Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Am anderen Tag gegen Mittag, als Remigius vor seinem Karren stand, sah er eine Frau in den mittleren Jahren daherkommen. Sie ging ruhig, ohne Hast und ohne Verträumtheit. Der Anblick der Schafherde schien sie zu erfreuen, denn es lief ein leises Lächeln über ihr ernstes Gesicht. Sie wandte sich auch zu einem jungen Mädchen, das neben ihr ging, und wies auf das Tier, dessen gebrochenes Bein Remigius geschient. Der überlegte noch, ob er wohl irgend etwas sagen könne, um die Wanderer aufzuhalten – es konnte gar nicht anders sein, die eine, die ältere musste die Tromborner Frau sein, die Weise, die Helferin, von der der Bauer gesprochen hatte, – da wandte sie sich schon selber an ihn. »Ah, Ihr seid der junge Mann aus dem Tal, der für den Marcel eingesprungen ist, das hab ich schon gehört. Er hat sich keinen Schlechten ausgesucht, muss ich sagen. Das mit dem Bein habt Ihr gut gemacht. Und auch sonst sind die Tiere in guter Hut. Ihr seid es aber auch selber. Es ist gut für ein trauriges Herz, Schafe zu hüten!« Sie sagte diese Worte 101 als wenn sie vom Wetter spräche oder von der Beschaffenheit der Äcker, an denen sie vorbeiwanderte. Remigius war verlegen vor ihren bei aller Güte durchdringenden, grauen Augen. Er blickte auf das junge Mädchen und wurde noch verlegener, denn es war sehr schön und von einer strengen und klaren Schönheit, die er noch nicht kennengelernt hatte. Er hatte aber das Steinbeil in der Hand, das er im Panzergraben gefunden hatte, und so hielt er es den beiden hin und sagte:

»Ich hab auch gleich ein Fleissbildchen bekommen, weil ich dem Tier geholfen hab, so gut ich konnte. Seht nur!«

Er sagte »Ihr«, wie die Frau gesagt hatte. Das »Sie« des Tales war ihm ihr gegenüber so fremd, als wenn er ihr das weisse Tuch vom Kopf nehmen und dafür einen modischen Hut aufsetzen wollte.

Sie nahm das uralte Gerät in die Hand, fuhr zart mit den Fingern darüber und sagte:

»Das ist alt, zweitausend oder dreitausend Jahre, sagen sie. Aber wir, wir sind älter.« Er blickte sie fragend an, und sie fuhr fort:

»Ja, wir sind älter, Ihr und ich und die Céline da, und alles Lebendige. Wenn an dem Stein noch der Glanz und die Kraft von Händen aus früherer Zeit zu spüren ist, so sind unsere Hände selber diese anderen Hände und unsere Herzen diese anderen Herzen, und die Augen, die zuerst diesen Stein angeschaut haben, sind immer noch unsere Augen. Manchmal spürt man wohl, dass Vater und Mutter noch in einem leben, und die Grossväter und die Grossmütter und fernere Ahnen noch, von denen wir ganz dunkel nur wissen. Und wenn wir es nicht spüren, ist es immer noch wahr. 102 Wir finden ja auch manchmal in einem ganz weit verwandten Cousin deutliche Züge eines alten Onkels, den wir noch gut gekannt haben. Und dem alten Onkel ist zu seiner Zeit das Gleiche passiert. So geht es rückwärts von Geschlecht zu Geschlecht und auch vorwärts von Geschlecht zu Geschlecht, und darum sind wir älter als das Steinzeug da und dunkler und schwerer zu handhaben.« Remigius betrachtete die Frau, die redete wie ein Priester oder wie ein Professor von einer der hohen Schulen, voller Respekt, aber ohne grosses Staunen. Der Tag war so beschaffen und das Land war so beschaffen, dass wohl aus seiner Tiefe plötzlich eine Frau kommen konnte und so reden.

Das junge Mädchen aber lächelte und sagte:

»Ja, Mutter, so meint Ihr wohl ja auch, dass Ihr und ich und unsere ganze Sippe noch mit dem heiligen Mädchen von Domremy verwandt sind. Ich bin damit zufrieden.«

Die Frau antwortete:

»Wir sind es. Aber wir sind auch mit Mördern und bösen Frauen verwandt und man muss es tragen, das eine wie das andere.«

Remigius erinnerte sich an das seltsame Erlebnis mit der Frau und dem römischen Soldaten und an das, was der Pfarrer von Harcourt dazu gesagt hatte. Das hatte ähnlich geklungen. Er fragte:

»Ja, dass sie in uns leben, die vor uns gewesen sind, das versteh ich. Aber wie ist es, leben sie auch ausser uns noch, leben sie in sich selber? Und wenn sie auch in sich selber leben, nach hundert oder nach tausend oder nach zweitausend 103 Jahren, sollen sie dann nicht ganz – ganz –, wie soll ichs nur sagen?«

Er erzählte die Geschichte und fragte dann weiter:

»Wir sind ja doch aus Dreck gemacht. Wenn wir wieder zu Dreck werden, ist es dann so wichtig, dass unsere Überreste vor irgend einer besonderen Sorte Dreck bewahrt bleiben, meinetwegen einer stinkigen?«

Da flammte das Mädchen auf:

»Wir werden nicht zu Dreck, das ist nicht wahr was Ihr sagt, Schäfer. Wir werden nicht zu Dreck. Am Aschermittwoch hören wir, dass wir zu Staub werden. Pulvis, Pulvis, sagt der Priester. Das ist etwas, was der Wind verwehen kann. Dann durchleuchtet es auch die Sonne. Dann fällt das reine Himmelslicht durch den Staub wie durch den Regen und schenkt ihm genau wie diesem den siebenfarbigen Regenbogen. Wir werden Staub, aber wir werden kein Dreck. Wer einmal geglaubt und geliebt hat, der kann vergehen, wie alles auf dieser Welt vergeht, aber wie könnte er Dreck werden, wie könnte er? Und darum glaube ich völlig an den römischen Soldaten, von dem wir auch gehört haben. Und darum hat er recht gehabt, und die zweitausend Jahre, die er tot ist, waren nicht lang genug, um ihn gleichgültig werden zu lassen gegenüber der Würde seines Staubes.«

Sie stand da mit entflammtem Gesicht und mit leuchtenden Augen und fast wollte es Remigius scheinen, als wenn sie in der leicht erhobenen Hand eine königliche Standarte trage.

Aber die Frau aus Tromborn sagte:

»Gelt, Remigius – sie wusste mit einem Male den 104 Namen – wir reden, wir zwei, wie zwanzig Bücher. Aber Céline und ich, wir sind beide in Metz aufgewachsen, und wir haben beide denselben Professor gehabt, der jeden Winkel und jedes Loch und jeden Scherben Lothringens kannte. Und mein Mann und Célinens Vater war nicht umsonst der Bienenzüchter Lucien Vermeil, der im ganzen Land für seine Spintisiererei, aber auch für seine Weisheit und seine wunderbaren Ratschläge berühmt war. Ihr müsst uns nehmen wie wir sind, müsst auch ein bisschen bedenken, dass wir in Metz gelernt haben, unsere luftigeren Gedanken auf Französisch auszusprechen, so dass sie auf Deutsch vielleicht ein bisschen komisch herauskommen. So, und jetzt müssen wir gehen. Der Bauer auf dem Quittenhof wartet, und der liebe Gott wartet auch, dass wir ihm helfen, ein bisschen Ordnung in die Welt zu bringen. Adieu. Vielleicht sehen wir uns noch einmal.«

