Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Habt Ihr einmal davon gehört: wenn die Reben blühen in den Weinbergen der Saar und der Mosel, der Ahr und des Rheins, an den sonnigen Hängen, unter den Wolken und unter den Sternen, dann gerät der Wein in den Kellern in Bewegung, in neue Gärung und in neue Unruhe, so wohl er verwahrt ist hinter mächtigen Mauern und festen Gebinden. Was da draussen geschieht und womit er in seinem innersten Wesen verbunden ist, das bewegt ihn auf geheimnisvolle, aber unwandelbare, unantastbare Weise. Glaubt Ihr vielleicht, dass der Zusammenhang zwischen dem Gewächs in den Weinbergen des Menschentums und dem, was davon schon in den Kellern Gottes liegt, geringer ist und weniger mächtig? Wenn Ihr erklärt haben wollt – erklärt, erklärt! – dann muss ich Euch sagen: ich weiss nichts. Aber wenn Ihr mit mir nach einem Sinn in der Welt sucht, ganz still und fein bescheiden, dann kann ich Euch am Ende ein bisschen helfen.«

Damit ging er, wie er zu gehen gewohnt war, einmal den Kopf fest an der Erde, als wenn er mit seinem ruhigen und doch ewig prüfenden Blick bis in ihre innersten Geheimnisse hineinschauen wolle, und ein anderes Mal zurückgeworfenen 65 Hauptes, als wenn er am hellen Tag nach neuen Sternen suche. Es ging die Rede, er beschäftige sich mit jenen alten Frauen, die den vielfältigen kleinen und grossen Gebrechen der Menschen mit uralten Gebräuchen – Worten und Handbewegungen begegneten. Im Dorf nannten sie das »Brauchen«. Er sage, es könne kein Unrecht sein, im Namen Gottes dem Leid dieser Welt entgegenzutreten, den Krankheiten und den Schmerzen. Und wer den grossen und heiligen Namen Gottes über Kräfte setze, die er ererbt habe, wie man blaue Augen und blonde Haare ererbe, und die er nun willig zum Heile anderer gebrauche, der könne sicher nicht auf abschüssigem Weg sein. Daher wohl kam es auch, dass man bei ihm nicht so selten alte Frauen aus den Nachbardörfern, auch aus lothringischen, ein- und ausgehen sah – es waren alles Frauen mit blassen Gesichtern und dunklen Augen – und dass der eine oder andere seiner Mitbrüder die Nase über diesen Umgang rümpfte und wohl auch nicht wiederkam, wenn er einmal um einer solchen Frau willen eine halbe Stunde auf den Pfarrherrn hatte warten müssen. Bei seinen Pfarrkindern selber schadeten ihm diese Besuche nicht, es sei denn bei jenen überall wuselnden ältlichen Wesen, die für sich längst eine besondere Art des Lebens und der Frömmigkeit gefunden haben und dann mit allen unzufrieden sind, wenn sie sie nicht hassen, die anders sind, anders beten, anders leben und anders sterben wollen als sie selber.

Zuweilen erschien es Remigius, als wenn auch Christophs Mutter zu diesen alten Frauen gehörte. Bei aller Vergnügtheit hatte sie zu mancher Stunde 66 einen Blick, der in die Ferne ging, und es kamen zu ihr immer wieder Menschen, mit denen sie sich in ihre Kammer zurückzog und von denen niemand hätte sagen können, was sie bei ihr suchten.

Aber er kümmerte sich nicht darum. Ihm behagte im ganzen die Luft dieses Hauses, und dass sich der Ruch von allerhand Absonderlichkeiten hineinmischte, machte sie nicht schwerer zu atmen.

Er wäre zufrieden gewesen, immer hier zu sitzen, mit dem Freund über die Geheimnisse des Lebens zu sprechen, mit der alten Frau über die Geheimnisse der Welt und zuweilen mit dem jungen Mädchen auch über die Geheimnisse Gottes. Was sich da draussen in den Strassen, was sich da draussen im Tal liebte und quälte, hasste und verdarb, das mochte es getrost ohne ihn tun.

