Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Am anderen Morgen regnete es, und Remigius dachte, der Regen würde die Besucher fernhalten. Sonst schien ja der Schäferkarren für die Welt da unten zu sein wie eine blühende Linde für die Bienen. Aber auch der Regen hielt die Bienen, will sagen, die Wespen, die Schmeissfliegen, die Schnaken und Brummer nicht ab. Ziemlich früh fuhr ein Wagen an und ein Mann mit einer Armbinde stieg aus.

»Sind Sie der Remigius Wolf?«

»Der bin ich. Aber Sie können ruhig guten Morgen sagen.«

»Fisimatenten. Im Dienst gibt es keinen guten Morgen. Sie müssen zur Vernehmung in die Stadt. Da ist etwas mit Gefangenenmisshandlung, und Sie sollen Zeuge sein.«

Das kam Remigius seltsam vor, da er während des ganzen Krieges nur in kurzem Urlaub daheim gewesen war und mit Gefangenen nie etwas zu tun gehabt hatte. Aber der Mann mit der Binde sagte, es habe schon seine Richtigkeit. Näheres wisse er selber nicht. Es eile, und in einer Stunde sei der Schäfer wieder zurück. Remigius war schon früher wieder zurück. Kurz vor dem Bergdorf bat er den Beamten für eine Minute zu halten, und dann sprang er in Riesenschritten auf das nächste Haus zu, wo einer seiner Freunde wohnte. Er sprach ihm von der Vorladung und davon, dass er Unrat wittere, und nach fünf Minuten hatten sie ein 189 halbes Dutzend knüppelbewehrter junger Burschen in dem Lieferwagen des Bäckers und rasten über Stock und Stein der Schafherde zu. Sie kamen gerade noch zur rechten Zeit. Ein grosser, geschlossener Lastwagen hielt in der Nähe der Herde, und drei Männer waren daran, die fettesten Tiere einzufangen. Sie überzeugten sich rasch davon, dass jene erst am Anfang ihrer Diebes- und Räuberarbeit waren, und dass ihr Wagen noch keine Beute barg. Dann sprangen sie mit ihren Knüppeln auf die Räuber los. Aber es waren gerissene Räuber. Zwei von ihnen lockten mit lautem Geschrei ihre Verfolger bis zum Waldrand, während der dritte einen Bogen schlug und zu seinem Wagen zurück stürmte, den er sogleich in ratternden Gang brachte. Jetzt sprangen sie auf den Wagen los, aber der war schon in Fahrt, und an einer Wegbiegung hatten ihn auch die beiden erreicht, von deren Verfolgung die Burschen abgelassen hatten. Die liefen nun zu ihrem eigenen Wagen zurück und überlegten, ob sie die Verfolgung aufnehmen sollten. Sie verzichteten darauf. Der Lastwagen war kräftiger und schneller als ihr fast zwanzig Jahre alter Renault. Der Raubzug war ja vereitelt worden. Das war die Hauptsache. »Es ist nur schade«, sagte einer, »dass wir keinen von den Halunken erkannt haben.« Aber Remigius hatte einen von ihnen erkannt. Es war sein Schwager. Er schwieg natürlich. Aber es kochte in ihm, und wenn er den Kerl jetzt in den Händen gehabt hätte, wäre es ihm schlecht genug ergangen.

Doch wichtiger als die Bestrafung der verhinderten Übeltäter war die Sorge für morgen und übermorgen und für all die Tage, die der richtige 190 Schäfer noch ausbleiben würde. Was einmal versucht worden war, würde wohl auch ein zweites und drittes Mal noch versucht werden. Wenn aber in der Nacht ein Wagen mit drei – vier Männern kam, wie sollte Remigius sich da wehren? Der Bauer des Nachbarhofes hatte einen leeren Stall, der früher einmal einer Schafherde gedient hatte. Es war ihm recht, dass die Herde zur Nacht dahin getrieben wurde. Ja, er sagte, es sei auch hohe Zeit, sonst würden die Tiere Schaden leiden. So zog denn Remigius, wenn es zu dunkeln begann, den Karren in den Bereich des Hofes. Wenn er aber nach der Deichsel griff, so war das für den Hund das Zeichen, auch die Herde in Bewegung zu setzen, und bevor es noch völlig Nacht geworden war, wusste er sie zwischen festen Mauern und hinter unüberwindlichen Eisentüren geborgen. Er wollte in seinem Karren übernachten. Aber der Bauer tat es nicht.

