertig in diesem Haus!«
Da lachte das Mädchen aus seinem Weinen heraus:
»Ah, ma très chère Cathérine, ich esse kalte Suppe und trinke warmen Weisswein und will mich im Winter mit zwei Leintüchern zudecken und im Sommer mit drei Federbetten. Und ich will 230 dein Brummen anhören, als wenn es Nachtigallenmusik wäre, und dein zorniges Gesicht sehen, als wenn es von Botticelli gemalt wäre. Alles, alles will ich, wenn ich nur wieder daheim sein kann.« Dann sah sie plötzlich die Gäste und lief blutrot an.
»Mein Gott, Mutter«, sagte sie, »die Frau da gleicht dir aber. Ist das vielleicht die Schwester von da unten, die du nie mehr gesehen hast? Ja? Und das, das ist doch der Schäfer, wie kommen Sie denn zu uns, Monsieur? Ah, ich freue mich, willkommen! Es ist nur gut, dass ich zurückgekommen bin, sonst hätten Sie mich nie mehr gesehen. Das heisst: ich wollte sagen, ich hätte Sie nie mehr gesehen, das heisst – ach, Entschuldigung. Ich bin doch ein bisschen durcheinander von der Reise. Und draussen wartet noch der Chauffeur von Bouzonville. Ich hab ihm einen Liter von unserem zehnjährigen Mirabelle versprechen müssen, damit er mich fuhr. Und mehr noch, Maman, eine von den Flaschen, in die wir die grossen Birnen hineinwachsen und ganz, ganz reifen liessen und die wir dann füllten, verkorkten und auch noch mit Wachs verschlossen. Ich war dreist, aber – – –«
Da rief Remigius, obwohl es doch keineswegs seine Sache war:
»Aber Fräulein, Ihre Rückkehr ist doch Jeden Mirabelle der Welt wert, und wenn er anstatt über eine in der Flasche gereifte Birne über irgend eine Paradiesesfrucht gegossen wäre, wäre es immer noch nicht zu schade.«
Adèle lachte: »Das habt Ihr gut gesagt, Monsieur. Nein, Paradiesesfrüchte reifen bei uns nicht.« 231
»Doch, doch«, rief François und klopfte dabei seiner Schwester herzlich auf den Rücken. Da lief sie hinaus, um den doppelt kostbaren Mirabelle zu suchen und den Chauffeur zu entlohnen. Als sie nach geraumer Weile wiederkam, hatte sie verweinte, aber glückliche Augen.
»Stellt Euch vor, Mutter«, sagte sie, »stellt Euch doch nur vor, wenn Ihr alle wunderbaren Äpfel hättet ohne mich essen müssen! Und das Schwein hab ich gesehen. Das muss im Januar unbedingt geschlachtet werden, und wenn wir die Boudin dann gemacht haben, dann müssen Sie wieder zu uns kommen, Tante, und Sie auch, Monsieur. Sie müssen, Sie müssen. Für ein Mädchen, das beinahe in Amerika gewesen wäre, und dann wegen ein paar später Rosen und wegen der Mispeln, die auf den Frost warten, zurückgekommen ist, muss man schon etwas tun, oder nicht?«
Frau Marguérite und Remigius waren sehr müde, als sie wieder unten im Tal waren, aber sie waren auch sehr froh. Es gab noch ein grosses Festmahl, an dem die Frauen und Kinder und Männer gleichermassen teilnahmen, und dann schlief Remigius, den Tornister unter dem Kopf und mit seinem alten Mantel zugedeckt, wie er hunderte Male im Krieg geschlafen hatte, aber es hüllte ihn noch eine andere Wärme ein, als die des Mantels.
Am anderen Tag wollte er heimgehen. Heim? Zu seiner Schwester, zu den Kindern und schliesslich auch zu dem Schwager, über den er längst nicht mehr zornig war. Wie hatte der Pfarrer gesagt: Bosheit ist oft genug nichts anderes als Dummheit, und Dummheit ist wie Schieläugigkeit. 232 Die Schieläugigen können nichts dafür, dass sie schielen. Eine Schwester aber hält einen fest. Eine Schwester ist noch einmal ein bisschen die Mutter, auch wenn sie jünger und schwächer und hilfsbedürftiger ist. Die Schwestern halten die Sippe zusammen, und wenn ihre Männer schwer zu ertragen sind, erträgt man sie dennoch und trinkt einen Schnaps bei ihrem Anblick, wie nach dem Genuss unbekömmlicher Speisen. (Randbemerkung des Erzählers: In diesem uralten Land sind wir alle ein wenig Mutterrechtler, gezügelt durch den Glauben an den allmächtigen Vater des Christentums.) Und die Kinder!