Remigius sah ihnen nach, bis sie hinter der leisen Anhöhe verschwanden, hinter der der Quittenhof gelegen war. Sie selber sahen sich nicht um. Ihnen lag zu sehr am Herzen, was da auf sie wartete. Am meisten natürlich auf die Mutter. Aber doch auch auf die Tochter, die ihr beistand mit ihrer Freudigkeit, mit ihrer Zuversicht und ihrer nie versagenden Liebe. Jener Bienenzüchter Lucien Vermeil, Gatte und Vater, von dem sie gesprochen hatte, war wenige Jahre nach der Geburt Célinens, die das einzige Kind blieb, gestorben, und so hatten sich Mutter und Tochter sehr eng aneinandergeschlossen. Sobald es aber Céline offenkundig geworden war, dass ihre Mutter immer wieder die Raterin und Helferin sein musste, landauf, landab, 105 in den einsamen Gehöften, in den kleinen und grossen Dörfern, aber manchmal auch in den Städten, ja, bis in die grosse Stadt Metz hinein, da band sie an sie noch etwas Unbeschreibliches, ein Gefühl der Schwesterlichkeit, ein Gefühl des gleichen Dienstes an dem gleichen unbegreiflichen Werk der Liebe. Sie kamen an den Quittenhof. Da begann ein Hund zu bellen, so über alles Hundemass, über allen Hundelärm hinaus, dass man glauben konnte, die Angst der Bäuerin habe sich auf das Tier übertragen, wie ja denn überhaupt nicht selten tiefere und geheimnisvollere Seelenregungen der Menschen oder dunkle und unerklärliche Begegnungen, die ihnen widerfahren, von Hunden und Pferden wahrgenommen werden. Der Hund bellte und heulte und schrie und klagte mit einer fast menschlichen Stimme. Mit ganz tiefen Tönen fing er an, ging langsam, aber immer auf eine völlig unerwartete Weise in die Höhe, um da eine Minute oder länger schaurig zu verharren und dann zerbröckelnd, zerfaulend, vor Angst verwesend, in die Tiefe zu gleiten. Céline wurde blass, als sie es hörte und griff nach der Hand ihrer Mutter. Aber die hatte schon den Hund erspäht und ging auf ihn zu. Er schien fortlaufen zu wollen. Aber ein halblautes Wort von ihr bannte ihn auf die Stelle. Er legte sich zu ihren Füssen und streckte alle Viere aus. Er leckte ihre Schuhe und wedelte wie versuchsweise mit dem Schwanz. Sie beugte sich zu ihm nieder, berührte seinen Kopf, liess sich die Hände von ihm lecken, und sagte; »Na, na, du Alter. Es ist ja gut, es ist ja gut.« Da sprang das Tier auf, bellte laut, als wenn er Ja sagen wolle, und wartete, wohin die Frau gehe. 106 Sie wandte sich aber zur Küche des Hofes, die ihr von vor langer Zeit bekannt war, und der Hund folgte ihr ganz ruhig. Man hatte sie erwartet, denn es standen allerhand Labungen auf dem Tisch: Brot, Fleisch, Butter, Apfelwein und Mirabellenschnaps. Die Bäuerin war anders gekleidet, als sie an einem gewöhnlichen Werktag gewesen wäre, und sie sagte mit aufgeregter Stimme und mit flackernden Augen:

»Dass Ihr wirklich da seid! War er nicht schrecklich, der Weg? Ich hab so Angst gehabt für Euch. Jede Minute hörte ich es krachen und sah Euer Blut und Euren zerfetzten Leib. Und Ihr habt auch noch das Mädchen mitgebracht.« – Sie hätte ihre Angst und ihre Erregung in endlosen Reden sich verströmen lassen, aber Céline unterbrach sie:

»Ja, das Mädchen ist auch mitgekommen, und es ist uns beiden nichts geschehen, als dass wir tüchtig Hunger bekommen haben.« Dann begrüssten sie beide die immer noch bebende Frau mit dem lothringischen Gevattern- und Basenkuss auf beide Wangen und setzten sich an den Tisch. Dabei legte die Frau aus Tromborn ab und zu ganz leise die Hand auf Arm oder Schulter der Bäuerin und streichelte sie ein wenig. Es ging eine solche Kraft der Ruhe von ihr aus, dass das ganze Zimmer davon verwandelt wurde. Man hätte schwören mögen, dass auch noch der Pendel der alten Standuhr langsamer und gemächlicher ging als immer schon. Das Haus war mit den Schrecken langer Jahre angefüllt. Mit Gerüchten, Klatschereien, mit hetzerischen Radiomeldungen, mit dem Dröhnen der Flugzeuge, mit dem Krachen der Granaten, mit dem bösen, malmenden Geräusch der 107 anfahrenden Tanks, mit dem Geschrei aus dem Wald herausstürmender Infanteristen, mit dem Stöhnen der Soldaten, die um es herum litten und starben. Ja, wahrhaftig, mit tausend Schrecken war das Haus angefüllt und tausend Ängsten und wahnsinnigen Ahnungen. Jeder Stein war davon getränkt und jede Diele des Fussbodens und die Balken der alten Decke. Und jetzt war diese Frau aus Tromborn eingetreten und verbreitete Ruhe um sich. Nervenleidende, krankhaft Erregte bekommen eine Spritze und sinken dann in sich zusammen, die Ohnmacht der Erregung mit der Ohnmacht der Erschlaffung ablösend. Dies hier war ganz anders.

Die Frau verwandelte das Haus ganz langsam mit ihrem innersten Wesen, mit der Kraft ihres Herzens, mit ihrer eigenen Geduld und ihrer eigenen Ruhe. Sie half ihm leise und mächtig zu sich selber zu finden, zu seinem alten, guten, gestillten Bild.