Aber an einem Nachmittag sagte Christoph:

»Hör', Remigius. Ein paar Burschen aus dem Dorf, die du kennst, wollen einmal mit dir zusammensein. Wir sind für heute abend in die Kermannsmühle eingeladen. Sie haben genug zu essen und zu trinken. Es wird lustig werden, und das tut dir ja gut.«

Remigius hatte keine grosse Lust. Aber als der Abend gekommen war, erinnerte er sich der breiten und behäbigen Fenster der Mühle und der immer noch blühenden Geranien, die diese Fenster zierten, da wehrte er sich nicht gegen das Mitgehen. Und dann sassen sie zusammen in der Stube mit ein paar alten Schränken, die farbige Teller und Schüsseln trugen, an dem mächtigen Eichentisch, an dem schon Geschlecht um Geschlecht gesessen, geredet und getafelt hatte. Es waren ausser ihnen fünf Burschen aus dem Dorf 67 und von einem der Nachbarhöfe. Sie waren mit Mirabellenbranntwein wohl versehen, und ein mächtiger Laib Brot lag auf dem Tisch und ein tüchtiges Stück durchwachsener Speck. Sie wollten es sich wohl sein lassen an diesem Abend. Ausser dem Schuster waren sie alle Soldat gewesen. Die wiedergewonnene Freiheit und die wiedergewonnene Heimat brannten ihnen noch im Blut und zuckten ihnen noch in allen Nerven. Sie sprachen von dem, was hinter ihnen lag, aber kaum einmal von eigentlichen Kriegstaten und Abenteuern. Was sie reden und gestikulieren und ins Feuer geraten liess, das war die ungeheure Ferne, in die der Krieg sie hineingeworfen hatte, und die tödlichen Fährnisse, durch die hindurch sie die Heimat neu gewinnen mussten. Der war an der Grenze des ewigen Eises gewesen und der im afrikanischen Sand, der in der östlichsten russischen Steppe und der an der Küste des atlantischen Meeres, und sie hatten Eis und Sand und Steppenwuchs und Meereswogen noch im Blut, in der Sprache und in den Bewegungen ihrer Hände. Aber jetzt sassen sie in dieser Heimatstube über dem Tal, wurden durchwärmt von den Buchenscheiten des Bergwaldes und von dem Branntwein, zu dem die Früchte am Sonnenhang des gleichen Berges golden geworden waren. Sie schonten ihn nicht, den Branntwein. Die ersten Gläser stürzten sie hinunter, als wenn sie seit Jahren nichts gekostet hätten von dem feurigen Extrakt der Heimat, als wenn sie ausgedürstet wären. Dann tranken sie ruhiger, in geniesserischen Schlücken, wie es der Dorfbrauch war. Aber sie glühten schon und waren voller Lebenslust und Uebermut. 68

Remigius trank mit ihnen. Er ass mit ihnen von dem Brot und von dem Fleisch. Er spürte, wie alles zusammen ihn tief und geheimnisvoll in das Dorf und in das Land hineinzog. Aber er war immer noch schweigsam. Es war immer noch eine Mauer zwischen der wachsenden Ausgelassenheit der anderen und seinem schwermütigen Ernst, und er spürte im innersten Herzen, dass es den Wogen, die die anderen trugen, nicht gelingen würde, auch ihn mit sich zu nehmen, völlig mit sich zu nehmen. Er konnte nicht vergessen, dass da unten im Tal Menschen zur gleichen Stunde in Ruinenkellern sassen und lagen und hungerten und traurig waren. Da unten war er einer von ihnen gewesen, und da er ungefähr trug, was auch sie zu tragen hatten, war er ihm selten in den Sinn gekommen, sich Gedanken um sie zu machen. Aber jetzt, da er in den bewahrten Frieden dieses Dorfes aufgenommen war, ja, da er sich anschickte, mit ihm eines seiner kleinen, namenlosen Feste zu feiern, spürte er ganz, wie sehr er zu denen da unten gehörte, zu den Unzufriedenen, Neidischen, Boshaften, zu den Hassern und Verleumdern, aber doch Hungernden und Frierenden auch, zu den Trauernden und Verzagenden. Fast war es ihm, mitten in der steigenden Fröhlichkeit, als wenn er sich plötzlich aufmachen und hinabsteigen müsse ins Tal, in das Häuschen der Schwester, des Schwagers auch, zu dem ihn mit einem Male ein heftiges, ja fast zärtliches Mitleid trieb.

