Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Oranna kam aus der Kirche, rieb sich die kalten Hände und setzte sich an den Tisch, behaglich feststellend, dass es von ihm her festlicher duftete als sonst an Werktagen. Sie hatte ein hübsches, etwas blasses Gesicht mit hellen Haaren und mit blauen Augen, die auch dann irgendeiner unbekannten Ferne zugewandt schienen, wenn sie auf das Allernächste und Greifbarste blickten.

Sie erzählte:

»Nach der Messe hat der Pastor gesagt, während der Nacht wäre versucht worden, in der Kirche einzubrechen. Ich glaub ja nicht, hat er gesagt, dass eines von meinen Pfarrkindern dabei gewesen ist. Aber möglich ist alles, und vielleicht kommt einem von den Helden zu Ohren, was ich 57 jetzt sage. Wer schon sich garnicht mehr halten kann, soll lieber im Pfarrhaus einbrechen als in der Kirche. Schätze sind da auch nicht, ein paar Flaschen Wein, ein paar schöne Aepfel und ein paar Dutzend Gläser Eingemachtes, wie es in anderen Häusern auch ist. Aber es ist mehr als in der Kirche, und für den lieben Gott und auch für mich ist es doch weniger ärgerlich, wenn im Pfarrhaus, als wenn in der Kirche eingebrochen wird.«

Sie lachten und Christoph fragte:

»Von seinem Milchschaf hat er nichts gesagt?«

Sie antwortete:

»Nein. Vielleicht wäre das als eine Anspielung betrachtet worden.«

Das Mädchen lebte in der Welt des Glaubens. Ab und zu schien sie ganz weit weg zu sein, in einem Reich, das allen anderen unzugänglich war, von dem ein kühles und fast strenges Licht ausstrahlte. Dann wieder war sie voller Heiterkeit den Dingen des nächsten und alltäglichen Lebens zugewandt, wie eben jetzt. Remigius dachte an seine Schwester da unten, die weder in dieser Welt noch in jener recht zuhause und darum müde und traurig war, und er dachte plötzlich auch an Beatrix. Sie verlor so, der anderen gegenübergestellt, nichts von ihrem Zauber und von ihrer Verlockung. Auch in das klare Licht Orannas hinein gehalten, behielt sie die Fülle ihres Wesens – und alle Kraft, Schmerzen zuzufügen, wie immer. Aber auf dem Berg wehte ein kräftiger Wind und zerblies manchen Kummer, der im Tal zur drohenden Wolke geworden wäre. Es war gut, auf dem Berg zu leben. Das Brot war anders und die Luft, die Häuser und die Menschen. Wer eine Stunde 58 braucht, um ins Tal hinabzusteigen, wer gar nicht hinunterkommt, wenn der Berg zugeschneit und vereist ist, wer dann Woche um Woche in sein Dorf wie in eine Festung eingeschlossen bleiben muss, der wird anders als die Menschen in den Dörfern da unten, durch die Wagen um Wagen brausen, in die sich immer neue Wogen von Menschen ergiessen. Die Menschen des Bergdorfes waren keine Träumer. Aber ihre Strassen und ihre Häuser waren voll von Vergangenheit und von Erinnerung, ob sie es wollten oder nicht. Das Haus des einen war in die alte Bergmauer hineingebaut. In dem Keller des anderen war noch ein römischer Stein mit Zeichen aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert. In diesem Acker war ein keltischer Topf gefunden worden und in jenem Apfelgarten fränkische Münzen. Es gab wie in allen Dörfern im Land ein Dutzend Peter und ein Dutzend Katharina, ein Dutzend Mathias und ein Dutzend Barbara. Aber es gab doch auch eingesessene Männer, die Ludwin oder Wendelin hiessen und Mädchen, denen man Oranna oder Glodesindis rief. Es gab noch Schränke aus dem siebzehnten und Teller aus dem achtzehnten Jahrhundert. Vor dem Dorf, mitten in den Weizenfeldern, stand die uralte Kapelle der heiligen Oranna, und Oranna wurde von den Menschen des Dorfes verehrt nicht wie eine Heilige aus der Legende, aus den goldenen und feierlichen Büchern der Kirche, sondern wie jemand aus dem Dorf, der es wirklich zu etwas gebracht hat, und den man – o wunderbare Ausnahme – doch nicht zu beneiden braucht. Das alles zusammen und noch mehr – Geheimnisvolleres, nicht in Worte zu Fassendes – gab dem Dorf etwas wie 59 den Ruch, der in alten Schränken hängt. Ruch von welken Rosen und überwinterten Aepfeln, von Gewürznelken und getrockneten Apfelsinenschalen, von Lavendelbündeln und alten Büchern, und gab ihm ein Dämmerlicht wie aus Märchen und Legenden.

