Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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In der Nacht war Remigius sehr traurig. Wenn Céline fortging, würde das Land etwas von seiner stillen, verhaltenen Heiterkeit verlieren. Es würde nicht mehr dasselbe Land sein und es würde den sanften Hügeln der heiligen Oranna nie mehr begegnen können, ohne diesen Verlust leidvoll zu spüren. Aber was hätte er tun sollen? Er konnte dieses Mädchen aus einer anderen Welt, das zudem soviel jünger war als er selber, nicht an sich binden.

Er hätte es gekonnt, wenn er sie geliebt hätte. Aber er liebte sie ja nicht. Er liebte dieses schöne, stille, geheimnisvolle Land in ihr. Dieses Land, das ihm lieb war wie seine eigene Seele. Mit jener anderen Liebe, die einen über Ströme und Gebirge hinwegreisst und durch Gewitter und Weltstürme hindurch, mit jener Liebe liebte er immer noch Beatrix. Er hatte ihr gesagt, er liebte sie noch, aber er habe sie nicht mehr gern. Aber jetzt, wo sie gestorben war, galt das nicht mehr. Es war nur noch ein grosses, warmes Gefühl, das von ihm zu ihr hinwogte, und er meinte fast zu spüren, dass es aus der Ewigkeit her zu ihm hinwogte, aus jener dunklen, unergründlichen Welt, an die uns der Tod eines geliebten Menschen so unlöslich bindet, jeder neue Tod fester und geheimnisvoller. Und trotzdem war er sehr traurig. Céline war die junge, helle Schwester, die er noch hätte haben wollen ausser der alternden, müden im Tal, wie lieb und gut sie auch war, und jetzt ging sie fort in ein sehr fremdes und fernes Land.

An diesem Abend sagte er dem Schäfer, er wolle noch einmal im Schäferkarren schlafen und der nickte. Er verstand das.

So wurde denn der Schäferkarren ein wenig aus 202 dem Bereich des Hofes herausgezogen, an den Rand eines der längst abgeernteten Felder, und Remigius richtete sich ein für die letzte Nacht. Er zündete die Laterne an, stopfte sich die Pfeife und griff dann wieder nach einem der Bände des Niedschiffs. Ich gestehe offen, ich würde von Herzen gerne noch einmal mit darin blättern. Ich bin in diesen Kalender verliebt, mehr als in mein eigenes Buch. Ich möchte noch so gerne ein paar schrullige oder unheimliche Geschichten darin lesen oder ein Dutzend treuherzige Verse. Und wenn ich jetzt gerade dem lesenden Mann über die Schulter schaue und die alten, gelben Seiten sehe, die vom Licht der Stallaterne matt beschienen sind, dann wächst meine Lust noch.

»Die Kräuter des lothringischen Landes und die Hexen.«

Ach was für eine zauberhafte Abendlektüre, und im Schäferkarren auch noch und ein bisschen am Rande der Welt, im Wehen des grossen einsamen Windes, mit Tierschreien aus dem Wald und ab und zu geheimnisvollem Pochen an die Holzwand des ausgesetzten Kämmerleins!

Aber der Leser hat nicht den Schäferkarren gekauft, um dann im Niedschiff zu lesen. Er ist nicht in jenes Landvehikel eingestiegen, um dann unversehens in ein Wasserfahrzeug gekippt zu werden, und vor allem hat der Schreiber keineswegs das Recht, seiner eigenen Belustigung nachzugehen, anstatt der Belehrung seiner Leser. Aber es ist ja ein Abschied, den wir begehen, und so möge denn dieser verstohlene und geniesserische Blick wenigstens über die Schulter des lesenden Remigius in Gnaden verziehen sein. 203

Er las noch eine Geschichte. Dann schlief er ein, und mit dieser einen, letzten Geschichte nehmen wir Abschied vom Niedschiff und bereiten auch schon fast den Abschied vom Schäferkarren vor.

Ein junger Mann in Villingen liebte sehr ein Mädchen aus Teterchen, und sie liebte ihn auch. Sie waren glücklich miteinander und in einem oder zwei Jahren hätten sie heiraten und ihrem Glück das Siegel der Dauer aufdrücken können. Es wurde schon an manches gedacht und manches vorbereitet. Allerhand weicher Flaum für das künftige Nest war schon zusammengetragen. Da verfiel das Mädchen einem anderen. Er war aus Metz, war städtisch gekleidet, trug eine goldene Uhrkette und liess die Silber- und auch die Goldstücke in seiner Tasche klingeln. Vor allem aber hatte er in seinem Wesen etwas Forsches und Behendes, er sprach auf eine leichtere, gefälligere, schmeichlerischere Weise als die Burschen auf dem Land, und dies am meisten zog das Mädchen in den Bann. –

Der Bursche aus Villingen war sehr unglücklich. Er schlief nicht und ass nicht, und wenn er hinter dem Pfluge ging, hielt er plötzlich die Pferde an und starrte fünf Minuten lang in die graue Herbstluft, worauf er unter ein paar Fluchworten die Arbeit fortsetzte.

Seine Mutter war eine kluge Frau. Sie erkannte seinen Kummer und überlegte, wie sie ihn heilen könne. Sie wusste wohl, dass es schwer ist, einen unglücklich Verliebten zu heilen, aber weil sie die Mutter war, glaubte sie nicht, dass es ihr zu schwer sei. Sie ging nach Teterchen und unterhielt sich 204 lange mit einem der Patres, bei dem sie immer beichtete. Er schüttelte den Kopf zu dem, was sie von ihren Plänen erzählte, und dann erzählte er ihr von einem eigenen.

Acht Tage darauf geschah folgendes:

Die Valliers in Villingen besassen in ihrem grossen, mauerumschlossenen Garten ein altes, freundliches Häuslein, in dem ihre Hühner, Gänse, Enten, Truthühner und Tauben daheim waren. Sie waren ein bisschen stolz auf diesen Pavillon, wie sie es nannten. So etwas gab es sonst nur in den Gärten der Herren, dann allerdings nicht für das Geflügel.