Aber wie der Gedanke in ihm mächtig werden wollte, öffnete sich die Tür, und ein paar junge Mädchen kamen herein. Es war geplant, dass sie hereinkommen sollten, aber man wollte den Gast 69 aus dem Tal überraschen, doppelt überraschen, denn eines der jungen Mädchen, die von der Müllerstochter hereingeführt wurden, war Beatrix.

Remigius besann sich jetzt auch darauf, dass sie mit den Müllersleuten vervettert war. Vielleicht war sie zufällig gekommen. Vielleicht auch hatte ihre Base, vertraut mit ihren Hoffnungen und Aengsten, sie wissen lassen, wer sich im Dorf befand und wer am Abend in ihrer Stube zu finden sein würde. Jedenfalls war sie mit einem Male an seiner Seite, schöner als je, die Schönste von allen. Aus ihren Kleidern, die diesmal eine Art von Vornehmheit hatten, stieg ein leiser Blumenduft auf. Remigius musste an einen fernen Frühlingstag denken, an dem er mit ihr unter den blühenden Apfelbäumen ihres Gartens gestanden hatte. Da war auch so ein leiser, fast scheuer Duft zu ihm hingeweht, und er war eins gewesen mit dem noch kindlichen Mädchen und hatte sein Herz so durchtränkt, dass es ihn nie mehr ganz verlieren konnte. Und wie Beatrix jetzt neben ihm sass und ihm zulächelte, war sie wieder das Mädchen von damals, voller Liebe und Unschuld, voller Hingabe und Vertrauen. Die zarte Trauer ihrer Augen, das unmerkliche Zucken ihres Mundes machte sie noch lieblicher. Die anderen blickten voll Neid auf Remigius, und selbst Christoph nickte ihm zu, als wenn er sagen wolle:

»Siehst du, mein Alter. Du hast alles zu schwer genommen. Das ist ja alles nicht so. Was ist das doch für ein Prachtmädchen. Was Wunder, wenn noch ein anderer sich in sie verliebt! Wunder vielmehr, wenn irgendeiner es nicht täte in irgendeiner unbewachten Stunde.« 70

So nickte er ihm zu, und Remigius spürte die drängende Gefahr des Augenblicks. Er spürte sein Blut dem schönen Mädchen entgegenbrennen. Er spürte das Verlangen, nach ihrer Hand zu greifen, wie es ja auch die anderen bei ihren Mädchen taten, sein Knie gegen das ihre zu drängen, sie sich nahe zu fühlen. Es war etwas in der Luft des Abends, was zu all dem verlockte. Es war etwas in seinem eigenen Wesen, was ihn trieb. Der Gedanke an das Elend des Tales war noch nicht in ihm erloschen. Aber auch dieser Gedanke noch nährte das Feuer. Er war mehr noch als vorher Teil dieses Elends, ja dieses ganze Elend selber, gequält, stöhnend und seufzend. Eben darum aber verlangte es ihn jetzt so sehr nach dem Frieden der Kreatur, der zuweilen auch in Trümmern und Tränen noch gewährt wird, nach Zärtlichkeit und menschlicher Nähe. Aber er wollte nicht. Er wollte nicht, wollte nicht! Wenn einer kurz vor dem Kampf, der das Ende bringen kann, nachdem er gerade noch an Gott gedacht hat, an die tote Mutter und an das Mädchen, das er liebt, wenn einer gerade da noch einen Brief bekommt, der ihm unwiderruflich darlegt, dass dieses Mädchen ihm untreu geworden ist, dann ist etwas zerbrochen und kann mit Blut und Tränen nicht mehr geheilt werden. Vielleicht ist der Mensch nur eine aufquellende und wieder vergehende Blase in dem ewig brodelnden Sumpf. Vielleicht aber gibt es doch auch etwas wie seine Würde, seine Einmaligkeit, seine Göttlichkeit, und dann ist Untreue wirklich viel mehr als eine Schwäche, dann ist sie Verrat an dieser Würde, dann ist sie Verrat am innersten Kern des Lebens. 71 Gewiss, der Mann da unten, dessen Frau ein Kind gebar von einem anderen Mann, als er aus dem Krieg zurückkam, der erbarmte sich ihrer. »Armes Biest«, hatte er gesagt. Aber es war ja seine Frau, der er nun treu blieb gegen ihre Untreue, und er war vielleicht einer von hundert. Er aber, Remigius, er wollte nicht, er wollte nicht. Er wusste, dass nicht das Höhere in ihm zum Nachgeben drängte, sondern das Niedrige. Es war auch über ihn schon Herr geworden, aber hier sollte es nicht, hier würde es nicht. Er überlegte, ob er gehen solle. Aber es schien ihm zu feige. Er blieb und wandte sich zu Beatrix wie zu irgendeiner hübschen Nachbarin, fragte sie lächelnd, ob sie sich an den scharfen Schnaps herantraue, und hielt sich selber daran, als wenn es eine Medizin gegen all das unruhige Gewoge in seinem Herzen wäre. Er trank mehr, als er seit langem getrunken hatte. Aber während der brennende Trank die anderen immer näher zu jener Aufgelöstheit hinführte, die nach der Strenge des Krieges die Zuflucht so vieler ist, wurde er härter und straffer. Von den Burschen legte einer nach dem anderen den Arm um sein Mädchen und zog es an sich. Remigius sah, wie in Beatricens Augen die Flamme eines triumphierenden Glückes aufglomm. Er würde nicht anders sein als die anderen, dachte sie wohl, die Törin, die ihn doch liebte, weil er anders war. Sie drängte näher zu ihm hin. Aber er sass da, als wenn er aus Holz geschnitzt wäre. Sie griff nach seiner Hand. Er zog sie nicht fort, aber er bewegte sie auch nicht. Sie sprach zu ihm wie in der alten Zeit, aber er antwortete ihr wie einer Fremden, wie einer sehr hübschen, anziehenden Fremden, 72 aber eben wie einer Fremden. Nach einem Dutzend vergeblicher Versuche sagte sie dann mit bebender Stimme:

»Remigius!« Und er antwortete »Was kann, Beatrix«, als wenn sie ihn um eine Zigarette oder ein Stück Brot oder etwas der Art bitten wolle, und er blickte auch schon suchend über den Tisch. Da gab sie es auf. Sie leerte ihr Glas mit einem Zug und wandte sich heftig zu ihrem Nachbarn, einem jungen Bauern, der sich bis dahin vergeblich darum bemüht hatte, von ihr beachtet zu werden. Sie liess sich ihr Glas von ihm füllen und duldete, dass er den Arm um ihre Hüfte legte.

Remigius sah es nicht einmal. Eine Weile später hatte einer von den Burschen eine Harmonika in der Hand, suchte ein wenig im Gewoge der sich darbietenden Klänge und war rasch genug mitten in einer fröhlichen Tanzweise. Die Paare fanden sich und Remigius war mitten unter ihnen. Er hielt ein junges Ding von siebzehn Jahren im Arm, das sich zärtlich und hingebend an ihn drängte. Er lächelte darüber, aber es missfiel ihm nicht. Er war mit dem Tod im Arm, mit seinem harten Griff um die Schulter, mit seinem verwesenden Atem im Gesicht über die Erde getanzt. Jetzt war es gut, mit dem lebendigen, blühenden Leben im Arm über den ein wenig holperigen Boden dieser guten, warmen Heimatstube zu tanzen. Vielleicht war das Leben so schwer, weil man sich zu viel Gedanken machte. Man musste die Stunden nehmen und auskosten wie eine saftige Frucht. Aber nun liess es sich auch nicht vermeiden, dass er mit Beatrix tanzte wie mit den anderen. Er tat es und blieb beim erstenmal so gelassen wie den Abend 73 hindurch. Aber beim zweitenmal spürte er, wie seine Kühle plötzlich dahinging wie eine Handvoll Schnee vor der allmächtigen Sonne. Er hielt das schönste Mädchen im Arm, mochte sie nun Beatrix heissen oder wie immer. Wenn es auch kein »In den Himmel hineintanzen« gab, wie es in einem der weichen, sehnsüchtigen Tanzlieder hiess, dann gab es doch wenigstens einen Tanz ins Vergessen hinein, in den Augenblick hinein, einen Augenblick ohne Trauer, ohne Angst und ohne Sehnsucht. Er wehrte sich auch nicht dagegen, dass das Mädchen zuweilen mit den heissen Lippen seine Wangen streifte. Er zog sie näher an sich. Er spürte sie wie vor Jahren, als alles noch gut und unverschattet war, und plötzlich, da riss ihn der Rausch des Tanzes hin: Er packte das Mädchen mit einem festen, ja fast derben Griff und wirbelte es unvergleichlich heftiger und stürmischer daher, als es ihm bisher in den Sinn gekommen wäre. Sie war eine Sekunde lang masslos überrascht. Aber in der nächsten Sekunde schon wurde aus der Überraschung Freude und überschäumender Jubel Sie liess sich packen und eher schleudern als führen und es wurde ein so wilder Tanz, wie er vielleicht vor zweitausend Jahren getanzt worden war, in den seltenen Stunden, in denen die Stille und Verhaltenheit des Landes im Südwind dahinschmolz und brodelnder Ausgelassenheit wich. Ein so wilder und erregender Tanz war es, dass die anderen Paare mehr und mehr zurückblieben und erst ärgerlich und eifersüchtig, dann aber voll Staunen zuschauten. Der Musikant spielte rascher und rascher. Die Stunde gab ihm Weisen ein, die er vorher nie gespielt, ja, die er nicht einmal 74 geträumt hatte. Aus der Nacht war das Heulen des Windes zu hören, das sich hineinmischte und ab und zu gab es wohl auch den Schrei eines Tieres aus dem Wald. Es war ein Gespenstertanz bei all diesem Klingen und Rauschen und Heulen, ein Tanz, in dem alle Wildheit und Masslosigkeit der vergangenen Jahre noch einmal hoch aufglühte und sich in wildesten Zuckungen verzehrte.

