Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Gegen Mittag rauschte ein kalter Regen nieder. Die Schafe drängten sich zusammen, und der Schäfer sass in seinem Karren, rauchte die Pfeife und blätterte in den alten Kalendern. Er las, wie 180 die alten lothringischen Bauern vor 1870 ihren Tabak schmuggelten. Da kam einer zu einem Verwandtenbesuch an die Saar und brachte seinen Hund mit. Dem band er ein Pfund Tabak oder auch ein paar unter den Bauch und liess ihn bei dem Vetter eingesperrt, bis er selber wieder über die Grenze wäre. Dann wurde das ungeduldige Tier freigelassen und sprang mit mächtigen Sätzen seinem Herrn nach. So kam der wohlfeile Tabak bellend und jaulend über die Grenze, und die Zöllner merkten lange nichts von dem Spiel, das da mit ihnen getrieben wurde. Es war sicher nicht richtig, Schmuggel zu treiben. Aber Schmuggel war eine von den kleinen, massvollen Unrichtigkeiten des Lebens, bei denen man lachen und froh sein konnte. Er las die Geschichte von dem algerischen Schützen, der aus Afrika in Urlaub kam, zur silbernen Hochzeit der Eltern. Er brachte einen kleinen Affen mit, und dieser Affe biss dem zweijährigen Mägdlein der Schwester einen Finger ab. Der Schwager stürzte mit dem Beil nicht auf den Affen, sondern auf den Affenbesitzer los und verwundete ihn. Der fuhr noch vor Ende seines Urlaubs nach Afrika zurück und der Curé gab dem ganzen Geschehnis in seiner nächsten Predigt eine tiefsinnige Auslegung. »Der Affe«, sagte er, »den da einer aus dem fernen, heissen Afrika bringt, nicht aus Bosheit, sondern aus Leichtsinn, ist das Fremde überhaupt, das nicht zu uns gehört, das Fremde, Unbändige, Wilde, das dennoch in unsere Dörfer und in unsere Stuben hineingebracht wird, das uns heute den Finger abbeisst und morgen die ganze Hand und Arm und Bein. Heute ist der Affe einer von den dummen Hüten, die ihr von Metz 181 und Thionville oder gar von Nancy bringt. Glaubt nur nicht, dass ein Hut nicht beissen könne, die ihr da unten lacht! Und morgen ist der Affe eine von den Zeitungen, die ihr gleichfalls aus Metz bekommt, und die mit dem Beissen gleich bei euren dummen Schädeln anfangen, und übermorgen sind es noch ganz andere Dinge, die ich nicht einmal nennen will. Hütet euch vor dem Affen!«
Der gute Curé, vor was für Tieren würde er jetzt zu warnen haben, vor was für Schlangen und Tigern und Wildebern! Aber immerhin, wie traurig auch die Geschichte von der gestörten Silberhochzeit und von dem abgebissenen Finger des kleinen Mädchens sein mochte, man konnte doch noch ganz still vor sich hinlachen dazu. Es war noch etwas von unzerstörbarer Vergnügtheit hineingemischt, von jenem starken und gesunden Gewürz der Heiterkeit, mit dem die Menschen der alten Zeit offensichtlich auch ihren Kummer ein wenig würzten, ja selbst ihr Sterben und das Sterben der anderen. Sie hatten ja auch ihre Frömmigkeit damit gewürzt. Was für muntere, ja schon beinahe tolle Schnitzereien gab es doch in dem Chorgestühl der alten Eifler Klosterkirche, die er lang vor dem Krieg einmal gesehen hatte. Die Mönche, die darin die grossen, heiligen Worte der Psalmen gebetet hatten, waren mitten darin ab und zu gewiss ins Grinsen gekommen, wenn sie da im Holz den Fuchs in der Mönchskutte sahen, wie er scheinheilig die Augen verdrehte, und während er mit der einen Hand das Vesperbuch hielt, mit der anderen vorsichtig aber unerbittlich nach einer Gans griff, die verzückt zu ihm aufblickte. Oh ja! Sie konnten lachen in der alten Zeit, und in der neuen 182 konnten sie kaum mehr weinen. Warum nur? Vielleicht, weil sie auch nicht beten konnten, wie manche sagten?
Aber musste nicht der, zu dem man betete, auch helfen, dass man es konnte? Und wenn er nicht half, wer konnte dann helfen?
In der Nacht schlief er tief, und wer pochte, musste mächtig pochen, um ihn zu wecken. Er tat es, der da kam. Oder: sie tat es. Es war eine Frau in den dreissiger Jahren, die vor dem schlaftrunkenen Schäfer stand und einen erschrockenen Schrei ausstiess, als sie ihn sah.
»Mein Gott!« sagte sie, »was bin ich doch erschrocken. Seit wann ist denn ein neuer Schäfer da, und kein Mensch weiss es!«
Es war eine kleine Frau, nicht hässlich und nicht hübsch, sehr müde, wie es schien, und mit grauen Haaren schon an den etwas eingefallenen Schläfen.