Dieser Pavillon nun brannte an einem Montagnachmittag, als Nicolas Vallier gerade nach Saarlouis hinunter geritten war, um einen Pferdehandel zu betreiben. Er brannte und er verbrannte, und als der junge Mann heimkam, sah er nur noch ein paar rauchende, stinkende Trümmer. Es war ihm leid, aber doch nicht allzu sehr. Aber dann sah er seine Mutter, die über ihren Schmerz garnicht Herr werden konnte. Sie weinte ohne Unterlass, klagte, wie der tote Vater gerade an diesem Pavillon gehangen habe, wie mit seinem Untergang ein letztes, liebes Stück Erinnerung an ihn verschwunden sei, und jammerte überhaupt, wie wenn da ein lieber Mensch habe dahingehen müssen. Er hörte sich das ein Weilchen an und sagte dann:

»Du lieber Gott, Mutter, das kann man ja auch wieder aufbauen.«

Und am folgenden Tag gab er sich daran. Er räumte die Ruinen ab, säuberte das Gelände von allen Spuren des Untergangs, besorgte Steine, 205 Kalk, Sand, Balken und Bretter und begann dann an einem sonnigen Septembertag zu bauen. Die Arbeit aber, so schwer sie ihm zuerst ankam, verwandelte ihn von Tag zu Tag. Bald war er nicht anders als pfeifend und singend an ihrer Stätte zu sehen, und als eines Tages das Mädchen, das er geliebt hatte, mit dem Metzer Galan auf einem geputzten Kutschwagen vorbeigefahren kam, da gab es ihm zwar einen Stich durchs Herz, aber er hörte nicht auf zu pfeifen, und in der Nacht danach lag es ihm nicht mehr so schwer auf der Brust wie so lange vorher.

Man muss etwas tun, wenn man Kummer hat, dann erwürgt er einen nicht.

Man muss arbeiten, wenn man traurig ist, dann packt einen nicht die Verzweiflung.

Dies also war die letzte Geschichte, die Remigius im Niedschiff las, und sie tat ihm wunderbar wohl. Etwas tun, arbeiten, und darüber wieder lernen zu singen und zu pfeifen, das würde ihm gegeben sein, morgen und übermorgen, und noch zehn und zwanzig und viel mehr Jahre. In diesem tröstlichen Gedanken hüllte er sich warm in die Felldecke ein und schlief bald. Er wurde wach von einem seltsamen Rumpeln, vielleicht auch von dem Gefühl des Bewegtwerdens. Er rieb sich die Augen und wurde sich sogleich darüber klar, dass der Schäferkarren fortgezogen wurde, irgendwo ins Tal hinunter. Er überlegte, was er tun solle, und entschloss sich gleich, in dem rumpelnden, offenbar gestohlenen Gefährt zu bleiben, um zu sehen, was aus dem Abenteuer würde.

Nun, es dauerte an die zwei Stunden, bis die Fahrt zu Ende war. Dann hielt der Karren 206 plötzlich an, das Rumpeln verstummte, die Türe wurde aufgerissen und im Schein flackernder und rasch verglimmender Streichhölzer versuchten die Entführer zu ergründen, was ihre Beute wohl im Bauche berge. Der Wind war gross in der Nacht, und ehe sie noch sehen konnten, dass ihnen da wirklich eine Ueberraschung bereitet war, hatte Remigius die Laterne entzündet und hielt ihr helles Licht den masslos Erstaunten und Erschrockenen entgegen. Sie wollten sich schon auf ihn stürzen, da rief er sie mit Namen: »Peter, Heinrich, Nickel!« rief er. »Was macht ihr denn, was wollt ihr denn mit einem Schäferkarren?« Sie erkannten seine Stimme, sahen in dem flackernden Schimmer wohl auch etwas von seinem Gesicht und liessen die Arme sinken. Es waren Burschen aus einem Nachbardorf, die alle drei eine Zeitlang mit ihm zusammen Soldat gewesen waren.

Sie konnten ihm nicht recht sagen, was sie wollten. Es hatte ihnen einer von dem Karren erzählt, und davon, dass er allerhand Essen und Trinken in sich berge, Speckseiten und Schnapsflaschen und warme Decken, und wer weiss, was noch alles, und sie waren wild auf Essen und Trinken, auf warme Decken und auf ein Abenteuer. Er fragte, wer sie auf den Geschmack des Abenteuers gebracht habe, und als sie keine Antwort gaben, sagte er ihnen vor den Kopf, dass es sein Schwager gewesen sei. »Und dieses Abenteuer, das ist nun nichts. Das müsst Ihr Euch verkneifen. Man stiehlt keinen Schäferkarren und erst recht keinen, in dem ich liege und schlafe. Morgen ehe es Tag wird, bringt Ihr ihn zurück. 207 Dann soll es Euch durchgehen. Mein Gott, die Welt ist ja so verrückt, dass viel schlimmere Dinge in ihr begangen werden. Nur die, die man hindern kann, soll man hindern.« Sie nickten schwerfällig, und dann nahmen sie ihn mit in den Kellerraum, in dem zwei von ihnen mit ihren Frauen, drei Kindern und noch einer alten Frau hausten.

»Siehst du«, sagte einer von ihnen, »wir hätten gut ein bisschen mehr Platz brauchen können.« Zerrissene Matratzen waren auf der Erde ausgebreitet, und die Frauen und Kinder lagen schlafend darauf. Ein rostiger Herd, ein zusammengehauener Tisch und rohe Stühle waren alles, was es sonst noch gab. Die wenigen Kleider hingen an Nägeln. Das bisschen Wäsche lag in Schachteln in den Ecken. Zwei schwarze Brote sah man auf dem Tisch und ein paar Töpfe und Teller standen um sie herum. »Du siehst, Remi«, sagte der Mann wieder, »wir sind keine sehr wilden Räuber, und keine, die schon sehr viel Uebung haben, sonst hätten wir die Karre noch irgendwo mit Kartoffeln gefüllt. Und jetzt stopf dir die Pfeife, das ist alles, was wir für dich tun können.«

Remigius sass lange mit ihnen zusammen, ohne dass die Kinder oder eine von den Frauen aufwachten. Sie waren es alle schon eine ganze Weile gewohnt, dass sie im Schein qualmigen Petroleumlichtes und im Schwall langer Männerreden zu schlafen hatten.