Das kleine Trudel, das er zusammen mit dem Doktor und zusammen mit der Schimmelpilzmedizin der Engländer dem Tod abgerungen hatte.
O ja, er wollte heimgehen. Es war wirklich Heimgehen, wenn er zu dem alten Haus zwischen Dorf und Wiese und Wald ging. Aber da fiel ihm ein, dass er von den Freunden da oben in Berus, im Bergnest, noch nicht Abschied genommen hatte. In ihrem Haus aber und in ihrer brüderlichen und schwesterlichen Güte war ihm doch zu allererst nach dem Krieg das neue Leben begegnet. Also machte er sich noch einmal auf, um den Berg zu ersteigen. Aber als er erst wenige Schritte aus dem Tal herausgemacht hatte, holte ihn ein Wagen ein, und eine Stimme aus der Tiefe des Wagens forderte ihn auf, mitzufahren. Es gab nur den einen Weg zur Höhe. Remigius war müde genug, um der Einladung dankbar zu folgen. Aber der Mann im Wagen war Arthur Thiever. Remigius war einen Augenblick im Begriff, gleich wieder hinauszuspringen. Aber er tat es doch 233 nicht. Seine Müdigkeit hielt ihn zurück. Mit Arthur Thiever da hinauffahren oder mit einem Pferdeschlächter von Werbeln, das war so gleichgültig wie irgend etwas. Thiever bot ihm eine Zigarette an, eine amerikanische, versteht sich, und er nahm sie. »Ich dachte immer, Sie wollten mich totschlagen«, sagte der blasse, zur Feistheit neigende Mann, der an einen gerade ausgegrabenen Engerling erinnerte.
Remigius erwiderte:
»Ich weiss nicht, ob ich einmal daran gedacht habe. Möglich ist es schon. Ich war zornig auf Sie. Aber warum soll man einander totschlagen. Das Leben schlägt uns von selber tot, wenn die Stunde gekommen ist.«
»Sehen Sie, sehen Sie«, sagte der andere. »Das mein ich auch und schon lange, und was Beatrix angeht, nun, ich habe sie Ihnen nicht weggenommen, wirklich nicht. Ich wusste nichts von Ihnen, und Beatrix selber, nun, sie war wie alle die, die früh sterben müssen, ein bisschen – –«
Da packte Remigius ihn kräftig am Arm und sagte:
»Menschenskind, jetzt halt nur den Schnabel und sag vor allem kein Wort mehr über Beatrix, sonst muss ich dich doch noch umbringen, leider!«
Arthur Thiever verzog das Gesicht zu einer weinerlichen Fratze:
»Im eigenen Wagen, im eigenen Wagen. Man ist wirklich zu gut. Peinlich, peinlich!« Aber er brachte seinen ungebärdigen Gast bis ans Ziel, und zum Abschied reichte er ihm sogar noch einmal seine duftenden Zigaretten hin. Aber Remigius nahm keine mehr. 234
Christoph sass wieder vor seinem Haufen maroder Schuhe, und vor lauter Eifer und Wiedersehensfreude hätte er den Freund beinahe mit einer Ahle gestochen.
»Na, hat sich kein römischer Krieger mehr bei Euch gemeldet?« fragte Remigius, und der Schuster antwortete:
»Nein, aber da drinnen in der Stube sitzt ein Strupplinger Soldat, der zwar nicht tot und begraben, aber doch tot gemeldet und beklagt war, und Requiem aeternam und lux perpetua war auch schon über ihn gesungen, und nun ist er aus Afrika zurückgekommen, und von allen Totengesängen war ihm nichts ins Ohr gedrungen, und er sitzt ganz vergnügt da drüben und raucht seine Pfeife, und ich hab gar nicht gewusst, dass Oranne und er alte Freunde sind. Es scheint sogar, dass die Todesnachricht, die falsche, die Freundschaft bei ihr noch hat wärmer werden lassen. Bei ihm war sie wohl schon vorher warm genug. Aber geh nur hinüber. Sie sitzen beim Kaffee. Du wirst wohl auch noch eine Tasse bekommen. Ich komme nachher!« Remigius ging, und das Paar sass Hand in Hand und tönte sich an mit dem ewigen Lied: »Damals, weisst du noch, weisst du noch, damals«, und es schien dem Hinzugekommenen, als wenn er einen jähen Schmerz um Beatrix empfinde. Aber plötzlich spürte er, dass mehr als der Schmerz um die eigentlich schon längst Verlorene, Sehnsucht nach Céline ihm Hirn und Herz durchglühte.
Er hatte sich's verschworen, damals, als ihm das liebe Lothringermädchen so deutlich zeigte, dass sie ihm gut war. Aber das Herz geht seine Wege 235 über alles Verschwören hinweg. Das Herz will leben und lieben.