»Schäfer ist doch Schäfer!« sagt er. »Kann ich Euch helfen? Dann will ich es tun. Ob ich nun Remigius heisse oder so wie der andere, das kann doch nicht viel ausmachen.«
Sie blickte ihn an, bestürzt, angstvoll, unsicher. Dann sagte sie: »Das ist richtig, was ein Schäfer kann, muss auch der andere können. Es ist wegen meinem Mann. Er lässt mich sitzen und läuft einer anderen nach. Einem jungen Ding. Die hat noch keine Kinder gehabt und hat noch nicht geschuftet im Haus und im Kartoffelstück und im Wald und in der Wiese, weil der Mann nicht da war, sondern in Russland und in allen Teufelsländern. Die ist noch glatt und rosig und alles. Und dann vergessen sie einen und vergessen die Kinder und das Haus 183 und den Herrgott. Und der andere, der andere Schäfer, mein ich, der hat Kräuter gehabt und Tränke und Salben. Damit hat man sie wieder einfangen können, die Schmetterlinge, die Nachtfalter. Habt Ihr nichts so? Es kommt auf einen Schinken nicht an oder auf einen Liter Mirabelle. Und ich habe noch eine Schwester, die ist grad zwanzig Jahre alt. Mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen, und einem Figürchen wie aus dem Buch. Ich will sie nicht verkuppeln. Das braucht sie nicht. Aber ich mein nur. Sie ist noch frei. Und Ihr seid ein Mann, der sich sehen lassen kann. Und warum soll man da nicht helfen?«
Remigius sah diese verbrauchte, kümmerliche Frau, die ihren Mann zurückhaben wollte, irgend einen Mann, an dem wahrscheinlich nicht viel war, einen Krangler oder Latscher, einen Schnarcher, und weiss Gott, was noch alles, und die dafür Scham und Ehre und die junge Schwester opfern wollte.
Er sagte:
»Was wollt Ihr denn? Ihr habt doch genau den Mann, der zu Euch passt. Ihn treibt es zu jüngerem Leben, das ihn mehr lockt und ihm mehr schmeckt, und Ihr wollt mit aller Gewalt den Mann behalten, jawohl, den Mann, den Mann, gar nicht so sehr den Vater Eurer Kinder. Dafür wollt Ihr alles bezahlen. Auch das Leben der jüngeren Schwester und was weiss ich noch alles. Ich habe nicht sehr viel Erfahrungen. Aber nachdem was ich gesehen habe, glaube ich: Männer können lasterhafter sein als Frauen. Aber Frauen sind fast immer viel, viel schamloser als Männer. Und das ist gefährlicher und böser.« 184
Die Frau blickte ihn an wie ein Rätseltier, das aus einem Käfig oder einem undurchdringlichen Wald entronnen war und das sich nun benahm, wie man es noch von keinem Tier der Gotteserde gesehen hatte.
»Ihr seid fremd hier«, sagte sie, »Ihr versteht die Frauen nicht, vielleicht auch nicht die Männer. Aber wenn Ihr etwas habt für den meinen, ein Kraut, einen Trank, eine Salbe, so gebt es mir. Ihr sollt schon zufrieden werden. Gegen Schinken und Schnaps hat sicher niemand was zu sagen. Und – und – wenn Ihr das Mädchen nicht wollt, dann kann man vielleicht, dann wird man – –« Sie stammelte einiges vor sich hin, wurde doch jetzt ein wenig rot und hatte Mühe, weiter zu reden. Aber Remigius verstand auch ohne Worte. Er hatte einmal gehört, dass ein Schäfer, der landauf, landab bekannt gewesen war, wegen seiner Heilkräuter, die er an Menschen und Tieren bewährte, sein Lebtag von Knaben und jungen Burschen umgeben gewesen war und dass man ohne Beschönigung darüber redete.
Verdammt noch mal: Frauen konnten wirklich alle Scham unter die Füsse treten, wenn sie irgend etwas für sich retten oder ergattern wollten, und es gab kein Alter und keine Kümmerlichkeit, die dem eine Grenze setzte.
Er betrachtete das Kummerweiblein. Es trug eine Wachstuchledertasche in der Hand, die verbraucht war, wie es selber. Die blonden, reichen Haare hingen wirr um den Kopf. Die Augen blickten zugleich hilflos und gierig in die Welt. Die Unterlippe hing herunter wie bei einem verträumten und faulen Kind. Die eine Hand, die das Tuch 185 vor der Brust zusammenhielt, zeigte schmale, aber wenig saubere Finger mit schwarzen Nägeln. Remigius pfiff vor sich hin und dann sagte er:
»Na gut. Ich will Euch helfen. Wenn es auch nicht leicht ist. Also passt auf. Ihr müsst Euch, wenn der Mann bei der Arbeit ist, baden. Die erste Woche jeden Tag. Und dann jede Woche zweimal. Und Ihr müsst Euch die Nägel schneiden, jeden zweiten Tag und sie rückwärts über die Schulter ins Feuer werfen. Und Ihr müsst Euch kämmen, jeden Tag zweimal und es mit den Haaren machen wie mit den Nägeln. Und einen Trank will ich Euch geben. Von dem muss Euer Mann bekommen, wenn er missmutig und verdriesslich ist. Am Morgen nur, wenn es unbedingt sein muss, sonst nach dem Essen.« Damit holte er den Rest Schnaps, den er noch hatte, hervor, ging in die Nacht hinaus, brach ein paar Aestlein vom dürren Beifuss und vom verwelkten Rainfarm, brockte einiges davon in die wässerige Flüssigkeit und gabs dann der wartenden Frau.