Sie sprachen nicht mehr viel von dem Karrenraub. Mein Gott, das war ein missglücktes Unternehmen, wie es im Krieg so viele gegeben hatte, ein Rückfall ins Abenteuer, dem man so lange 208 Jahre mit Haut und Haaren verfallen gewesen war, sonst nichts.

Man sprach von der Welt im Ganzen und dass sie unter aller Sau wäre. Einer hatte wahrhaftig einmal ein paar verrückte Verse gelesen, die lauteten: »Das Beste, um diese Welt erfreulicher zu gestalten, wäre, sie fünf Minuten unter Wasser zu halten.« Aber die anderen waren für viel heftigere Untergangsformen. Einen Kasten Dynamit unter diesen Schweinestall! Ein paar Atombomben darauf. »Als unsere Frauen jung waren, haben wir in den Dreck gemusst, und jetzt können wir sie nicht einmal wieder satt und glatt füttern. Und wir selber, was sind wir für hungrige Gestalten geworden! In diesem Leben wird nichts mehr aus uns. Das ist sicher, soll es doch gleich zum Teufel gehen!«

So tobten und lästerten sie eine ganze Weile, und es war Remigius seltsam dabei zumut. Vor ein paar Wochen hätte er gewiss noch mitgehalten und gelästert wie sie. Aber jetzt konnte er es nicht mehr. In seinem Blut und seinem Hirn war die Kühle und der freie Wind von da oben. In ihm war etwas, was er selber nicht recht benennen konnte, etwas Mächtiges, das ihn in Bann hielt und zurückhielt, ihm den Mund verschloss und ihm das Herz kühler hielt in dem Brand der anderen. Wie gesagt; er konnte es nicht benennen. Aber es war Abstand, Abstand gewonnen auf der Höhe, im Schäferkarren, zwischen den Tieren, zwischen den Hirten und Bauern des stillen Landes. Ein ganz kleines, demütiges Quentlein von dem Ruch und der Ruhe der Ewigkeit war in sein Wesen gekommen. Es war so. Er spürte es, und darum konnte er alles, was ihn da umbrodelte und was weiss Gott wichtig 209 genug war, doch nicht so abgründig wichtig nehmen, wie es die anderen taten. Es ist etwas anderes, ob man einen grossen Streit mitten in der dumpfigen Stube erlebt, von Alkoholdünsten noch umweht und durchtränkt, oder ob man im Garten steht, von den Herbstwinden umweht, von ihnen durchkühlt und wunderbar nüchtern geworden, und dann davon hört. Man mag dann noch so sehr davon berührt werden, man wird doch nicht ganz hineingezogen, man bleibt ein bisschen ausserhalb, ein bisschen darüber. Man sieht die Streitgründe, aber man wird nicht von ihrem Gift angesteckt. So also war es mit Remigius. Die Sterne zogen weiter ihren Reigen über der Erde, die immer noch unzerstört war und trotz allem Gerede von dem Wahnsinn der Menschen wahrscheinlich auch nicht zu zerstören war, die Wolken trieben in ihrer Bahn, wie sie seit je getan, und die Winde wehten und brausten, und die Schafe lebten ihr Leben, wurden zueinander getrieben, so dass ihr Blut zusammenfloss, dass neue Tiere geboren wurden, heranwuchsen, wieder dem anderen Geschlecht begegneten, und weiter und weiter – und die Menschen, die mit den Sternen und Wolken und Winden und Schafen zu tun hatten, mussten auch das Unglück und die Armut ruhiger ertragen, als die anderen. Er sagte: »Aber Ihr habt doch auch schon ein paar gute Stunden mit den Kindern gehabt, oder nicht? Im September mit ihnen an der Saar sitzen zwischen dem hohen Rainfarn und was sonst da wächst, und ihnen dies und das zeigen, das ist doch schön, oder nicht?« Sie brummten etwas vor sich hin, und einer erwiderte: 210

»Sich mit ihnen zusammen einmal dick sattessen, das wäre auch ganz schön, oder nicht? Und wann wird das sein? Oder jetzt nach diesem Quatsch einen Schnaps trinken, dass man warm wird und ein bisschen leichter im Kopf und im Bauch, das wäre auch ganz schön, oder nicht?«

Da lachte Remigius, ging hinaus zum Karren und brachte den Rest von lothringischem Mirabellenschnaps, den er da noch verwahrt hatte. Er liess die Flasche rund gehen, denn es gab keine Gläser in dem Keller. Sie wurden vergnügt, die beiden Räuber, von der ungewohnten Stärkung. Als die alte Frau – sie war die Mutter des einen – sich erwachend rekelte, bot ihr Sohn auch ihr die Flasche. Sie nahm ein sparsames Schlücklein, setzte sich dann in ihren Decken auf, betrachtete den nächtlichen Gast und sagte:

»Habt Ihr den gefangen, um ihn zu schlachten?«

Sie lachten alle zusammen, aber sie fuhr fort:

»Er ist ja noch ein bisschen mager, und wir können ihn nicht fett füttern. Bis es soweit wär, sind auch unsere Kaninchen fett, und dann würd uns doch der Appetit an ihm vergehen. Aber früher, da hätt es ihm wahrhaftig passieren können.«

Und dann erzählte sie von dem Menschenfresser aus dem Dreissigjährigen Krieg, der eine ferne Muhme von ihr wahrhaftig totgeschlagen und viertels verzehrt hatte, ehe man ihm dahinterkam, ihn selber hängte und die erbarmungswürdigen Ueberreste der Frau zur Erde bestattete. »Es leben noch ein paar von der Familie«, sagte sie, »und wenn ich an einem von ihnen vorbeigeh, dann schüttelt es mich immer noch, nach all den dreihundert Jahren.« 211

Remigius wunderte sich, dass sie das mit den dreihundert Jahren so gut wusste und sagte etwas darüber. Sie lachte ein bisschen und seufzte ein bisschen:

»Mein Gott! Das haben wir doch im Kloster in Busendorf gut genug gelernt.« Das arme alte Weiblein war wahrhaftig in Busendorf in Lothringen im Pensionat gewesen und wusste nicht nur, wann der Dreissigjährige Krieg gewesen war.