Aber plötzlich stockte er. Der so leichte, schwebende Schritt des Mädchens wurde schwer und unsicher und dann hing sie wie vom Blitz getroffen in den Armen des Mannes. Der Musikant legte erschrocken sein Instrument zur Seite. Die anderen Mädchen eilten herzu und halfen Beatrix auf eine Bank legen. Man flösste ihr einen Schluck Branntwein ein, man rieb ihr Stirn und Arme damit ein, aber man tat es einer, die schon keiner irdischen Hilfe mehr zugänglich war, einer Toten, wie man bald genug wusste. Eine ihrer Freundinnen berichtete, dass sie schon beim Ersteigen des Berges völlig ausser Atem und halb ohnmächtig gewesen sei. Sie habe auch gesagt:

»Ich weiss nicht, was mit meinem Herzen ist. Ich hab das jetzt so oft und einmal wird es schiefgehen.«

Das Mädchen brachte die Worte der toten Freundin nur unter heftigem Schluchzen hervor und die andern begannen, mit ihr zu weinen, und es war ein so herzerschütterndes Weinen, wie es vorher jauchzende Lust gewesen war und eine so dunkle Kammer der Klage, wie eine halbe Stunde vorher leuchtendes Gemach des Jubels. Remigius achtete nicht darauf. Er starrte nur auf das tote Mädchen. Sie hatten ihr schon die Hände gefaltet, wie sie es 75 den Toten immer taten, und diese gefalteten Hände waren wie das Siegel des Todes und der Ewigkeit auf der zarten Gestalt. Remigius beugte sich nieder, um diese Hände zu küssen. Aber er scheute die Gegenwart der anderen. Er blickte um sich, ob sie nicht diese halbe Bewegung schon wahrgenommen hätten, und sah, dass er allein war. Da tat er es. Da küsste er die schon erkaltenden kleinen Hände, die er so oft in den seinen gehalten, die sich so oft zärtlich um sein Gesicht geschlossen hatten.

Er zeichnete ein Kreuz auf die weisse Stirn und streichelte sie dann auch noch ganz zart. Er hätte gerne weinen wollen wie die Mädchen, aber er konnte nicht. Ausser dem Schmerz gab es noch so viel anderes in seiner Seele: eine tiefe, brennende Scham, dass er zu dem Rausch in seiner Seele Ja gesagt hatte und Nein zu der Liebe. Sie hatte ihn geliebt. Das wusste er jetzt. Sie hatte sich in den Tod hineingetanzt, aber nicht wie er, von dunklem namenlosen Rausch getrieben, sondern im hellen Glück der Liebe, die sie wiedergewonnen glaubte. Auf ihrem schönen Gesicht, das jetzt schon wie aus dem edelsten Marmor gemeisselt dalag, ruhte noch sein Abglanz.