Er fragte:
»Wie ist es denn, wenn man schon tot gewesen ist und wieder unter die Lebendigen kommt?«
Und der heimgekehrte Soldat, der ein junger Lehrer war und gewohnt, in einem leicht lehrhaften Ton zu antworten, erwiderte mit erhobenem Zeigefinger:
»Wissen Sie, wie Lazarus aus dem Grab herausgekommen ist, hat er gleich nach seinem Nachmittagskaffee verlangt und sich vorn am Brunnen im Garten tüchtig die Hände gewaschen und den Mund ausgespült, weil die Hände schweissig waren und der Mund einen unguten Geschmack hatte. –
»Benedikt, Benedikt!« unterbrach ihn das Mädchen, aber er fuhr unbewegt fort:
»Ja, das hat er getan, und lächelnd nach der Zeitung geschaut, in der seine Todesanzeige stand. Nicht sehr grossartig! meinte er. Ja, so war das. Verlassen Sie sich darauf. Und immerhin, ich war weder vier, noch nur einen Tag im Grab. Wie wollen Sie, dass ich mir da so besonders vorkomme? Man sagt, die Würde des Menschen bestehe darin, noch aus Gestern und Vorgestern und Ehegestern zu leben. Aber das Leben selber, ohne das ja keine Würde, Grösse und Vornehmheit sein kann, das Leben selber, das lebt heute und in der Stunde und im Augenblick, hier und jetzt, und anders kann es nicht leben.
Wissen Sie« – der Zeigefinger erhob sich noch einmal – »es ist alles viel einfacher, als wir immer glauben. Ich sitze da und trinke Kaffee. Das ist jetzt Leben und Welt und alles.« 236
Remigius hörte diese ja nicht sehr grossartige Weisheit des Heimkehrers. Man konnte sie auch viel derber und kräftiger ausdrücken, und so ausgedrückt, derber also, war sie die Weisheit vieler Soldaten gewesen, eine ganz brauchbare vorletzte Weisheit, nur nichts Grossartiges, nichts besonders Erhebendes. Aber das Mädchen Oranne, das fromme, mit dem Klang des Per omnia saecula saeculorum – von Ewigkeit zu Ewigkeit im Ohr – blickte so andächtig und verklärt zu dem Redner auf, als wenn er wie ein Kirchenvater spräche, Worte des ewigen Lebens. Er dachte bei sich, dass die Menschen einem so oft Anlass zu innigem Grinsen geben, und er dachte weiter, dass man immer selber zu diesen Menschen gehört und dass man anfängt, weise zu werden, wenn man über sich selber grinst, eh es die andern tun. Der Herr Lehrer hatte es wohl noch nicht gelernt. Aber er hatte gelernt zu dozieren, und er dozierte, tat klärlich das, wie der vergangene Krieg hätte gewonnen werden können und wie man den künftigen vermeiden müsste, wie es viel besser lohne, Schafe zu halten als Ziegen, wie das Bauerntum in diesem Land mit seinen Kohlen und seinem Eisen eigentlich schon zum Aussterben bestimmt und wie mit ihm auch alle dummen und altmodischen Geschichten sterben müssten, von denen das Land immer noch voll sei.
»Stellen Sie sich vor«, sagte er, »wahnsinnig, was sie hier noch glauben!« und dann erzählte er die Geschichte von der Frau und dem römischen Soldaten.
»Soll man es denn glauben? Jetzt, in diesem Jahr 1945?« 237
»Ich weiss es nicht, ob man es soll«, antwortete Remigius, »aber ich, ich glaube es nicht nur, dass die Leute die Geschichte erzählen, sondern ich glaube die Geschichte.« Und da machte der Herr Lehrer eine Bewegung, als wenn er den schlechten Schüler aus seiner Nähe vertreibe, und dozierte dann weiter, ohne ihn noch zu berücksichtigen. Man kann ja nicht die ganze Klasse leiden lassen unter einem einzigen Schüler, der nicht mitkommt: Er dozierte und dozierte und verwandelte die gute alte Stube mit ihrem Grossmuttersessel und ihren alten Tellern auf dem Sims in eine Schulstube, in der man ordentlich Tinte und Kreide roch, und Remigius wartete immer darauf, dass Oranne oder auch ihre Mutter den Finger heben würden, um eine Antwort zu geben oder etwas zu fragen oder zu bitten, ob sie einmal hinausgehen dürften. Sie taten es nicht, natürlich. Aber sie waren sehr, sehr aufmerksame Schüler. Als Christoph dazukam, wartete Remigius ein wenig, dass er die dumpfe Schulstube wieder in seine heimelige Vater- und Mutter- und Vorväterstube verwandeln würde. Aber siehe da! Er setzte sich brav zu den Füssen des Lehrers, und als der Herr Lehrer sagte, das Zeitalter nahe, in dem das Schuheflicken unrationell, ja überflüssig würde, da antwortete er, durch dessen emsige und tüchtige Arbeit viele Dutzende Männer und Frauen und Kinder trockenen Fusses durch die Pfützen der Dorfgassen gingen, und sicheren Fusses durch manche Fährnis des Lebens:
»Ja, freilich, in der Tat, so gesehen – – –«
Ach, wie plötzlich kann doch ein Haus verwandelt werden und die Welt und das Leben, und 238 es gibt kein Zurück, und man kann nichts wiederholen.