»Seid Ihr auch von da drüben?« fragte Remigius.

»Ja, ich bin von da drüben. Aber seit ich meinen Jacques geheiratet hab, vor vierzig Jahren, wollen sie nichts mehr von mir wissen. Er war nur ein kleiner Tagelöhner, und unsere da drüben, die haben grosse Rosinen im Kopf.«

Remigius fragte über »die da drüben«, und dann erwies es sich, dass die Frau aus Tromborn, die vornehme und wohlhabende Frau, eine jüngere Schwester der Ruinenbewohnerin war.

Er zog eine Zeitlang schweigend an seiner Pfeife. Dann flötete er vor sich hin, als wenn er sehr vergnügt wäre und über einen ausgelassenen Plan nachdenke. Er tat es. Er dachte nach, und schliesslich kam er damit heraus.

»Da haben wir – und damit blinzelte er den Karrenräubern zu –, da haben wir gerade ein wunderbares Gefährt, um Euch einmal rasch und billig auf die andere Seite zu bringen. Eure Schwester wird sich freuen. Ein bisschen Butter und ein bisschen Speck und ein Dutzend Eier und eine Kanne Milch für die Kinder, das wird sicher auch abfallen, und eine Wagenfahrt habt Ihr doch lang nicht mehr gemacht. Zieht Euch an. Wir drei machen den Wagen fertig inzwischen.« 212

Sie wehrte sich. Die jungen Frauen, die allmählich auch wach geworden waren, wehrten sich mit. Die Kinder plärrten dazwischen. Aber es half alles nichts. Nach einer Viertelstunde sass oder lag die alte Frau im Schäferkarren, wohleingehüllt in die wärmende Felldecke, und die drei Männer zogen ihn aus dem Tal heraus der Höhe zu, von der sie vor einer Stunde erst mit ihm heruntergekommen waren. Sie sprachen nicht viel. Sie brauchten ihre Kraft zum Ziehen, und ins Schwitzen gerieten sie auch. Als sie nach manchem Stöhnen und nach manchem erschöpften Innehalten wieder an dem Hof waren, in dem alles noch friedlich schlief, bis auf ein paar Kühe etwa, die schon ungeduldig muhten, und einen krähenden Hahn, da hoben sie die alte Frau heraus, die steif und durchgeschüttelt war. Die beiden Männer sollten sogleich zurückkehren: »Es ist besser für Euch. Es braucht keiner von Eurem Abenteuer zu wissen. Die Grossmutter bring ich schon wieder heil zurück. Es schlachtet sie keiner da drüben. Sie haben genug zu essen, und an so einer mageren hätten sie auch nicht viel.«

Er machte sich mit ihr auf den Weg. Sie hing sich schüchtern in seinen Arm, und er hätte glauben können, mit seiner Mutter daherzugehen, einer Roratemesse entgegen oder auf einer frühmorgendlichen Wallfahrt. Nur, dass von den Kleidern seiner guten Mutter allzeit ein leises Lavendeldüftlein aufgestiegen war, während ihn hier ein bitterer Ruch von Keller und Brand und Ruinen anwehte. Sie gingen langsam. Es war ja eine alte und ausgehungerte Frau, die den Weg machen musste. Sie schwiegen lange. Dann aber 213 sagte sie: »Jetzt geh ich da am Arm eines jungen Mannes, wie ich vor vierzig Jahren mit meiner Schwester gegangen bin, genau denselben Weg. Einmal haben am Wald da drüben Zigeuner gelegen. Wir hatten Angst und waren doch neugierig. Wir waren sehr neugierig, und so standen wir mit einem Mal an dem Feuer, um das sie lagerten. Eine alte Frau, die wie eine Hexe aussah, nahm meine Hand, obwohl ich mich wehrte, und sagte mir – ich hab es nie vergessen:

›Kurze Liebe, langes Leid. Viel Blut, viel Feuer, und einmal musst du im Keller wohnen.‹

Wir haben so gelacht darüber, und wir hätten doch besser weinen sollen. Und dann bin ich einmal an einem Maientag mit meinem Bräutigam hierher gegangen. Der Wald war ganz grün, und die ersten Heckenrosen blühten. Es war so schön, dass ich meinte, das Herz blieb mir stehen. Aber es ist doch nicht stehen geblieben. Bei allem Schönen und bei allem Schrecklichen ist es nicht stehen geblieben, und wenn es doch einmal stehen bleibt, sicher nur, weil es ganz müd ist. Aber damals hab ich auch gedacht: das da, das dürfte nie vorübergehen. Das müsste immer bleiben, immer, immer, und jetzt spür ich, es ist nicht vorübergegangen, es ist geblieben. Ganz sicher; ich riech die Heckenrosen wieder, und ich seh den grünen Wald, und ich hör die Vögel singen, und ich hab meinen Jacques so lieb wie damals. Wenn er jetzt wieder neben mir ging, wär ich gar nicht verwundert, und wenn er nicht neben mir geht, so schwebt er über mir, und das Herz ist mir warm wie damals, ganz wie damals.« 214

Sie schwieg ein paar hundert Schritte und fuhr dann mit einer festeren, nüchternen Stimme fort:

»Entsetzt Euch nicht zu sehr, dass ein altes Weib so redet. Bedenkt, es ist der Weg, den ich zum erstenmal wieder gehe nach so langer Zeit, und dass ich die Schwester wiedersehen soll. Viele glauben, eine alte Frau, das ist doch kein Mensch mehr. Aber sie ist doch noch ein Mensch, und eigentlich hat sie noch gar nicht aufgehört, ein junges Mädchen zu sein.«

Damit zog sie ihren Mantel enger um sich und band sich ihr Wolltuch fester um den Kopf, als wenn sie sich jetzt ganz in sich versenken wollte und in die alte Zeit.