Darum aber trug Remigius zu dem Schmerz und zu der Scham in seiner Seele eine Art von Genugtuung und Freude. Hier war nicht nur ein jäher Tod, sondern auch eine jähe Rettung, eine Rettung ins Unzerstörbare, ins nicht mehr zu Gefährdende. Er sagte ganz leise:

»Jetzt kann dir nichts mehr geschehen, Beatrix!« und er meinte nichts Kleines und Billiges mit diesen Worten. Vieles also lebte in seiner Seele, aber zuletzt glühte es doch zusammen in der 76 Flamme des Schmerzes, die sich immer brennender an dem Anblick der Toten entzündete. Plötzlich kam ihm das Wort in den Sinn: »Die Liebe erträgt alles« und da wusste er nun, dass seine Liebe wenig ertragen hatte, dass er ein schlechter Liebender gewesen war. Da wusste er plötzlich, dass er sich hier hätte bewähren müssen, wenn einmal im Leben, und er hatte sich nicht bewährt. Er sagte sich selber, nicht seine gekränkte Liebe habe ihn hart gemacht, sondern sein gekränkter Stolz und es war nichts mehr in ihm von diesem Stolz. Er sagte ganz leise:

»Verzeih mir, Beatrix!«

Aber er wusste wohl: es waren armselige Worte, in das schweigsamste Geheimnis der Welt hineingesprochen.

Es dauerte nicht sehr lange, da kam der Vater der Toten, den man herbeigerufen hatte. Arthur Thiever brachte ihn mit seinem Wagen. Der grosse, früher gewiss einmal recht stattliche, aber jetzt schlaffe und vornübergebeugte Mann, stand ein paar Augenblicke starr und ohne alles Verständnis in der Stube.

Dann aber stürzte er sich auf die Tote, bedeckte ihr Gesicht und ihre Hände immer wieder mit Küssen, nannte sie mit den zärtlichsten Namen und stiess dazwischen Schreie aus wie ein zu Tode gequältes Tier. Remigius wäre am liebsten gegangen. Er hatte ja seinen Abschied genommen. Aber es schien ihm, man könne die Tote mit diesen beiden nicht allein lassen. Der eine war von seinem Schmerz in ein Tier verwandelt, dem man sein Junges genommen hatte, und der andere war in seiner völligen Unverwandeltheit noch furchtbarer. 77 Er stand da, tadellos angezogen wie immer, Hut und Handschuhe in der einen Hand, den Autoschlüssel in der anderen. Er hatte nicht vergessen, eine dunkle Krawatte umzubinden – nicht eben eine schwarze. »Das wäre irgendwie zu anspruchsvoll gewesen, eine schwarze«, erzählte er später; aber doch eine dunkle, und sein Gesicht drückte nicht eben Trauer, aber doch angemessene Teilnahme aus. Was für ein Gesicht! Das eines gesunden, starken, mit richtigem Lebensappetit versehenen Tieres, mit frechen Augen, die auch noch auf die Tote blickten wie in einen Spiegel. Er hielt sich in der Nähe der Türe auf, wo jetzt auch Remigius stand, und ein paarmal schien es, als wenn er sich an ihn wenden wolle. Aber er begnügte sich damit, vor sich hinzusagen: »Schrecklich, schrecklich!« Bis dann dieses Wort »Schrecklich« sich in ein anderes verwandelte, das völlig zu seiner dunklen Krawatte und dem Ausdruck angemessener Teilnahme auf seinem Gesicht passte.

»Peinlich«, sagte er, »sehr, sehr peinlich!«

Dann aber zuckte er leicht die Achseln, machte eine Verbeugung, als wenn er vor einer Gesellschaft Abschied nehme, die unter seinem Rang lag, in der man gewissermassen schlechte Manieren hatte, und ging hinaus. Ein paar Minuten später hörte man seinen Wagen davonschnurren. Remigius aber war es, als wenn das tote Mädchen mit der Würde seines Todes den Mann in die Flucht geschlagen habe, an den es einmal nicht sein Herz, aber doch irgendwelche dunklen Regungen seines Wesens gehängt hatte. Er öffnete das Fenster und liess die Nachtluft eindringen, als solle sie noch einen nachbleibenden Ruch von Pomade und 78 amerikanischen Zigaretten vertreiben. Ein paar Wochen danach sah er den Unverwüstlichen mit jener Siebzehnjährigen über Land fahren, die mit ihm selber so heftig getanzt hatte und mit ihm vielleicht auch ganz gerne zu Fuss gegangen wäre.