»Wir haben noch eine gute Kammer, die nicht gebraucht wird, seit der Grossvater tot ist. Und bis du wirklich ins Bett musst, sitzen wir zusammen und schwätzen. Hier oben ist es so einsam, dass man das gut gebrauchen kann.«

Nur am ersten Abend wurde nicht viel aus der Einsamkeit. Der Hund schlug an. Ein harter Schritt war auf den Steinen des Hofes zu hören. Der Bauer ging hinaus. Als er zurück kam, sagte er: »Remigius. Da ist einer, der dich sprechen will. Man kann doch wahrhaftig nirgends versteckt genug sein.« Nun, der eine war der Schwager des Remigius aus dem Tal.

»Du wirst mich doch nicht ins Unglück bringen«, sagte er, »ich bin nur durch eine ganz dumme 191 Geschichte in diese Hammelfahrt hineingeraten. Gestern hab ich noch nichts davon gewusst. Und das ist doch klar, wenn du mich da verpetzt, dann wird deine eigene Schwester am unglücklichsten. Ich hab mit ihr sowieso mehr Hudel, als du glauben wirst. Eine kranke Frau, das ist wie ein krankes Herz und wie eine kranke Leber und ein kranker Magen und ein gutes Dutzend andere kranke Dinge dazu. Und du musst doch sagen, dass ich zu deiner Schwester immer gut gewesen bin. So gut, wie ich konnte. Du lieber Gott, ich bin kein Engel. Na, du bist ja auch keiner. Es soll ja ganz lebhaft hier bei dir zugehen. Aber das ist egal. Du willst jedenfalls nicht, dass deine Schwester ins Unglück gerät, und darum wirst du das Maul halten. Nicht wahr, das wirst du?«

Remigius erwiderte:

»Ich weiss nicht, ob ich ihr nicht einen Gefallen täte, wenn ich sie von dir freimachte. Aber man soll deinen Kindern nicht sagen: Euer Vater sitzt.«

»Also jedenfalls bist du still. Und wann kommst du denn wieder heim? Deine Schwester verlangt nach dir und das kleine Trudel. Auf dem Werk ist auch wieder Arbeit für dich. Sieh, dass du nicht zu spät kommst.«

Sie hatten sich im Hof unterhalten. Jetzt rief der Bauer, sie sollten hereinkommen. »Habt Ihr denn keine Angst, so durch die Nacht zu laufen?« fragte die Bäuerin.

Der Mann lachte: »Vor wem soll ich denn Angst haben? Wenn einer an mich will, ich wehre mich schon. Ich habe Fäuste. Und Geister, pah, Geister.« 192

Da öffnete sich die Türe, und der uralte Knecht kam herein, jener, der nicht dagewesen war, als das Kalb zur Welt verlangte. Er hatte die letzten Worte gehört und sagte jetzt kichernd:

»Für manche Leute gibt es nur Schnaps. Aber sonst gibt es noch ein paar andere Sachen. Wie ich jung war, es war gleich nach dem siebziger Krieg, da haben wir zu drei oder vier keinen Gott und kein Gebot gehabt. Am Weihnachtsabend sitzen wir in der Wirtschaft vor dem Dorf, vor Merten, wisst Ihr. Wein trinken wir und spielen Karten und fluchen und klopfen auf den Tisch. Die Wirtin wär uns gern los an diesem Abend. Aber wir verzehren, und ihr Mann sagt ihr: ›Halt den Mund. Wirtschaft ist Wirtschaft!‹ Wir werden immer wilder, und einer sagt: ›Durch wird gemacht, und wer zuerst aufhört, den soll der Teufel holen!‹ Und wir schreien all zusammen: ›Den soll der Teufel holen!‹ Aber da, da sitzt mit einem Mal ein kalbsgrosser, schwarzer Hund unter dem Tisch, sodass man grad noch den Kopf sehen kann und die glutigen Augen. Zuerst lacht noch einer, aber dann wird es still. Wir spielen, aber die Hände zittern uns. Das Tier liegt ruhig da. Aber wenn einer nur ein bisschen auf dem Stuhl rutscht, fängt es an zu knurren wie ein Gewitter. Einer hat wirklich aufstehen gemusst, schon vor Angst hat er gemusst. Aber im gleichen Augenblick, wo er aufstand, da war der Hund vor ihm und legte ihm die Pratzen auf die Schulter und die gelben Zähne an den Hals. Da sitzt er denn wieder, und es ist ihm alles egal. Er spielt wieder Karten. Wir alle spielen Karten. Wir sagen so zitternd Karo an oder Schippenzehn oder was es war, wie andere 193 die Sterbelitanei beten. Es war ja auch so etwas wie eine Sterbelitanei für uns alle. Und so spielen wir und spielen und spielen. Der Schweiss läuft uns von der Stirn, und es wird kein anderes Wort gesagt als der Name von dem Spiel. Und es wird Mitternacht, und wir spielen immer noch. Da steht die Frau in der Türe, und dann ist sie draussen. Fast hat es ausgesehen, als wenn der Hund ihr nach wolle. Aber sie hatte ja nichts damit zu tun. Wir denken, sie hat sich gerettet. Sie hat es gut. Aber wir. Da geht nach einer halben Stunde die Tür wieder auf, und die Frau kommt zurück. Aber der Curé ist dabei. Und wenn es ein Mordshund ist, dann ist's auch ein Mordscuré. Breit und hoch wie die Tür. Er kommt herein und hat die Stola umgelegt. Wir haben nachher gehört, dass er aus der Mette fortgelaufen ist, um uns miserabeligen Kerlen zu helfen. Der setzt sich auf den Stuhl nieder, dass es kracht. ›Wer gibt?‹ fragte er. ›Ich spiel mit.‹ Und er klopft auf den Tisch, und er gewinnt. Und nach einer halben Stunde springt er auf: ›So, und jetzt hör ich auf, und alle hören auf.‹ Und er steht da und hat die Enden der Stola gepackt und ist noch mächtiger als vorher. Und da springt auch der Hund auf und heult wie, wie – nun ja, wie der Teufel, aber dem Curé springt er nicht an den Hals und keinem von uns, sondern durchs Fenster springt er, dass die Fensterrahmen mit allen Scheiben und dass die Bäume draussen splittern.«

Remigius wollte zwar scheinen, er habe die Geschichte schon im Kalender für das christliche Landvolk Lothringens gesehen, ein paar Sätze 194 daraus wenigstens. Aber sie behagte ihm sehr, und es freute ihn zu sehen, wie sein grossmächtiger Schwager, der ja noch durch die Nacht musste, ein bisschen blass darüber wurde. Er blinzelte dem Knecht zu, er solle ruhig noch ein bisschen weitererzählen. Aber der war müde von der einen Geschichte. Er murmelte nur noch vor sich hin: »und der Gestank, der Gestank!« – Und dann nach einer Pause:

»Ah, und das hat der Teufel doch noch fertiggebracht. Der gute Curé bekam von Metz eins drauf, weil er in der Weihnachtsnacht Karten gespielt hat. Ha, die wissen auch nicht alles in Metz, und wenn sie auch violette Unterhosen haben. Und nach Puzieux haben sie ihn versetzt. Aber ihm war's egal. Er hatte da unten zweihundert Pfarrkinder und zweihundert Mirabellenbäume. Da konnte er ja wohl für jeden Ärger, den sie ihm machten, einen Schnaps trinken. Wir vier sind einmal bei ihm gewesen, um ihm zu danken. Da hat er ihn auch nicht geschont.« Der Bauer verstand den Wink, und sie tranken noch ein Glas. Aber dann musste der Mann in die Nacht, ob er wollte oder nicht. Er hatte an diesem Tag schon die Schicht versäumt um des missglückten Abenteuers halber. Am anderen Morgen um fünf gab es um so weniger eine Ausflucht. »Du gehst noch ein paar Schritte mit, bis ich wieder ganz auf dem Weg bin?« fragte er Remigius, und Remigius nickte. Vor der Tür fuhr sie sogleich ein scharfer Wind an, und der Gedanke, dass der Schwager in diesem scharfen Wind und in der Dunkelheit, aufgeregt auch noch von der scharfen Geschichte, den weiten Weg machen müsse, stimmte 195 Remigius milder, als er zu Beginn gewesen war, »Also, ich schweige«, sagte er. »Mach nur so Geschichten nicht noch einmal. Es geht keine zweimal gut. Halt dich an mir fest. Hier kommt ein Graben. So. Ich geh doch lieber noch mit, bis du den Talweg hast. Ich bin dann ruhiger.« Der andere stiess ihn in die Seite:

»Du bist doch ein tadelloser Kerl, Remi. Komm doch wieder herunter. Wie gesagt. Sie verlangen alle nach dir, und wir werden uns schon vertragen. Und sieh einmal: Wenn wir wirklich von der Herde ein paar Tiere bekommen hätten, wem gehört sie denn? Dem Meikes Toni, der noch ein paar andere gehen hat. Der vergönnt seinem eigenen Vater, der pensionierter Bergmann in Delme ist, keinen Bissen, und als ich mit deiner Schwester ging, in der ersten Zeit grad, da hat er ihr hundert Mark geboten, wenn sie . . . Na ja, du verstehst schon. So ein Hund ist das. Hätt ich ihm damals nur die Zähne ausgeschlagen. Dann könnt er jetzt nicht mehr beissen, wozu er immer noch sehr viel Appetit hat.«

Remigius lachte ein bisschen:

»Zwischen Zähneeinschlagen und Hämmelstehlen ist ja nun doch ein grosser Unterschied. Wenn du ihm wirklich die Zähne eingeschlagen hättest, wär aus dir vielleicht ein ganz anderer Kerl geworden. Vielleicht sogar noch aus ihm. Aber was waren das schon für traurige Burschen, mit denen du das Ding drehen wolltest? Sicher um kein Haar besser als der Meikes und um einen Kopf dümmer. Sonst hätten sie selber Herden und brauchten keine zu klauen.«

»Wirklich! Ich glaub, durch Zähneeinschlagen 196 kann man die Welt ändern. Aber nicht durch Hammeldiebstahl.«

Als Remigius zurückkam, wartete der alte Knecht noch auf ihn. Er packte ihn am Kopf und sagte kichernd:

»Kalender für das christliche Landvolk Lothringens. Jahrgang 1869. Erzählt von Bastian Meyer. Hehe! Aber dem da musste es ein bischen frischer serviert werden. Gell?«

Am anderen Tag gegen Mittag kam der Schäfer zurück. Seine Schwester in Mattaincourt war gestorben und begraben. Aber er hatte bei ihr sein können, als sie starb, und er hatte ihr erzählen müssen, wie ihrer beider Mutter gestorben war.