Als sie in das Dorf hineinkamen, das ihr Ziel war, läuteten eben die Glocken zum Rorateamt, und ohne, dass sie ein Wort gebraucht hätten, um sich darüber zu verständigen, strebten sie dem Kirchentor zu. Die Kirche war nur von dem ewigen Licht erhellt, und es gab in ihr erst ein halbes Dutzend alte Frauen und den Küster, der vor dem Altar hin und her schlürfte. Auch nachher füllte sie sich nicht allzusehr. Aber es war ohnehin nur eine kleine Kirche, in der man sich nicht verlieren konnte, in der man einander naheblieb und einander warm gab an Leib und Seele. Nach dem Evangelium wandte sich der Priester, der ein alter Mann war, um und sagte zu seinen Schäflein:

»Wir haben in dieser Zeit, die eine Zeit des Wartens ist, immer wieder über das Warten nachgedacht. Über das Warten der Welt, von der geschrieben steht, dass sie immer noch seufzt und in Geburtswehen liegt, über das Warten des 215 jüdischen Volkes, das die Antwort nicht verstand, die seinem Warten kam und das darum jetzt vergeblich wartet. Über das Warten der Urkirche, die in allen Martern ein paar schwere, dunkle Jahrtausende fröhlich für ein paar glückliche Wochen nahm und darum ihr ›Komm, o Herr!‹ so zuversichtlich betete, als wenn morgen oder doch übermorgen die Tür aufgehen und Er hereinkommen müsste. Und heute nun wollen wir nachdenken über das Warten unseres eigenen Herzens. Ich selber, ich warte darauf, Tag um Tag und Nacht um Nacht, dass der Sohn meiner jüngsten Schwester aus Russland zurückkehrt. Bei jedem Schritt, der sich meinem Haus nähert, hoffe ich darauf. So aber geht es noch dreien von euch in unserem kleinen Dorf und hunderten und tausenden landauf, landab. Und da drüben auf der anderen Seite, die eigentlich gar keine andere Seite ist, da warten viel mehr auf das Gleiche. Der Martin Roujet, den ihr alle kennt, der wartet auf das Sterben, und nachher wird er mich schon gleich wieder fragen: Monsieur Curé, ist es denn immer noch nicht so weit, und die Irene Bracher wartet seit zehn Tagen auf die Geburt ihres Kindes, und ihr Mann und ihre Mutter und die ganze Familie wartet mit. Der wartet darauf und die wartet darauf. Wir warten alle, und wir werden nie aufhören zu warten. Wenn die eine Erwartung in Erfüllung gegangen ist, tut sich eine neue auf. Wir müssen warten, wie wir atmen müssen. Wir können sonst nicht leben. Unsere Seele kann nicht leben. St. Augustin hat es geschrieben. Unruhig ist unser Herz. Das ist wahr, und das müssen wir tragen. Aber als Zeichen 216 auch, dass wir nicht vergebens warten, wird uns immer wieder das Fest geschenkt, dem wir jetzt entgegengehen. Darin geht unser Warten und Hoffen für eine kleine Frist selig zur Ruhe. Wenn es dann wieder aufflackert, dann weiss es um so sicherer, dass es doch der grossen und gültigen Erfüllung entgegengeht. Wer viel wartet und unter Tränen und Seufzern wartet, dem wird auch einmal viel entgegenkommen und ihm die ewige Freude Gottes ins Herz tragen. Arm sind die, die nicht mehr zu warten verstehn, die ersticken in ihrem Fett oder in ihrer Trauer. Es ist nicht so verschieden, wie einer meinen könnte. Wir, wir wollen warten. Ich warte auf meinen Neffen wie ihr auf eure Söhne und Brüder. Der Martin auf seinen Tod und die Irene auf die Geburt ihres Kindes. Wir wollen warten in Schmerzen und Tränen. Gott segne unser Warten in Zeit und Ewigkeit. Und so denn sei der Herr mit Euch.

Dominus vobiscum!«

Die Messe ging weiter, und Remigius folgte ihr wie seit langem nicht mehr. Es war ja auch eine Predigt gewesen, wie seit langem keine, ohne Salbung und ohne grosse Worte. Es hatte ihm geschienen, als wenn der weisshaarige Priester sich zuweilen eine Träne aus den Augen wische, und als er fertig war, hörte man, wie er laut seufzte.

Remigius hatte das manchmal da unten im Tal gewünscht, dass die Priester so predigten, so aus dem Herzen und dem erlittenen Leben heraus. Sie hätten dazwischen ruhig einmal eine Träne vergiessen und ruhig einmal seufzen können. Es wäre ihnen nichts von ihrer Würde und nichts von 217 ihrer Kraft verlorengegangen. Anstatt dessen standen sie wie fühllose Siebengestirne über der dunklen Erde oder gingen wie ein Augustgewitter über ihr nieder. Nachher waren ein paar Äste geknickt und ein paar Blumenbeete hinweggeschwemmt. Das war alles. Sie sollten alle predigen wie der alte Mann da. Aber konnte man denn verlangen, dass alles Gehölz Äpfel und Birnen trug? Gott hatte auch die Schlehenhecken erschaffen, und ehe sie ihre herben und bitteren Früchte trugen, blühten die doch acht oder vierzehn Tage.

Die beiden Schwestern hatten sich wohl während der Messe erspäht. In so einem Nest kann ja wohl kaum ein Fremder in der Kirche sein, ohne dass er erspäht und geprüft und verglichen und in irgend einer Ordnung untergebracht wird. Jedenfalls gab es, als die Messe zu Ende war, vor dem Kirchentor eine grosse und tränenreiche Begrüssung. Der alte Priester kam vorüber, wusste sogleich, was da geschah, begrüsste die beiden Frauen und sagte:

»Also ist wieder einmal ein Warten zu Ende gegangen. Ich hab da vorhin von dem vielen Warten, das in der Welt ist, nur dies und jenes genannt und nennen können. Aber es ist immer viel mehr unter einem und um einem, als man ahnt. Jetzt habt Ihr gerade begonnen, auf Eure Tochter zu warten, Madame, da macht der liebe Gott einem anderen langen Warten ein gutes Ende. A la bonne heure, ich bin sehr froh darüber.« Er lüftete sein Beret und ging seinem alten, verschlafenen Haus zu. Die beiden Frauen schritten dem ihren entgegen, Adèle, die immer 218 Daheimgebliebene, und Marguérite, die in die Fremde Verschlagene, und sie gingen so, als wenn sie all die langen Jahre nie aufgehört hätten, zusammen zu gehen und aus der Kirche heimzukommen. Erst an der Haustür erinnerten sie sich ihres Begleiters.