Kurze Zeit danach füllte sich das Zimmer wieder mit den Mädchen, die dunkle Kleider angelegt hatten. Sie zündeten Kerzen an, stellten ein Kreuz zu Häupten der Toten und Weihwasser zu ihren Füssen. Als das geschehen war, begannen sie mit eintönigen Stimmen, ganz verschieden von denen, womit sie sprachen und sangen, die Totengebete zu beten. Es war ein dunkler Quell der Klagen und der Bitte, der aus des Seele des Landes aufstieg und die Tote umrauschte, Woge um Woge. Aus der getauften Seele des Landes stieg dieser Quell empor und erhob alle Frömmigkeit und Innigkeit, allen Glauben und alle Liebe, die in anderthalb Jahrtausenden aufgeglüht und unsterblich geworden waren, zu dem marmornen Antlitz der Toten und zu ihren gefalteten Händen empor. Aus der getauften Seele des Landes stieg dieser reine und heilige Quelle. Aber es gab im Land auch Bezirke und Provinzen – es gab sie in der Seele des Landes – die vom Taufwasser nicht berührt worden waren, und auch sie sandten ihre Stimmen in diese Nacht des Todes hinein. Remigius wollte ein paar Minuten in den Garten, da ihm die Luft in der menschengefüllten Kammer zu beklemmend wurde. Aber als er durch die Küche kam, sassen in ihrem Herdschein ein paar Burschen und Mädchen, die die Branntweinflasche zwischen sich stehen hatten und in gedämpftem, muntersten Ton sich Geschichten erzählten. 79

Das tote Mädchen war von ihnen beweint und der Barmherzigkeit Gottes empfohlen worden. Sie würden es eine geraume Weile hindurch weiter beweinen und weiter für es beten. Aber es war ihnen doch unendlich entrückt. Es gehörte jetzt zu der Welt des Todes und der Toten, und diese Welt war dunkel und unheimlich über die Mahsen. Und trotzdem ging von ihr eine Verlockung aus, der man sich hingab, wenn man nicht allein war, wenn die warme lebendige Gegenwart der anderen einem Mut gab, wenn der Branntwein das Blut rascher und zuversichtlicher strömen liess. Ein Mädchen erzählte. Vor ein paar Wochen war eine alte Frau gestorben. Die konnte etwas und nicht zum Guten. Wenn sie an einer Mutter mit einem kleinen Kinde vorbeiging und es lobte: Ach, was für ein schönes Kind! Ach, wie es so gut aussieht! Was für ein liebes Gesichtchen! – dann konnte man sicher sein, dass das Kind krank wurde, gleich danach, und wenn es davonkam, konnte man von Glück sagen. Und dann die eine Geschichte: Das glücklichste, strahlendste Liebespaar seit Jahren hatte sich verlobt. Es war ein Tag gegen Ende Mai mit Rosen und Nelken und erstem Heuduft. Da kam sie, um zu gratulieren, wie sie sagte. Kurze Zeit darauf bewölkte sich plötzlich der Himmel. Es gab ein schreckliches Gewitter, das die Gärten und Felder verwüstete. Ein Blitz schlug in den Kirschbaum ein, so dass er beinahe ganz abgebrannt wäre. Aber noch etwas anderes geschah. Die Verlobten gerieten in Streit und gingen auseinander, um sich nie mehr anzuschauen.

Wenn seitdem eine Verlobung war, stellte man 80 Knaben und Posten aus, um das Nahen der Unheilbringerin zu melden, so dass man rechtzeitig alle Türen verriegeln konnte. Nun also war sie gestorben, ein paar Jahre war es schon her. In den Nächten, in denen sie über der Erde lag, heulten alle Katzen des Dorfes, dass es nicht zum Aushalten war, die Eulen umkreisten ihr Haus und einer, der um Mitternacht noch daran vorbei musste, sah einen riesigen schwarzen Hund die Türe bewachen. Noch mehr geschah. Als sie begraben wurde und der Priester Weihwasser über das offene Grab sprengen wollte, war der gerade von den Messdienern frisch gefüllte Kessel trocken, wie ausgeglüht und als er Weihrauchkörner auf die Kohlen legte, da zischte und knallte es, als wenn er Schiesspulver darauf gelegt hätte.