»Weisst du, meine Mutter liebte die Blumen, die Geranien und die Fuchsien und alles, was man sich so in den Fenstern ziehen kann, und sie liebte – du kannst ruhig lachen – eine ordentlich geräuscherte Saucisse de Lorraine aus gutem, fetten Fleisch und mit Chalotten und siebenerlei Gewürz. Und als sie ans Sterben kam, da liess sie sich den schönsten Geranienstock ans Bett bringen und sah und roch und dann ein Stück Saucisse und ein Stück Weissbrot und biss in beides hinein, biss nur grad so hinein, und dann hat sie sich zurückgelegt und hat gesagt: ›Das war gut. Das war immer gut. Viel war gut. Aber es war ein bisschen, und jetzt kommt alles.‹ Und dann ist sie gestorben. – Das alles hab ich meiner Schwester erzählt. Da hat sie in allen Schmerzen ein bisschen gelacht und geschaut, ob Blumen blühten. Es blühten aber keine, und dann hat sie sich einen Schluck Jussy geben lassen und hat ein klein wenig mit der Zunge geschnalzt, ehe sie gestorben 197 ist. Weisst du, sonst war natürlich alles in Ordnung. Beichte, Kommunion, letzte Ölung. Das gehört zu unserem Leben wie alles. Aber das hier. Das war noch etwas besonderes. Weisst du, die Mutter Kirche, die hat brav und besorgt alles Grosse und Wichtige und Genaue und Ordentliche getan, und dann ist der liebe Gott selber noch dazu gekommen, noch anders, noch näher, als er vorher schon da war, hat gewissermassen Rochett und Stola abgelegt und ganz leise gelächelt, was sagen sollte: ›Keine Angst, du Dummes. Das geht wie ein kranker Zahn. Eins, zwei. Da ist er draussen, und dann ist es ein neues Leben!‹«

So erzählte der Schäfer, und Remigius sah mit Staunen, wie heiter er war.

»Sterbt ihr denn alle so?« fragte er, und der Schäfer erwiderte:

»Meine Mutter, meine Schwester. Mein Vater ist in Marseille ertrunken, und wir wissen nicht, wie es war. Ich selber, ich möchte die Schafe um mich haben. Dann wird es gehen.«

Remigius fragte weiter:

»Kennt Ihr eigentlich den Mann näher, dem die Herde gehört?«

Der Schäfer sagte:

»Ich kann mir schon denken, dass einer über ihn erzählt hat. Ich könnte sagen, was liegt viel an ihm. Aber ich habe ein bisschen verlernt, so zu sprechen. Weisst du, die Schafe sind fromme Tiere, und wenn sie's könnten, würden sie für ihn beten. So tu ich's an ihrer Stelle.

Ich weiss, ich weiss, er ist ein ekelhafter Kerl. Aber die ekelhaften Kerle haben am nötigsten, dass man für sie betet.« 198

Damit ging er lächelnd davon, um nach der Herde zu schauen, die ihn fröhlich umsprang, als wenn mit ihm der Frühling gekommen wäre.

Remigius sollte diesen Tag noch auf dem Hof bleiben. Er hatte einen Teil seiner Nöte und Aengste mit ertragen, und vielleicht hätten sie ihn auch sowieso gern gehabt. Nachher musste er wohl ins Tal zurückkehren. Es blieb nichts anderes übrig. Der Schäferkarren war ihm nicht bestimmt, und es gab wohl nur noch wenige Menschen, denen er bestimmt sein konnte. Er hatte nichts gewonnen mit seiner Flucht. Oder doch vielleicht?

Plötzlich stand wieder das Gesicht der jungen Céline aus dem Lothringer Land vor seiner Seele. Das war doch ein Gewinn, dieses klare, gute Gesicht, das noch auf die Liebe wartete und das ihr eine klare und gute Antwort geben würde, wenn sie käme. Dieses Gesicht war ein Gewinn und alles Gute und Tiefe und Unverdorbene des Landes, aus dem dieses Gesicht geworden war. Denn auch ein Gesicht wird aus grossen und geheimnisvollen Zusammenhängen.