Sie ass ein paar Bissen und trank ein paar Schlücke und dann sagte sie: »Wenn man Angst hat, muss man die Angst wegwerfen wie eine Raupe, die einem über den Hals kriecht.«

Die Bäuerin antwortete:

»Und wenn man nicht Angst hat, wenn die Angst einen hat?«

Die Frau erwiderte:

»Wenn die Angst Euch hat, dann will ich Euch der Angst entreissen. Die Furcht ist ein strenger Engel Gottes. Aber die Angst ist ein Drachen des Abgrunds. Den und jenen darf ich seinen Fängen entreissen, das will Gott sicher!«

Der Mann kam herein und nickte ihr zu. Es 108 war ein Blick des Einverständnisses, des Vertrauens und des Versprechens zwischen ihnen. Aber er ging gleich wieder. Da stand die Frau auf und sagte zu der Bäuerin: »Jetzt wollen wir einmal sehen, wie die Wintersaat steht. Céline bleibt bei den Kindern und wir zwei gehen.« In den Augen der Bäuerin sprang ein jähes Entsetzen auf. Aber die Frau lächelte nur, nahm sie beim Arm und ging mit ihr hinaus. Sie blieb eine Stunde oder länger, und als sie heimkamen, war die kranke Frau gesund. Sie erzählte: »Wir haben wirklich zwei Minen gesehen. Man kann sie sehen, wenn man aufpasst. Ein Fuchs ist über sie hergelaufen, und es ist ihm nichts geschehen. Es sind auch nur noch ein paar wüste Stellen mit Unkraut, mit Disteln und Rainfarn, wo sie liegen. Die Felder sind rein und die Wege zwischen ihnen hütet der Herrgott und die heilige Oranna.«

Das war alles, was sie sagte. Aber man sah, dass sie völlig verwandelt war. Das fiebrige Wesen war von ihr gewichen. Sie war ruhig und heiter, und als ihr Mann sagte, er müsse die beiden Frauen auf den Weg nach Tromborn bringen, da sagte sie nur:

»Ja, bring sie ruhig bis ans Dorf.« Sie wollte ihnen dieses und jenes von den guten Dingen mitgeben, die der Hof hervorbrachte, einen Butterwecken, einen ordentlichen Fetzen Schinken, ein grosses, duftendes Brot, wie sie es selber buk, einen Topf Honig, einen Korb voll jener gelben, duftenden Früchte, die im Garten des Hofes im Übermass gediehen und nach denen er genannt war.

Aber die Frau schüttelte lächelnd den Kopf:

»Nein, nein. Es ist schon gut. Wenn ich einmal 109 einen Knochen einrenken muss, will ich nachher schon ein Schinkenbein annehmen. Und wenn ich einen vom Abnehmen befreie, einen Wecken Butter. Aber was soll man dafür nehmen, dass man einen von der Angst befreit? Lacht mir nach, wenn ich gehe, und betet, dass der Herrgott mir die Kraft lässt, die er mir gegeben hat. Das ist alles!«

Damit ging sie, aber Céline trennte sich schwer von den Kindern, mit denen sie sich angefreundet hatte.

»Ich möchte hierbleiben, Mutter«, sagte sie, »bei den Kindern, und auf dem stillen Hof, und in der Nähe der heiligen Oranna. Ich weiss nicht, die Welt ist mir so wirr geworden.«

Ihre Mutter blickte sie an. In ihren Augen war immer noch die grosse wunderbare Ruhe, mit der sie die Unruhe der Welt besiegte, das heisst: die Unruhe dieses und jenes Menschen, die Unruhe da und dort im Land, aber es lief doch wie ein leises Wetterleuchten des Schreckens hindurch.

Sie sagte: »Céline, mein Kind, es liegt noch etwas von der Angst in der Luft, die vorher hier ganz daheim war. Die hat dich angeweht. Das ist alles.«

Aber das Mädchen antwortete:

»Nein, nein, Mutter. Das ist etwas anderes. Und jetzt wollen wir gehen.«

Sie gingen, und der Bauer begleitete sie. Es war schon dämmrig und grosse drohende Wolken machten die Stunde noch dunkler. Die Trombornerin sagte, der Bauer solle seine Frau alle paar Tage für eine Stunde mit aufs Feld nehmen, auch auf die schmalen Wege, auch durchs Unkraut einmal, und wenn sie wieder die Angst 110 überkommen wolle, dann solle er herzhaft lachen. Als sie an der Herde und an dem Schäferkarren waren, zwang die Frau den Bauer zur Umkehr. Er sagte: »Aber es ist doch schon dunkel und Ihr habt noch ein gutes Stück durch den Wald.«

Sie lachte und fragte:

»Glaubt Ihr nicht, dass wir mit grösseren Finsternissen fertig werden, als mit denen? Geht nur!« »Ah, da ist ja auch der Schäfer«, fuhr sie fort, »man soll den Leuten gute Nacht sagen. Es kostet nichts und es ist doch nicht nur etwas gesagt. Es ist etwas getan und gegeben!«


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