»Ha, den kenn ich doch«, sagte Adèle, und als dann ihre Erinnerung ganz deutlich wurde, fuhr sie fort: »Und die Céline ist fort, mit ihrem Amerikaner. Lange wollte sie ja nicht richtig, und dann hat sie sich doch plötzlich entschlossen. Junge Mädchen! Aber eigentlich hat sie nie zu denen gehört, die heut so sind und morgen so. Nein, das hat sie wirklich nicht.

Jetzt sind sie schon in einem Hafen da oben. Heut oder morgen müssen sie abfahren mit dem Schiff nach Amerika. Er ist plötzlich entlassen worden, und da musste sie mit, wenn sie überhaupt wollte. Ehe sie wegfuhr, hat sie noch ein paarmal von Euch gesprochen, und ich würd Euch sicher einmal wiedersehen, und dann solltet Ihr ein Paket guten Tabak haben, den sie aufbewahrte. Ihr bekommt ihn gleich.«

Das alte Haus nahm sie auf mit seiner Dämmerung erst, und dann mit Herdschein und Petroleumlicht, die zerstörten elektrischen Leitungen waren in diesem stillen Winkel des Landes noch nicht wiederhergestellt. Es nahm sie auf mit seinen vielfältigen Gerüchen, mit seinem Kaffee- und Apfelduft, dem des schwelenden Buchenholzes und mannigfacher Kräuter und Tinkturen, war es doch das Haus der »Tromborner Frau«, die mit all dem und viel anderem noch weit im Land umher die Schäden des Leibes und der Seele 219 heilte. Eine alte, mürrisch aussehende Magd hatte das Frühstück gerichtet, Kaffee und Milch standen auf dem Tisch, und Brot und Butter und Mirabellenconfiture und grosse, henkellose Schüsseln, aus denen man das Getränk zu löffeln haben würde. Es sass auch schon einer da, der löffelte und ass, ein mehr als dreissigjähriger Mann mit niederer Stirn, in die wirres, dunkles Haar hineinhing, und einem grossen Mund voll schadhafter Zähne, das von einem hilflosen Lächeln umspielt war. Als die drei eintraten, hob er den Blick von seiner Mahlzeit. Es war der Blick irrer, ängstlicher und zugleich dreister Augen. Es war der Sohn der Frau. Es war einer der Menschen, die von diesem sich selber treuen, in sich selbst gekehrten Stamm da und dort als unabwendbares Kreuz getragen werden.

Zuweilen ist ihre Blödheit mit Tiefsinn verbunden. Dann könnte es wohl scheinen, als wenn diese Blödheit nichts anderes wäre, als ein völlig mangelndes Verhältnis zur Zeit, ihr Tiefsinn hingegen ein unergründliches Erbe aus versunkener Vorzeit und aus der Weisheit der Druiden. François zeigte lange nichts von diesem geheimnisvollen Tiefsinn. Während die Frauen unter dem Essen unendliche Erinnerungen austauschten und sich mit unendlichen Fragen über den gegenwärtigen Stand ihres Lebens vergewisserten, während sie darüber reichliche Tränen vergossen und seufzten, kicherten und lachten wie junge Mädchen, während Remigius sich gemächlich mit Speise und Trank stärkte und ohne allzu grosse Neugier zuhörte, was da längst Vergangenes und brennend Gegenwärtiges beweint und belacht 220 wurde, sass er da und kaute und trank und trank und kaute, fuhr mit fiebriger Hand der Katze, die neben ihm auf der Bank lag, über das Fell, drehte ein paar Brotkügelchen, die er auf die glühende Ofenplatte warf, wo sie zischend und tanzend verbrannten, und lächelte im übrigen unentwegt vor sich hin, wobei das Lächeln auch dann noch um seinen kauenden Mund stehenblieb, wenn es in seinen Augen schon erloschen war. Aber ganz plötzlich hörte er auf zu kauen und zu lächeln, blickte Frau Marguérite an, die Tante, die er noch nie gesehen hatte, und sagte:

»Dich hab ich oft hier sitzen sehen. Aber du warst noch klein und hast geweint. Einmal wie du sehr traurig warst, hab ich dir einen Apfel hingehalten. Aber du konntest ihn nicht nehmen, und ich konnte ihn dir nicht in die Hand legen, und da hab ich auch geweint.«

Er sagte es in dem klagenden, fast plärrenden Ton eines kleinen Jungen. Aber niemand vermochte darüber zu lachen. Ja, über Marguérite kam es wie eine ganz zarte, fast verwehende Erinnerung. In einer der schwersten Stunden ihres Lebens war es ihr gewesen, als wenn in einer Art von Halbschlaf, von Halbtraum ein seltsamer junger Mann vor ihr stehe und ihr einen Apfel hinreiche, in dem sie sogleich einen der frühesten Äpfel ihres Heimatgartens erkannte. Der Duft davon wehte sie ordentlich an und tröstete sie. Aber Adèle sagte ihrem Sohn, als wenn sie ihm etwas Ungehöriges verweise:

»Nicht, François, nicht! Du musst nicht, das weisst du doch!«

Da plärrte er ganz richtig: 221

»Ich will aber sagen, was ich gesehen hab. Ihr wollt immer allein erzählen. Aber ich will auch. Ich weiss noch viel. Den da hab ich auch schon gesehen. – Er wies auf Remigius. – Neben Céline hat er gestanden. Sie wollte den Arm um ihn legen. Aber er hat nicht gewollt. Da ist sie mit dem Soldaten fortgegangen. Aber nicht so weit, wie Ihr meint, lang nicht so weit. François weiss es besser als Ihr.« Da nahm Adèle ihn am Arm und führte ihn aus dem Zimmer. Er wehrte sich nicht, aber er weinte wie ein kleines Kind.