Remigius dachte zuweilen, er hätte eigentlich hier geboren werden müssen und dann ein Handwerk betreiben, das ihm erlaubte, sich, wie eine Schnecke in ihr Haus, in einer Kammer des Dorfes zu verbergen, mit keinem anderen Blick als über die Obstgärten und die Weizenäcker. Was dann noch an Leben zu ihm hereinkäme, das müsste ein bisschen besonderer sein als der Klatsch über ein Nachbarsmädchen oder über den gepantschten Quetschenschnaps eines Wirtes. Es gab immer noch Besonderes in dieser Welt, die allen Geheimnissen auf die Spur kommen wollte bis in den Kern der Atome hinein.

In der Nacht als er ankam, war sein Freund ja noch spät damit beschäftigt, einen derben Bergmannsschuh instand zu setzen, damit sein Besitzer ihn am anderen Morgen in aller Frühe noch haben könne. Aber er kam erst zwei Tage später und erzählte eine unheimliche Geschichte.

In jener Nacht war sein Schwager von jenseits der Grenze gekommen und hatte ihn zu seiner Schwester gerufen. Sie wolle sterben, hatte er gesagt. Er war mit ihm durch die Nacht gegangen, über die Äcker und durch das Waldstück zwischen den Dörfern und zwischen den Ländern. Er fand die Schwester mit blauem Gesicht und Schaum vor dem Mund. Sie röchelte wie eine Sterbende, aber ab und zu stiess sie auch ein paar Worte hervor, 60 die niemand verstand. Ihre Stimme klang dann rauher, fast wie die eines Mannes. Man hatte schon am Abend den Pfarrer gerufen, aber er war in Metz gewesen. So kam er erst jetzt, tief in der Nacht. Er gab sich daran, ihr die letzte Ölung zu spenden. Aber bevor er noch recht angefangen hatte, fuhr er erschrocken in die Höhe. Er verstand, was die seltsame Kranke sagte. Es war Latein, ein grobes, derbes Latein, wie es weder in den Kirchen- noch in den Schulbüchern stand, aber ganz richtiges Latein, das man mit einiger Mühe verstehen konnte. In diesem Latein beklagte sich einer, dass der Bauer begonnen habe, eine Dunggrube zu errichten, just an der Stelle, wo seine Gebeine und die seiner Kameraden bestattet seien. Er flehte immer wieder, man möge es nicht zu dieser schmachvollen Besudelung kommen lassen und stiess dunkle Drohungen aus für den Fall, dass es doch geschähe. Der Pfarrer fragte, wer da rede, und in der Antwort kam der Name eines römischen Soldaten und einer Legion, die unter Cäsar diesen verlassenen Winkel Galliens durchzogen hatte. Sie seien zu dreien in einen Hinterhalt gelockt und erschlagen worden. Der Pfarrer versprach, dass es keine Dunggrube geben werde, wenn man erkenne, dass die Stimme wahr spreche. Darauf befahl die Stimme, sie sollten in der schon zum Teil ausgeworfenen Grube drei Fuss tief graben. Sie taten es, in der Nacht noch. Eine Stalllaterne leuchtete ihnen, bis sie sahen, dass der Mond viel heller war. Sie gruben eine Viertelstunde, da sagte der Pfarrer: Halt! und stieg selber in die Grube hinein. Er griff mit den Händen in die Erde, die hier anders gefärbt war als die schon 61 ausgeworfene. Dann nahm er den Spaten, grub behutsam, liess sich nach einer Weile die Laterne hinabreichen und sagte dann mit erregter, flüsternder Stimme: Da! Da ist es!'

Sie sahen alle, wie sich aus dem dunklen Grund hellere Gebeine abzeichneten. Der Pfarrer sagte später, er sei sehr versucht gewesen, nachzuforschen, ob sich nicht Waffen oder aber Gewandspangen oder ähnliches finde. Aber es sei gewesen, als wenn ihn eine unwiderstehliche Gewalt daran hindere. Die Grube wurde wieder zugeworfen und völlig eingeebnet. Dann kehrten die Männer zu der Kranken zurück und siehe, sie befand sich in ruhigem Schlaf, das Gesicht nur mässig gerötet und den Atem tief und ruhig wie der einer sehr Ermüdeten. Am anderen Morgen wachte sie spät auf, war sehr hungrig und wusste von nichts.«

Caspar Riehm hatte aufgeregt, aber auch ein bisschen verlegen erzählt, als wenn er sich scheue, etwas so Ausserordentliches zu berichten.