Er wurde bewegt beim Gedanken an dieses Mädchengesicht. Ein Körper konnte etwas sein, wie eine Frucht, süsser, quellender Saft der Erde. Aber ein Gesicht, ein Gesicht! Das waren alle grossen geheimnisvollen Gestirne des Himmels. Da war der Wind der Ewigkeit und das Licht Gottes. Das war! Ach – – du grosser Träumer Remigius. Sind das Gedanken für einen heimgekehrten Soldaten, einen noch nicht wieder eingestellten Dreher, einen schon wieder heimgeschickten Schäfer? Du bist doch kein Dichter. Remigius? In deinem Leben wird dir kein Sonnett gelingen. 199 Wenn du vielleicht wissen solltest was das ist. Im übrigen pass auf, dass du nicht totgefahren wirst. Da ist ein Wagen.

Das war ein Wagen.

Céline, das Mädchen aus Tromborn entstieg ihm und ein amerikanischer Soldat. Er war ein junger Mensch, gross und strahlend, und er schüttelte Remigius die Hand, noch ehe das Mädchen sagen konnte: Das ist Ronald, und das ist der Schäfer.

Er war bei dem Regiment gewesen, das von Bolchen her sich der Saar näherte. In Tromborn war er leicht verwundet worden, gerade vor dem Haus Célinens und Céline hatte ihn verbunden. Er hatte sie nicht vergessen, und jetzt wollte er sie heiraten.

»Oh ja, ich will« lachte er übers ganze, braune Gesicht und über alle weissen Zähne. Sie aber fragte:

»Und was meint Ihr dazu, Schäfer?«

Der Amerikaner lachte dazu wie zu einem unsinnigen Scherz. Aber Remigius wusste plötzlich, dass diese Frage ganz ernst gemeint war, und er erschrak darüber. Er schwieg. Sie wiederholte: »Was meint Ihr dazu?« Da sagte er: »Bisschen weit weg, Amerika!«

Der Soldat lachte wieder und schlug Remigius auf die Schulter wie einem guten Kameraden. Er wollte den Bauer sehen. Er hatte ein paar Tage auf dem Hof gelegen, und sie hatten ihm zu essen gegeben, wenn er seine Konservendosen leid war. Jetzt hatte er die Taschen voller Zigaretten und Schokolade und stapfte vergnügt auf das Haus los. Remigius blieb mit dem Mädchen zurück. Es 200 fragte noch einmal: »Also, Ihr meint, es sei zu weit, Amerika?« Er lächelte: »Zu weit, das hab ich eigentlich nicht gesagt. Das kann ich auch nicht wissen. Ein bisschen weit, das ist es.«

Sie gab sich nicht zufrieden.

»Und Ihr an meiner Stelle?«

»Ich geh nicht nach Amerika. Ich bleib in diesem Land. Aber ich bin Remigius Wolf, und ich kann mich schlecht an die Stelle eines jungen Mädchens versetzen.«

»Ja, aber Ihr? Ich meine – wollt Ihr wohl, dass ich nach Amerika gehe?«

Remigius blickte sie an und sah, dass sie langsam errötete. Das Mädchen hatte begonnen, ihn zu lieben. Vielleicht schon bei der ersten Begegnung, vielleicht erst jetzt, wo sie neben der strahlenden, unbedenklichen Jugend des anderen seinen Ernst und seine Schwermut sah. Vielleicht spürte sie, dass er ein Sohn des Landes war, und sie liebte dieses Land in ihm. Er erschrak. Denn er wusste, welches Gewicht seine Worte haben mussten. Lange zögerte er, dann kamen seine Worte leise, aber bestimmt:

»Es wird mir leid tun, wenn Ihr so weit weg geht. Aber ich kann Euch nicht halten.«

»Nein?«

»Nein.«

Da wandte sie sich rasch und ging ins Haus, und er folgte ihr langsam. Er hörte sie lachen, als er eintrat, aber er hörte auch, dass dieses Lachen sie Mühe kostete. Die Bäuerin sagte: »Dann willst du wahrhaftig nach Amerika gehen, Céline?«

Und sie antwortete: »Er will es ja, der da!« und zeigte auf Ronald. 201


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