Ein anderes Mädchen wusste: In ihrer Kinderzeit war Nachbarkindern die Mutter gestorben. Das Kleinste von ihnen hatte noch kein halbes Jahr. Es weinte vier, fünf Nächte hindurch und nahm nichts von der Milch, die man ihm geben wollte. Aber dann wurde es ruhig. Eines der grösseren Kinder erzählte, die Mutter sei in der Nacht dagewesen, und der Vater fand, als er einmal aufstand und Licht anzündete, an seinem Mädchen Spuren von Milch. Remigius hörte eine halbe Stunde zu. Dann ging er in die Totenkammer zurück und blieb darin bis zum Morgen, bis zu der Stunde, da die Leute kamen, um das tote Mädchen einzusargen und ins Tal zurückzubringen. Diese Nacht kam ihm schwer an, aber er wollte, dass sie ihn schwer ankomme. Er öffnete sein Herz all ihrer Bitterkeit. Er betete mit den anderen, aber die Gebetsworte waren oft genug nur das Gefährt, 81 das seine schweren und traurigen Gedanken durch die Nacht trug. Als die Männer mit dem Sarg hereingetappt kamen, ging er. Auf einer Bank vor dem Haus sass der alte kindische Mann und weinte und sprach vor sich hin. Als er Remigius sah, stand er mühsam auf, streckte ihm die Hand hin und sagte:

»Ah, jetzt bist du gekommen. Sie hat immer gewartet, immer und immer. Jetzt ist sie selber fortgegangen und wir zwei müssen warten. Ich nicht mehr lang. Aber für dich, für dich wird es noch lang werden.«

Und dann hatte er fast die Stimme Beatricens, diese dunkle, ein wenig rauhe und zärtliche Stimme:

»Aber du wirst warten. Du wirst es können, gut auch noch!«

Remigius ging in das Schusterhaus, das wie die anderen Häuser gerade den Schlaf aus den Augen schüttelte. Aber er brachte seinen eigenen Schlaf und seine abgrundtiefe Müdigkeit in die Kammer und lag bis in den Nachmittag hinein in traumlosem Schlummer. Als er wach wurde, spürte er, dass sein Leben verwandelt war. Bei ihm war nach seiner Heimkehr eine Art von barmherziger Dämmerung gewesen, und jetzt war harte, schmerzliche Helle. Die zerstörte Heimat, das zerstörte Land, das Elend der Alten und der Kinder, ach, das Elend aller Menschen, das Grab der Mutter in der Fremde, die er vielleicht nie mehr sehen würde, ihr zermalmtes Haus, in dem keine Spur mehr ihres guten, herzlichen Lebens zurückgeblieben war, alles trat jetzt vor ihn wie etwas ganz Neues, noch nie Gelebtes, noch nie Bewältigtes, und er hatte ihm keine Kraft entgegenzusetzen. Es kam ihm jetzt 82 auch dumm und verrückt vor, dass er schon eine ganze Reihe von Tagen, eine Woche, oder wie lange, in dem Schusterhaus hockte und den guten Leuten das Brot wegass. Er fühlte sich als Fremdling in seinem eigenen Herzen. Wie hätte er sich nicht überall anders fremd fühlen sollen! Aber als er sah, dass sie ihm sein Essen aufgehoben hatten, und als Christoph ihm einen Quetsch eingoss, den er im Lauf des Tages irgendwo aufgetrieben hatte, da stieg trotz allem ganz leise Wärme in ihm auf. Nur, sie hielt nicht an. Er sah, wie die Freunde, Christoph, seine Mutter und seine Schwester, sich mühten, ihm gut zu sein, wie sie ihm gleich einem Kranken den besten Bissen und den besten Sitz zuschoben. Es rührte ihn, aber es machte ihn auch verlegen und es wäre ihm viel lieber gewesen, wenn man getan hätte, als wenn nichts geschehen wäre.


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