Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Einmal am Nachmittag, die Kinder waren in der Schule, der Schwager noch nicht von der Arbeit zurück und die Schwester mit der Jüngsten im Dorf, da sass er wieder an seiner Schnitzarbeit. Er brauchte zu den stehenden noch ein paar liegende Schafe. Er freute sich so darüber, wie das Holz in seiner Hand lebendig wurde und redete, oder wenn es nicht redete, dann blökte und mähte es doch, dass er unversehens ins Lächeln geriet. Da klopfte es an die Türe und ehe er noch herein rufen konnte, stand ein junges Mädchen in der Küche. Sie war gekleidet wie die Frauen des Dorfes. Aber sie trug ihr bescheidenes Kleid auf eine gewähltere Weise, als es irgendeine andere vermocht hätte. Und ihr schwarzes Haar und die dunkelblauen Augen unter der weissen Stirn hoben sie vollends weit ab von all den hübschen oder weniger hübschen Mädchen oder Frauen des Dorfes. Sie lächelte ihm zart zu. Es war auch Spott in ihrem Lächeln und dann sagte sie mit tiefer, etwas rauher Stimme:

»Es gibt jetzt wohl so viele Mädchen, dass wir auch noch zu denen gehen müssen, die uns lieben.«

Er hatte nur zögernd von seiner Arbeit aufgeblickt und er war nicht aufgestanden, obwohl er sonst so höflich war, wie ein Mann seines Standes und über seinen Stand hinaus es nur sein 17 konnte. Sodann erhob er sich nur langsam und sagte:

»Zu denen, die uns lieben – habt ihr eigentlich alle vergessen, dass man von der Liebe nur in der Einzahl sprechen kann? Ich jedenfalls, ich habe so lange in der Mehrzahl gelebt, in einer Tausend-, in einer Millionenmehrzahl, dass ich in keine mehr hineinpasse. Ich nicht«.

Sie trat näher und ihre Stimme wurde leiser:

»Warum hast du dir alles über mich erzählen lassen? Du hättest mich einmal fragen müssen. So viel war ich immer noch wert.«

Remigius sah sie an, diesen Mund, den er vor Jahren geküsst, dieses Haar und diese schmalen Schultern, die er einmal gestreichelt hatte. Es tat immer noch weh, wenngleich er sich diese Schmerzen seit langem verwiesen hatte. Er sah sie also an. Sie war immer noch sehr schön. Wenn der Tisch nicht zwischen ihnen gewesen wäre, hätte er sie am Ende an sich gerissen und alles hätte von vorne begonnen. Ein Tisch ist nicht nur gut, um daran zu sitzen. Aber er zitterte, als er zu sprechen begann. Er sagte:

»Wer weiss noch, was einer wert ist? Ich bin fortgegangen, da hab' ich geglaubt, du wärest mehr wert als die ganze Welt. Als ich zurückkam, da wusste ich, dass die ganze Welt nicht sehr viel wert ist, aber du, du allein –.«

Sie war jetzt dicht am Tisch, sah mit einem seltsamen Lächeln die Figuren und fegte sie mit der Handbewegung eines ungeduldigen Kindes hinweg. Was sie nun sagte, das fiel wie dürres Laub von einem Herbstbaum von ihren Lippen:

»Nein, die Welt ist nicht viel wert und ich bin 18 auch nicht sehr viel wert. Meinst du, dass du selber so schrecklich viel wert bist? Ein kleiner Arbeiter. Nicht einmal. Ein Soldat, der noch nicht wieder hat Arbeiter werden können. Nur einer, an den ich mich gehängt habe, ich weiss nicht, warum. Man weiss nie, warum man das tut. Und nun hat man dir erzählt, dass ich mit Arthur Thiever gegangen bin. Ich bin mit ihm gegangen. Das Jahr, in dem es geschah, war lang und der Winter dunkel. Und du bist kein Briefschreiber gewesen. Andere Mädchen haben jeden Tag einen Brief von ihrem Schatz gehabt. Und ich noch nicht einmal jeden Monat. Und er war immer da und war immer froh und hat immer gelacht und hat immer ein Buch für mich gehabt und immer eine Zigarette, und er ist wegen meinem Vater seiner Sache von Pontius zu Pilatus gelaufen. Und du, wenn du in Polen und in Frankreich und in Russland und in Italien warst, hast du nie ein anderes Mädchen geküsst?«

Er sagte ohne Zögern:

»Nein, das hab ich nie getan. So wahr mir Gott helfe, das hab ich nie getan.«

Da liess sie den Kopf sinken und begann zu weinen. Aus dem Schluchzen heraus fragte sie:

»Und du kannst nicht verstehen, dass man anders ist und doch nur den einen liebt?«

Er antwortete:

»Ich kann alles verstehen. Ich habe noch mehr verstehen gelernt.«

»Aber du liebst mich nicht mehr?«

»Ich glaube sogar, ich liebe dich auch noch.«

Das Mädchen schrie auf und wollte um den Tisch herum zu ihm. Aber er zog sich in den 19 äussersten Winkel zurück, verschränkte die Arme und sagte:

»Ja, ich glaube wirklich, ich liebe dich noch. Aber ich weiss nicht, ob du verstehen wirst, wenn ich das sage: Ich habe dich nicht mehr gern. Da ist etwas kaputt gegangen. Das heilt nicht mehr. Das ist in mir, wie das andere in dir ist. Es macht mir keinen Spass, dass es so ist. Aber es ist so. Wir haben es uns beide nicht ausgesucht. Es ist schade. Aber es ist nicht zu ändern. Du musst es auch nicht mehr versuchen. Es tut nur weh.«

»Und du bist mir nicht böse?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Ueber das Bössein bin ich hinaus. Glaub es mir. Ich bin nur traurig.«

Sie streckte ihm die Hand hin. Er ergriff sie und hielt sie einen Augenblick, dann wandte er sich ab und drehte sich zum Fenster, um in den sinkenden Tag hinauszublicken.

Sie stöhnte auf und ging mit schweren Schritten. Aber an der Tür hielt sie noch einmal an und sagte:

»Was ich vorhin gesagt habe, dass du selber nicht viel wert bist, ein kleiner Arbeiter und nicht einmal und so, das ist natürlich Unsinn. Du weisst, dass ich immer ein bisschen spöttisch gewesen bin. Aber nicht im innersten Herzen. Im innersten Herzen liebe ich dich und habe dich immer geliebt. Wahrscheinlich, weil du nicht nur – ach, ich wollte sagen, wahrscheinlich, weil du ein Mensch bist, der Schafe schnitzen kann, und der nur Mundharmonika spielen kann, wenn er ganz allein ist. Aber vorhin habe ich noch ein paar Töne gehört.«

Dann ging sie wirklich. Er aber stand immer noch am Fenster und hörte, wie eine der einsam 20 gewordenen Glocken des Landes das Abendläuten begann. Tausendmal hatte er in Gedanken festgelegt, was er Beatrix sagen wollte, wenn sie einmal käme. Jetzt war es ganz anders geworden. Er hatte schon einmal gelesen, dass einer sagte: »Ich hab dich gern, aber ich liebe dich nicht!« Aber das Gegenteil, das ihm ohne sein Zutun auf die Lippen gekommen war, war schwerer zu verstehen. Und es war doch richtig. An dieses schöne seltsame Mädchen band ihn immer noch Unsägliches, jenes Tiefste, Geheimste, das wir Liebe nennen. Aber er hatte kein Vertrauen mehr zu ihr, er war ihr nicht mehr so herzlich gut und nahe, wie er gewesen war. Wahrhaftig, er hatte sie nicht mehr gern. Am Abend, als er allein in seiner Kammer war, träumte er auf einmal auf seiner Mundharmonika. Plötzlich ertappte er sich dabei, dass er schon eine ganze Weile in ein altes Lied hineingeraten war.

Am Holderstrauch, am Holderstrauch
da weint ein Mädchen sehr.
Der Holderstrauch, der Holderstrauch
der blüht schon lang nicht mehr.

Da warf er das kleine treue Instrument, das ihn durch die halbe Welt begleitet hatte, ungeduldig von sich und stiess das Wort »Idiot« zwischen den Zähnen hervor. In der Nacht träumte er von dem unendlichen Rückzug durch die östlichen Ebenen. Die Russen waren dicht hinter ihnen. Mit vieler Mühe und unter grossen Opfern brachten sie einen breiten Fluss zwischen sich und die Verfolger. Es gab ein Gefühl grosser Erleichterung. Aber das dauerte nicht lange. Plötzlich wusste der Träumende, dass er einen sehr lieben Kameraden auf der anderen Seite des Flusses zurückgelassen hatte, 21 und dann war der Kamerad Beatrix. Er sah sie undeutlich über das dunkel brausende Wasser hinweg. Sie war ein Soldat wie er und er wusste, dass sie sehr unglücklich war.


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