Als sie zurückkam, sagte sie:

»Da hilft man den Leuten bis Busendorf und Bolchen und bis Varize und bis Metz und muss selber dieses Kreuz im Haus haben und kann nichts daran helfen und bessern.

Vielleicht muss es auch so sein, dass die, die helfen dürfen, selber um so mehr leiden müssen. – Der Mann tot, schon lange, die Tochter fort nach Amerika und der Junge – »

Remigius warf zögernd ein:

»Vielleicht ist die Céline garnicht nach Amerika. Was der François da 'gesagt hat, das klang so, so seltsam, als wenn er etwas Prophetisches sagte. Vielleicht, wer weiss – ?«

Da lachte die Frau:

»Aber nein, Ihr seid doch ein vernünftiger Mann. Wie könnt Ihr so etwas sagen? Man wird ja beinah an aller Welt irre. Es macht sich doch keiner auf nach Amerika und sagt Adieu für Jahre und vielleicht für immer und fährt dann doch nicht hin. Es verlobt sich doch keine mit einem so schönen und stolzen Mann, der da drüben eine Farm hat von tausend Morgen und lässt ihn dann 222 schwimmen. Das ist doch zu dumm. Das gibt es doch nicht. Nein, nein.«

Jetzt war sie nicht mehr die Frau, die von ihrem geheimnisvollen Wissen und Können weit über die anderen hinausgehoben wurde, die auch in diesem seltsamen Land noch etwas Seltsames bedeutete, sondern einfach die Mutter, die doch ein wenig stolz ist auf die gute Heirat der Tochter, die lothringer Bäuerin, die unter tausend Schmerzen einen grossen Abschied genommen hat und jetzt darüber gekränkt ist, dass das gar kein richtiger, grosser Abschied gewesen sein soll. »Nein, nein, das ist ja nicht möglich, so etwas kann ja gar nicht sein!«

Remigius grinste ein wenig in sich hinein, so wie er in seiner Schulzeit zuweilen vor seinem Lehrer Michel Kotter in sich hinein gegrinst hatte. Der war ein Muster jeder Weisheit und jeder menschlichen Würde. Jede Schwäche in seiner Schule und im Umkreis seines Lebens begegnete seinem völlig gutmütigen aber auch völlig unentrinnbaren Lächeln. Dabei hatte er selber eine Schwäche, der er niemals Herr werden konnte. Wenn in Sommer- und Herbsttagen einer seiner Schüler einen Apfel oder eine Birne aus der Tasche zog, deren Art und Herkunft und Rang und Güte er nicht genau kannte, dann konnte er so lange staunen und bewundern und pomologische Kenntnisse ausbreiten (er sagte dieses Fremdwort, welches auf Aepfel bezügliche Kenntnisse bedeutet, selber und so müssen. wir es schon nachsagen), bis er endlich einen Schnitz der roten oder gelben, der noch harten oder schon weichen, der saftigen oder kernigen Frucht auf sein 223 uraltes Messer gespiesst hatte und geniesserisch verspeiste. Sehr oft geschah es dann, dass ein Schnitz nicht genügte, um seinen Erkenntnisdrang zu stillen. Noch im Kauen konnte er dann ein paar Obstnamen vor sich hin sagen und wenn er drei nannte, bedeutete es noch drei Aepfel- oder Birnenschnitze, und wenn er vier oder fünf nannte, kostete es gewiss die ganze Frucht. Dabei ahnte der gute Magister nie, dass er nur dann in diesen Genuss geriet, wenn er ihm ausdrücklich zugedacht war und der Jakob oder Heinrich, oder Matthias, der dazu beitragen musste, wenigstens drei Birnen oder Aepfel im Hosensack trug. Was er dann opferte, opferte er dem Wohlbehagen der Klasse und der ganzen Schule, einem vergnügten Wochenanfang, oder der Abwendung irgendeiner drohenden Gefahr. Er ahnte es nie. Er vertilgte seine saftigen Obstschnitze von der Spitze seines Messers, mit dem er der Bildung halber auch tote Frösche zerlegte, wie einen Lebenstribut, der ihm ganz von selber zuwuchs, und schmatzte und schmalzte dabei, und wenn er fünf Minuten danach einem butterbrotkauenden Knaben zurief: »Richard, reiss den Mund nicht so auf beim Kauen. Manierlich muss man das machen«, dann grinsten sie eben alle. So wie auch wir grinsen, wenn unsere grossen Lebensmuster einen Riss zeigen. Und wie gesagt; auch Remigius grinste so, als die kluge und grosse Frau aus Tromborn, die von der Not und Angst und Wirrnis der anderen so viel verstand, hier selber der eigenen, wenn auch nicht Angst und Wirrnis, so doch Gebundenheit und Gewöhnung angehörte. Es ist nicht besonders edel, sich kleiner Menschlichkeiten zu 224 freuen, die im Gefolge der Grösse auftreten. Aber es ist menschlich, und es wird erst dann verächtlich und hassenswert, wenn es dazu dienen soll, die Grösse zu verkleinern oder gar zu bemakeln. Aber daran dachte Remigius nicht. Er hatte diese Frau, die den Aengsten der Menschen gebot, bewundert und er bewunderte sie weiter, würde sie immer bewundern. Nur jetzt, jetzt liebte er sie auch ein wenig, oder gar nicht einmal so wenig. Der Erzähler weiss, dass er hier ein paar Dutzend edler Leute gegen sich haben wird. Aber – offengestanden – es liegt ihm nicht sehr viel daran.