Remigius fragte:

»Und das ist so plötzlich an deine Schwester geflogen? Hat sie nie vorher so etwas gehabt?«

Der Mann antwortete zögernd:

»So etwas? Ich glaube nicht. Aber als Kind hat sie in der Dämmerung Gestalten gesehen, und über manche Stellen mitten im Weg oder im Garten wollte sie nie gehen. ›Da liegt einer begraben‹, hat sie gesagt. Und manchmal, als sie gerade verheiratet war, hat sich ihr Gesicht plötzlich so verändert – ihre Augen haben eine ganz andere Farbe gehabt – der Mund war ganz anders – dass es einem Angst werden konnte. Dass man geglaubt hat, jemand ganz anderen vor sich zu haben. 62

Na ja. Es gibt allerhand Sachen in der Welt. Und jetzt gib mir meinen Schuh, Christoph. Ich muss morgen früh wieder in die Grube, und wenn ein ganzes römisches Regiment anfängt zu reden.«

»Und was hat der Curé gesagt?« fragte Christoph.

»Was hat er gesagt? Die Achsel gezuckt hat er und gemeint, das wär ein kurioser Boden mit kuriosen Menschen.«

Am Nachmittag kam der eigene Pfarrer, um sich zu erkundigen, ob er rasch ein Paar Schuhe gesohlt haben könne. Christoph erzählte ihm die gespenstische Geschichte.

Er lächelte und sagte:

»Das ist ungewöhnlich. Aber eigentlich ist es nicht seltsamer als das, was uns jeden Tag geschieht. Ich meine: Das Alltägliche ist das Unbegreiflichste, und das, was Ihr mir da erzählt, ist nur darum so aufregend, weil es so gar nicht alltäglich ist. Wenn man sich vor Augen halten wollte, was der Sonnenaufgang für ein tägliches Wunder ist, und das Wachsen und Abnehmen des Mondes und der Reigen der Gestirne und das Keimen eines Saatkornes und der Flug der Schneegänse im Herbst und im Frühling, wenn man sich das vor Augen halten wollte, dann kämen einem die sogenannten wunderbaren Dinge viel weniger wunderbar vor. Aber Ihr wollt trotzdem wissen, was ich von der Geschichte halte. Nun: Ich glaube nicht gerne an vagabundierende Geister. Es geht irgendwie gegen mein Sauberkeitsgefühl. Wenn wir eine unsterbliche Seele haben, welche Annahme trotz allem als recht begründet erscheint, dann wird sie nach dem irdischen Tod zurückkehren zu dem, der sie geschaffen hat. Wie es dann 63 weitergeht, weiss ich nicht. Aber, dass Gott sie nicht Unfug treiben lässt, scheint mir ziemlich sicher. Es gibt etwas, was man als gläubiger Mensch nicht in Zweifel ziehen kann; das ist die Grösse und Würde Gottes. Alles, was sich nicht dazu fügen will, wird man nicht annehmen müssen. Aber auf der anderen Seite gibt es Tatsachen, die man nur leugnen kann, wenn man stur oder dumm ist. So denke ich nicht daran, an dieser Berweiler Geschichte zu zweifeln, so seltsam sie auch sein mag. Ich überlege nur, wie die erklärt werden könnte, ohne dass wir in die Welt mehr Unordnung und Wirrnis hineintragen, als sie ertragen kann, da sie trotz allem doch Gottes Welt ist. Und da mein ich: jeder von uns trägt Jahrtausende, Jahrmillionen in sich. In jedes Adern fliesst das Blut von ungezählten Menschen vor ihm. Und ohne dass wir mit dem Blut noch einmal den schrecklichen Götzendienst beginnen wollten, der gerade ins Verderben geführt hat, muss man doch anerkennen, dass dieses Blut erfüllt ist von Erinnerungen, Ahnungen, Hoffnungen, Ängsten, Jubel und Trauer, Schrecken und Entzückungen all derer, in deren Adern es auch schon einmal lebendig gewesen ist. Und nun: Warum soll in all dem nicht irgendwann einmal der Funken des Bewusstseins, der Erinnerung aufglühen? Mit anderen Worten: In der Frau da von Berweiler ist vielleicht – soll ich sagen: wahrscheinlich – etwas von dem Blut, etwas von dem Geist und der Seele auch des erschlagenen Legionärs. Ein geheimnisvoller Zusammenhang besteht zwischen ihr und ihm, ein nicht geträumter, sondern ein ganz wirklicher Zusammenhang, ein Zusammenhang zwischen den 64 armseligen Knöchlein da drüben im Berweiler Kalkboden und dem Fleisch und Gebein dieser Frau da drüben über demselben Kalkboden, zwischen diesem armseligen zerstäubenden Gebein und ihrem warmen Leben. Glauben wir nicht an die Auferstehung des Staubes? Und muss das, was da einmal auferstehen soll, nicht immer mit dem Leben verbunden sein, mit dem Leben Gottes und dem Leben der Erde?


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