»Abseien, wenn Ihr daheim seid«, sagte er, »und das Glas, in dem Ihrs gebt, immer frisch spülen. Es wirkt nicht, wenns nicht kristallklar ist.« Sie hörte zu und hatte eifrige, hingebungsvolle Augen. Immer wieder nickte sie, und Remigius dachte bei sich, der lockere Mann müsse von jetzt an wenigstens ein sauberes, adrettes Weiblein haben, und vielleicht würde das wirklich schon ein wenig nützen. Als sie aus der alten, schwarzen Tasche eine Literflasche mit Branntwein herauszog, wehrte er sich nicht dagegen. Wurst wider Wurst, Schnaps wider Schnaps.
Dann aber sagte er ihr, die schon am Gehen war: 186
»Und jetzt würd ich, wenn ich Ihr wäre, doch grad einmal zur heiligen Oranna hineinschauen. Ich glaub, die hat schon mehr so Sachen zu hören bekommen, und manchmal hat sie sicher auch schon geholfen.«
»O du lieber Gott, jetzt in die dunkle Kirche«, verschreckte sich die Frau, »da müsste ich ja sterben vor Angst.« »Ich geh schon mit«, sagte Remigius. Er ging mit. Als die Frau im Gehen ein wenig zu dicht an ihn heranrückte, blieb er ruhig einen Schritt zurück. Er öffnete ihr die Türe, zündete eine Kerze vor dem Bild der Heiligen an und wartete dann, bis die Besucherin, die an sich mehr Vertrauen zu den Hexen als zu den Heiligen hatte, mit ihrem Gebet fertig war.
Wie es schien, hätte sie ganz gerne gehabt, dass er noch ein Stück mit ihr durch die Nacht ging. Aber als er sie auf die Strasse gebracht hatte, sagte er: »So, jetzt müsst Ihr allein weitergehen. Es geschieht Euch nichts. Ich darf auch nicht wissen, woher Ihr kommt und vor allem, was ich Euch gegeben habe würde nicht helfen, wenn Ihr's nicht allein durch die Nacht heimbrächtet.«
Das Weiblein seufzte ein wenig und dann lief es tapfer in die Nacht hinaus. Als sie zwei Dutzend Schritte gemacht hatte, rief sie mit halblauter Stimme zurück:
»Nach dem Essen, sagt Ihr?«
Remigius unterdrückte mit Mühe das Lachen und rief zurück:
»Nach dem Essen, ja, nie vorher, und immer aus einem ganz frischen Glas. Wie gesagt, wie gesagt!« Dann redete er zu der Heiligen, von 187 draussen. Er wollte nicht noch einmal die nächtliche Ruhe ihres Heiligtumes stören:
»Heilige Oranna. Bin ich eigentlich ganz schlimm mit deiner kleinen, dummen Schwester umgegangen? Fast mein ich nicht. Fast mein ich, ich hätt ihr wirklich ein bisschen geholfen. Soll sie doch ein bisschen an sich selber glauben, ein bisschen sauberer, ein bisschen appetitlicher werden, dann wird sich sicher vieles ändern. Und mächtiger helfen, das kannst du. Das kann der Herrgott. Sag es ihm doch. Vielleicht hat die Urahne von der dir einmal einen Topf Rahm gegeben. Ach, natürlich hat irgend eine Urahne von ihr dir den Rahm oder die Butter oder ein Stück Speck gegeben, und du musst wirklich etwas tun.«
Dann legte er sich noch einmal zur Ruhe, und es gab keine Störungen mehr. Er dachte nach über die Wirrnis der Welt, darüber, wie krank und armselig alles war, wie voll von Begierden und Süchten, wie fern von der erhaltenden und segnenden Ordnung. Er dachte an die Frau, die der Erhaltung der ehelichen Liebe, ach, vielleicht schon der Erhaltung der ehelichen Gewohnheit die junge Schwester opfern wollte. An den Widder- und Wolfsmenschen, der hungrig war wie ein Wolf und verderbt wie ein Schakal, an die Frau unten aus dem Tal, die ihn zu jedem Preis sozusagen einhandeln wollte, und an dieses ganze, trübe Theater aus Hunger, Gier, Neid und allen schwarzen und roten Trieben.
»Mein Gott«, sagte er vor sich hin, »hast du denn deine Welt und deine Menschen nur erschaffen, damit so ein stinkender Brei aus allem wird?« Aber wie er's sagte, vor sich hin und in die Nacht hinein, 188 war es ihm, als wenn er ganz leicht am Ohr gezupft werde, und plötzlich stand das Bild Célinens vor seiner Seele. Gott hatte ja auch sie geschaffen, und sie würde in keinen stinkenden Brei der Welt hineingeraten.