Sie gingen noch durch den grossen, nicht ganz mannshoch ummauerten Garten. – In die lothringischen Gärten darf man hineinblicken, aber man muss sich ein bisschen recken dazu. – Da und dort blühte noch eine sehr späte Rose und von Obst gab es nur noch die Mispeln, für die man den ersten Frost abwarten musste, um sie essen zu können. Remigius atmete tief den Duft dieser letzten Rosen und Früchte, des schon modernden Laubes und der da und dort schon aufgegrabenen Erde. Diese Erde war der da unten im Tal so verschwistert wie nur irgendeine, aber die da unten im Tal war anderthalb Jahrhunderte hindurch nach Schätzen durchwühlt worden, während man von dieser hier keine andere Schätze erwartete als jene, die sie bereitwillig aus ihrem überströmenden Reichtum spendete. Garten da oben auf der Höhe, im Dezember noch mit Blumen und Früchten und Gruben- oder Hüttenland da unten, wie weit seid ihr auseinander gewachsen? Ob ihr wohl einmal zusammenfindet? 225

Eine Stunde vielleicht vor Mittag sassen sie wieder in der Stube zusammen. Die mürrische Magd war daran, die Schränke und Kommoden abzustauben, wobei sie ohne Aufhören unverständliches Zeug vor sich hinbrummte. Da war ein schwerer Männerschritt zu hören. Es klopfte an die Tür. Monsieur le Curé kam. Remigius sah noch gerade, wie über das Gesicht der Magd das jähe Gewitter des Abscheus, ja des Hasses ging. Dann war sie auch schon abgewandten Hauptes durch die entgegengesetzte Türe entflohen.

»Leider gilt das nicht mir«, sagte der Pfarrer, »sondern, wie sie es selber ausdrückt – à mon patron, das heisst also dem lieben Gott. Sie ist schrecklich bös mit ihm, und sie muss es, ob sie will oder nicht, auf mich übertragen. Wissen Sie«, wandte er sich an die beiden Fremdlinge – »ihr Mann ist durchgebrannt und auch noch mit der Freundin, der sie Jahre hindurch Tag für Tag die Schwächen und Miserabligkeiten eben dieses Mannes gebeichtet hat. Das verzeiht sie dem lieben Gott nicht, obwohl es schon dreissig Jahre her ist.« »Ach, Monsieur Curé«, – unterbrach ihn Adèle, – »warum haben Sie mich vor zwanzig Jahren geheissen, diese Frau als Magd zu nehmen? Warum lassen Sie mich sie jetzt immer noch nicht fortschicken? Sie beleidigt Gott und beleidigt Sie, und ich ertrag es sehr schwer.«

»Ja, und das ist das Schlimmste«, sagte der Pfarrer, »dass Sie es schwer ertragen. Die Beleidigungen Gottes und seines kleinen Schafhirten könnten Sie am Ende Gott und diesem Schafhirten überlassen. Aber, aber. – Nein, ma chère Adèle, ich kann Ihnen nicht erlassen, sich mit ihr zu plagen. 226 Wohin auch sonst mit ihr? Was soll aus diesem engen Hirn werden, wenn es auch noch in ganz anderen Bahnen denken und sich mühen muss? Wisst Ihr, ganz unter uns, meine Guten; viel von der Bosheit, die uns plagt, ist im Grunde nur Dummheit, und Dummheit ist wie Schieläugigkeit. Die Schieläugigen können nichts dafür, dass sie schielen. Aber wie seid Ihr zwei nur zu uns heraufgekommen, so früh am Morgen noch? Ich schmecke Geschichten, wie andere einen Rehziemer oder eine Pastete schon im Hausgang schmecken. Hier ist eine Geschichte, und ich muss sie hören.«

Weil er sie aber hören musste, musste Remigius sie erzählen, die Geschichte von dem gestohlenen Schäferkarren, bei dessen Räubern man so eine brave, alte Räubermutter fand. Wie diese Räubermutter sich als Schwester der Tromborner Frau erwies und wie man sie in dem Karren genau so den Berg hinauftransportierte, wie man damit den Schäfer hinabtransportiert hatte.

Die beiden Frauen schlugen die Hände überm Kopf zusammen. Sie hatten von dem Raub des Karrens ja nichts gewusst. Aber Monsieur le Curé lachte so, dass er sich den mageren Bauch halten musste.

»Das ist doch eine Geschichte!« rief er, »das ist doch eine Geschichte, würdig, dass sie zwischen Saarlouis und Metz und zwischen Château-Salins und Luxemburg erzählt wird. Ich werde sie Monseigneur, dem Generalvikar erzählen. Er hat ein Faible für solche Geschichten. Vielleicht erbarmt er sich meiner dann und nimmt mich von euch schrecklichen Leuten fort« – er blinzelte zu Adèle hinüber, die aber solche Scherze 227 wohl schon kannte und nur wenig davon berührt wurde. Er würde schon nicht fortgehen, selbst wenn ihm Monseigneur die reiche und schöne Pfründe von Pré des cerisiers anböte. Adèle lud ihn zu Tisch ein, und er nahm gerne an. Als er sich gerade anschickte, die eiergelbe Suppe zu löffeln, die ein Ruhmestitel für die Küche Adèles war, kam seine Schwester, die noch nicht lange bei ihm war und sich noch nicht daran gewöhnt hatte, anders als französisch zu sprechen. »Ne prenez pas la soupe chez vous, Monsieur Curé?« fragte sie mit schüchterner Stimme und mit schüchternen Augen, und er antwortete lachend: »Paraît que non!« worauf sie sich so still wie sie gekommen war, entfernen wollte. Aber wie hätte Adèle das dulden können. Sie nötigte sie an den Tisch, schöpfte ihr von der guten Suppe und wehrte die Lobsprüche darüber bescheiden ab.

»Mademoiselle«, sagte sie, »ich war neulich in Metz, bei den Schwestern von St. Blandine, bei denen der Bischof jeden Monat einmal das Déjeuner nimmt. Er hat ihnen wahrhaftig gesagt: Mes soeurs! Es ist wunderbar bei Ihnen. Aber ich werde Ihnen demnächst noch ein paar Rezepte von Mademoiselle Cyprienne aus Tromborn mitbringen. Sie werden sehen, Sie werden sehen!« Mademoiselle Cyprienne schlug die Augen nieder. Sie war wirklich bescheiden, und dass die Nonnen von St. Blandine von ihr lernen sollten, fasste sie nicht. Aber sie ass mit um so grösserer Dankbarkeit und Hingabe die Suppe Adèles, bis sie plötzlich aufsprang.

»Oh, mes pois!« rief sie, mein Gott, die Erbsen!« Sie hatte sie auf dem Herd stehen lassen, und 228 wahrscheinlich waren sie nicht mehr zu retten. »Il faut payer dans ce monde. Man muss bezahlen auf dieser Welt«, sagte ihr Bruder.


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