Aber du bist ja, mein Freund Remigius, eigentlich gekommen, um noch einmal Dankeschön zu sagen und um Abschied zu nehmen und das Wiederholenwollen der guten und tröstenden Stunden in diesem Haus, das schlummert nur irgendwo auf dem Grund deiner Seele. Also sag Dankeschön und nimm Abschied. Es sind schon mehr Rosen verblüht und Äpfel verfault, und es hat noch niemand etwas dagegen tun können.
Die drei nahmen herzlichen Abschied von ihm, aber die Herzlichkeit war doch ein bisschen umflort und verschattet. Er war eben ein schlechter Schüler, und den Musterschülern tut der Herr Lehrer leid. Der Herr Lehrer aber, Benedikt Kluge, so hiess er, warum sollen wir es verschweigen? – der Herr Lehrer sagte:
»Also denn, Herr Wolf! Machen Sie's gut. Wir alten Soldaten brauchen jetzt Frontgeist, die einfachen Leute so gut wie wir Gebildeten!«
Worauf Remigius in die nächste Wirtschaft ging und den Wirt beschwor, ihm um Gottes willen ein paar Schnäpse zu geben, weil er sich so schrecklich den Magen verdorben hätte. Er bekam sie. Dann wanderte er ins Tal hinab, in sein zerschossenes, zerbombtes Heimatdorf und war noch vor Nacht am Haus seiner Schwester.
Sein Schwager öffnete ihm. Erst fuhr er erschrocken zurück. Dann aber klopfte er ihm auf die Schulter und sagte:
»Grossartig, grossartig! Aber Menschenskind, Menschenskind, halt ja den Mund, du weisst ja, wegen der blöden Schafe. Die Luft ist gerade dick 239 genug für mich. Stell dir vor: Die Walla Bêser hat ein Kind bekommen, und jetzt erzählen die Esel natürlich, es sei von mir, obwohl sie selber kein Wort gesagt hat. Und die erste, die es gesagt hat, war deine Schwester, meine Frau, und da kannst du dir denken, wie es ist, zum Kotzen, sag ich dir. Jetzt hat sie noch mehr Herzgeschichten als vorher, jammert noch mehr als vorher, und sie hat es fertiggebracht, dass die Kinder mich ansehen wie den Kindermörder Herodes.«
Remigius schob ihn angewidert zur Seite. Er hatte von der Geschichte schon gehört, und er zweifelte kaum daran, dass sein Schwager schuldig war. Mochte er es sein. Es war bitter genug. Aber diese Art, darüber zu reden, war nicht bitter, die war – nun also: das Wort ist gerade gefallen, und es sollen hier nicht mehr kräftige Worte gebraucht werden, als durchaus notwendig ist. Die Leidenschaften sind in der Welt, und es wird nicht viel daran zu ändern sein. Aber ein Mensch, der ihnen verfällt, kann ein Mensch bleiben in aller Not und Nichtigkeit, ja, ja, ja, er kann es wirklich, – und er kann ekelhafter als ein räudiger Hund werden.
Remigius schob also seinen Schwager angewidert zur Seite und ging zur Küche, wo die Schwester und die Kinder waren. Die Kinder schrien auf, und die Schwester weinte lautlos. Es war hart, sie weinen zu sehen. Sie hatte so etwas kindlich Hilfloses an sich. Er sprach ihr zu, wie er dem kleinen Mädchen schon getan hatte vor zwanzig Jahren, sanft, beschwichtigend, eher väterlich als brüderlich, mit tiefer, warmer Stimme:
»Ich bin ja wieder da. Es ist doch alles wieder gut. Oder doch das meiste. Du und ich, wir werden 240 schon zusammenhalten, und es kommt alles in die Reihe. Und die Kinder sind doch auch da, und Weihnachten kommt jetzt, und dein Mann – ach, er hat dich und die Kinder sicher gern. Man muss ihm ein bisschen helfen. Wir müssen ihm helfen. Ich hätt auch nicht weglaufen sollen. Aber dass ich da oben war, das war doch sehr gut. Ich mein, es wär ein Jahr gewesen oder länger, und es waren doch nur ein paar knappe Wochen.«